Eigentlich sollte die Revolution gemacht werden und nicht Lektorat, Vertrieb oder PR: Mehr zufällig als absichtsvoll sind Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires Anfang der 1970er Jahre in die Verlegerei eingestiegen. Zu ihrem Freiheitsbegriff gehörten damals die emanzipative Haltung des Nach-68er-Impulses und das Erkunden neuer Formen jenseits der „politischen Arbeit“, der „politischen Literatur“. Es ging um den Reichtum an Lust, Wissen, Autonomie.
Zehn Jahre nach Lutz Schulenburgs plötzlichem Tod am 1. Mai 2013 (1) und fünfzig Jahre nach dem Beginn des Verlagsprojekts blickt Hanna Mittelstädt (geb. 1951) zurück auf die Anfänge der Edition Nautilus und ruft in zahlreichen Dokumenten, Fotos und Fundstücken aus der Verlagskorrespondenz von Weggefährt:innen und Mitstreiter:innen die Anfangszeit wach. Sie erzählt die Geschichte des MaD-Verlags (Materialien, Analysen, Dokumente), der sich nach einer Klage des gleichnamigen Satireblatts in Edition Nautilus umbenannte, von Manuskriptbeschaffungen durch den Eisernen Vorhang und über Gefängnismauern hinweg, von zehrenden Streitigkeiten um Rechte und Geld, vom immer wieder kreisenden Pleitegeier, von persönlichen Zweifeln und schließlich vom märchenhaften Erfolg des Millionenbestsellers. Ein großