Mit der Tunnelräumung, der die letzten Aktivisten mehr oder weniger freiwillig zugestimmt haben, endete am 16. Januar 2023 die Geschichte des widerständigen Dorfes Lützi (Lützerath). Der Widerstand geht weiter. Auch nach dem offiziellen Ende des Räumungseinsatzes der Polizei haben AktivistInnen mit direkten gewaltfreien Aktionen gegen den Abbau von Braunkohle demonstriert. GWR-Autorin Antonia Greco war in den letzten Wochen in Lützi und fasst ihre Erlebnisse mit der folgenden Chronik zusammen. (GWR-Red.)
Der Traum ist aus?! Innerhalb von wenigen Wochen verwandelt sich das AktivistInnen-Dorf Lützerath Stück für Stück in eine Festung. Immer mehr Barrikaden, Tripods, Monopods werden gebaut und in einer der großen Hallen ist eine beeindruckende Hängeplattform entstanden, die viel Platz bietet. Die Räumung soll solange wie möglich hinausgezögert, ja bestenfalls verhindert werden. Seit Dezember 2022 bereiten sich die Menschen auf einen Räumungsversuch vor. Die Mobilisierung läuft auf Hochtouren und immer mehr Menschen reisen an. Essensvorräte, Wasser, Brennholz etc. wird zusammengetragen und unter den Barrios aufgeteilt. Die Küche für Alle (Küfa) muss, sobald die Räumung beginnt, ihre Versorgung einstellen und ab dann ist jedes Barrio auf sich alleine gestellt. Eviction-Food ist wichtig! Ohne Mampf kein Kampf!
Doch warum das alles?
Der Weiler Lützerath und die meisten anliegenden Flächen gehören dem Konzern RWE Power AG, Betreiber des Tagebaus Garzweiler 2 und Europas größter Klimakiller. Am 20.12.2022 erlässt der Landrat des Kreises Heinsberg, Stefan Pusch, eine Allgemeinverfügung. Ab dem 10.1.2023 gilt für Lützerath ein Aufenthaltsverbot. Die RWE Power AG will das zu Erkelenz gehörende Lützerath räumen und abreißen, um die darunter liegende Kohle abzubauen. Stephan Muckel, Bürgermeister von Erkelenz, hatte sich geweigert, die Räumung zu verfügen und die Polizei Aachen um Vollzugshilfe zu bitten. „Erkelenz verliert wertvolle Flächen des Stadtgebietes“, so Muckel bei einer Informationsveranstaltung, darüber hinaus ist er um den sozialen Frieden in den Gemeinden besorgt.
2.1.2023 Im Morgengrauen rollt das Zerstörungskommando an. Mannschaftsbus an Mannschaftsbus, LKWs, Bagger, Security, He-bebühnen, RWE … Die Polizei betont, dass sie im Tagebauvorfeld von Lützerath Infrastruktur aufbauen möchte und nicht in das Dorf reingehen wird. Die Räumung von Lützerath, so sichert Aachens Polizeipräsident (PP) Dirk Weinspach zu, wird nicht vor dem 10.1. beginnen. Fast gebetsmühlenartig wiederholt Weinspach, „man werde mit maximaler Transparenz, Kommunikation und deeskalierend vorgehen“. Die Menschen sind fest entschlossen, Lützerath zu verteidigen, damit die rund 280 Millionen Tonnen Braunkohle im Boden bleiben. Das martialische Auftreten der Polizei wird teilweise als Provokation empfunden. Die überwältigende Mehrheit der Demonstrierenden und Aktivist*innen lässt sich aber nicht provozieren und agiert die ganzen Tage über gewaltfrei. Die ersten Aufeinandertreffen zwischen AktivistInnen und Polizei enden damit, dass sich die Hundertschaften früher oder später dann doch zurückziehen. RWE hat inzwischen alle Zufahrtsstraßen weiträumig abgesperrt.
In Anbetracht des Tempos, in dem Polizei und RWE planieren und Infrastruktur aufbauen, wird „TAG X“ ausgerufen. Die Mobilisierung läuft! Alle nach Lützerath! Darüber hinaus blicken die AktivistInnen zuversichtlich auf den Dorfspaziergang am Sonntag, zu dem die WaldpädagogInnen Eva Töller und Michael Zobel eingeladen haben. Auch Luisa Neubauer von Fridays For Future sowie die Kölner Band AnnenMayKantereit sind angekündigt. Der Einladung folgen ca. 4000 Menschen aller Generationen. Wüsste man nicht, dass sich Lützerath in der Vorstufe einer Räumung mit Polizeipräsenz befindet, könnte der Eindruck entstehen, es wäre alles wie immer. BesucherInnen unterhalten sich mit AktivistInnen, an der Mahnwache wird, wie in den letzten zwei Jahren, Kaffee ausgeschenkt. Come together!
AnnenMeyKantereit hat sogar eine Ode an die AktivistInnen mitgebracht:
„Die Kohle unter diesem Dorf wird nicht gebraucht und
unabhängingen Gutachten wird nicht geglaubt.
Und wäre die Regierung klug genug, um es einzusehen,
müssten die Aktivisti keine Räumung überstehen…“
Im Laufe des Tages entstehen vor den Augen der Polizei weitere Barrikaden, zum Teil packen sogar BesucherInnen mit an. Im Tagebauvorfeld holt sich eine AktivistInnengruppe das bereits planierte Gelände zurück. Weitere Hindernisse entstehen. In der Dunkelheit kommt es zwischen einer größeren Menschengruppe und der Polizei zu Auseinandersetzungen. Es sollen Pyrotechnik und Matschklumpen geflogen sein, an anderer Stelle wird ein Fahrzeug der KontaktpolizistInnen beschädigt. Später in der Nacht entspannt sich die Lage.
„Ja, ich bin wütend und enttäuscht! Und darum bin ich hier in Lützerath!“
10.1.2023 Nun gilt: Wer drin ist, ist drin. Die Polizei lässt keine Menschen mehr in Lützerath rein. Am Abend findet in Erkelenz eine gut besuchte Informationsveranstaltung zur Räumung statt. Im Anschluss möchten sich Hinz und Weinspach von der Polizei Aachen, Landrat Pusch und der Erkelenzer Bürgermeister Muckel den Fragen der Anwesenden stellen. Fast alle, die sich in die Schlange stellen, um ans Mikro zu dürfen, versuchen doch noch das entscheidende Argument vorzubringen, das eine Räumung noch in letzter Sekunde abwenden könnte. Die Hauptfrage dabei ist: Wird die Kohle unter Lützerath überhaupt noch gebraucht?
Die Regierung argumentiert mit Versorgungssicherheit bei einer Gasmangellage, basierend auf mehreren Gutachten. Luisa Neubauer hält in einer Rede bereits 2022 dagegen: „Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE?“ Tatsächlich sind die Gutachten in sehr kurzer Zeit und mit Einfluss von RWE entstanden. Unabhängige Gutachten, wie z.B. von Aurora Energy Research, besagen genau das Gegenteil. Die Braunkohle, die in den Tagebauen Hambach und Garzweiler 2 noch gefördert wird, reicht völlig. Geht es vielleicht nur um die kostengünstigste Abbauroute für RWE ? Oder soll der wertvolle Lößboden nur lediglich vernichtet werden, um an anderer Stelle den Tagebau aufzufüllen? Abgesehen davon, wäre die Kohle unter Lützerath frühestens in drei Jahren nutzungsfertig.
Worüber wurde bei dem Deal zwischen RWE und Landesregierung verhandelt?
Der Verdacht steht im Raum, dass der Abriss Lützeraths eine Gefälligkeitsentscheidung ist. Vielleicht, weil die Regierung auf RWE angewiesen ist? So fliegt der grüne Bundeswirtschafts- und -klimaminister Habeck mit RWE-Chef Krebber nach Katar, um Flüssigerdgas zu kaufen. Der Folterstaat Katar ist der größte Einzelaktionär der RWE Power AG. Von Mauscheleien ist die Rede, und von einem Hinterzimmer-Deal.
„Ja, ich bin wütend und enttäuscht! Und darum bin ich hier in Lützerath!“
„Es kann doch nicht sein, dass wir hier sein müssen, um die Bundesregierung aufzufordern ihre eigenen Verträge einzuhalten!“,
sagen Stimmen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung. Damit ist das Pariser Klimaabkommen gemeint, das besagt, den weltweiten Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad zu beschränken. Mit der Verstromung der 280 Millionen Tonnen Braunkohle, die unter Lützerath liegen, würde Deutschland aber die Klimaziele deutlich verfehlen.
Lützerath ist inzwischen in allen Medien und immer wieder werden die AktivistInnen als arbeitsunwillige, krawallbereite Linksradikale tituliert, die wegen ihrer Räumung aus den paar alten Häusern den SteuerzahlerInnen so viel kosten. In den sozialen Netzwerken versuchen die HasskommentatorInnen sich gegenseitig zu überbieten. Selten habe ich zu einem Thema solch menschenverachtende Äußerungen und Aufrufe zur Gewalt gelesen, wie gegen die AktivistInnen. „Wir sind hier auch für eure Kinder!“, und aus einer anderen Ecke rufen einige den Polizeikräften entgegen, die inzwischen rund um die Uhr präsent sind: „Eure Kinder sind schon längst hier!“
11.1.2023 GROSSALARM!
Der Tag beginnt mit einem Überfallkommando! Kurz nach acht ist Lützerath komplett von Hundertschaften umstellt. Menschen, die Dorfzugänge blockieren, werden geräumt. Manche gehen freiwillig. Am Ortseingang haben sich christliche Menschen von „Kirchen im Dorf lassen“ (KiDl) schützend und singend in der Eibenkapelle versammelt. Auch sie werden geräumt. Zeitgleich hat RWE begonnen, Lützerath einzusperren in Form zweier parallel verlaufenden Bauzaunreihen, die am Ende 1,5 km sein werden. Die Polizei rückt zügig vor. Sie räumt Tripods und Sitzblockaden, pflückt Menschen aus den Bäumen. Fast schon hastig werden Barrikaden in Form einbetonierter Stahlträger von einer Spezialeinheit aus der Straße gestemmt, parallel wird auch an den anderen Dorfausgängen angesetzt. Vereinzelt fliegen Steine, aber „der überwiegende Teil leistet friedlichen, passiven Widerstand“, betont Polizeipräsident Weinspach. Er meint die gut 1100 AktivistInnen, die sich entschlossen haben, sich in Lützerath der Räumung in den Weg zu stellen.
Überall ertönen Motorenlärm, Stemmgeräusche, Kettensägen, dazwischen die Dorf-Sirene. In Abständen wird immer wieder aus den Baumhäusern skandiert: „Lützi bleibt!“, „Klimaschutz ist kein Verbrechen“ und, während AktivistInnen geräumt werden, ein solidarisches „Du bist nicht allein“.
Allein ist hier wirklich kein Mensch! Denn es ist nicht nur der Kampf für eine klimagerechte Zukunft und für ein gutes Leben für alle Menschen auf der Welt, der verbindet. Es ist auch der Wunsch nach einem hierarchiefreien Miteinander, nach einem Leben, in dem Mensch so sein darf wie er ist. Der Wunsch nach einer achtsamen Gemeinschaft, frei von jeglicher Diskriminierung und Ausbeutung. „Wenn das in einer Gemeinschaft klappt, kann es doch auch in einem Dorf, einer Stadt, einem Land und auf der ganzen Welt klappen.“
Nur knapp einen halben Tag später geht es den Hallen an den Kragen. Als erstes der Küfa (Küche für alle), als würde die Polizei Kriegsstrategie anwenden und zuerst die Infrastruktur und Hauptversorgung auslöschen. Es liegt eine leichte Anspannung in den Augen der Kräfte vor Ort, als das erste Tor aufgeflext wird. Kein Mensch weiß, was sich dahinter verbirgt. Doch auch hier leisten die AktivistInnen gewaltfreien Widerstand. Sie werden im Minutentakt herausgeführt oder -getragen. Mobile Flutlichtanlagen werden aufgebaut. Lützerath wird dauerhaft ausgeleuchtet. Die Zerstörung kennt keine Pause und keine Schlafenszeit.
In den nächsten Tagen sind alle Beteiligten Dauerregen, Wind und Sturmböen um die 75 km/h ausgesetzt. Unbeirrt wird im Eiltempo geräumt, gerodet und abgerissen. In den Bäumen schwanken AktivistInnen im Wind, trotzdem wird in näherer Umgebung gefällt und mit Hebebühnen vorgegangen. Seile werden gekappt, mit denen Tripods und Monopods gesichert sind. Glücklicherweise ist dadurch kein Mensch schwer verunglückt. Die Räumung soll schnellstens über die Bühne gehen, am besten noch vor der Großdemonstration am Samstag.
Nicht ganz überraschend wird einen Tag zuvor in einer Hausruine der Eingang zu einem Tunnelsystem entdeckt. Nicht schwer herauszufinden, denn Pinky und Brain haben über Kontaktpersonen eine Videobotschaft veröffentlicht. Es geht ihnen gut, sie haben alles und brauchen nicht gerettet zu werden. Die Polizei und das Technische Hilfswerk (THW) sind aufgrund der Konstruktion etwas ratlos. Speziell geschulte Einheiten sollen durch Dialoge zur Aufgabe überzeugen. Zur Überraschung aller stehen auf einmal Luisa Neubauer und Greta Thunberg unter den Baumhäusern, zeigen sich beeindruckt, sprechen Dank für das Durchhaltevermögen und die Entschlossenheit aus.
14.1.2023 Großdemonstration. Die Polizei rechnete anfangs mit 7000 TeilnehmerInnen. Gekommen sind ca. 35.000, die Polizei spricht abends von 15.000. Die Demo startet zunächst in Keyenberg mit kleinen und großen KlimaschützerInnen. Sie endet mit einer Kundgebung in der Nähe von Lützerath. Eine größere Menschenmenge spaltet sich ab und läuft Richtung Abbruchkante und Lützerath. Dabei werden sie zunächst weiträumig von der Polizei am Weitergehen gehindert. Es ist fraglich, ob diese polizeiliche Vorgehensweise durchweg rechtmäßig ist, da nicht alle Flurstücke hinter Lützerath im Besitz der RWE Power AG sind. Bengalos färben kurzweilig den tristen Himmel. Es regnet, es stürmt, es ist kalt. Hin und wieder leuchtet Feuerwerk auf. Die Polizei redet von Steinwürfen, es sind, wenn man sich umschaut, eher nasse Erdbrocken. Lützerath wird anlässlich der Demonstration zusätzlich mit Mannschaftsbussen, Stoßstange an Stoßstange geparkt, abgeschirmt, zusätzlich mit einer Polizeikette verstärkt. Im Hintergrund stehen mehrere Wasserwerfer bereit. Offensichtlich unüberwindbar und eine beeindruckende Machtdemonstration. Es stellt sich daher die Frage, warum Menschen hunderte Meter vor Lützerath im freien Feld von der Polizei mit Schlagstöcken und Pfefferspray bearbeitet werden. Die Schlammschlacht um Lützerath scheint langsam außer Kontrolle zu geraten.
In der Polizeistaffel scheuen mehrfach Pferde, eine Reiterin wird abgeworfen.
Polizeigruppen, die auf Kommando laut brüllend und mit gezücktem Tonfa (Mehrzweckeinsatzstock) in Menschengruppen laufen. Unweit davon stecken gleich mehrere PolizistInnen so tief im Matsch fest, dass sie ohne fremde Hilfe nicht rauskommen. Später wird die Polizei erklären, die Menschen mussten zu ihrer eigenen Sicherheit von der Abbruchkante ferngehalten und daran gehindert werden, in Lützerath einzudringen. Die Polizei rechtfertigt das Vorgehen mit Aufforderungen, das Gelände zu verlassen, sowie der mehrfach zuvor erfolgten Androhung des unmittelbaren Zwanges. Wieviele DemonstrantInnen bei den Wetterverhältnissen, der Geräuschkulisse und angesichts des weitläufigen Geländes die Ansagen überhaupt gehört haben, ist fraglich. Rechtfertigt das den wahllosen Einsatz von Schlagstöcken, Faustschläge gegen Köpfe und Tritte auf Personen, die am Boden liegen? Diese Polizeigewalt wurde gefilmt, dokumentiert und skandalisiert.
Um es mit den Worten von Greta Thunberg zu sagen:
„Was in Lützerath passiert, bleibt nicht in Lützerath!“
Nicht die Emissionen, nicht die Bilder. Sie gehen nun um die Welt. 2023. Mitten in der Klimakrise.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.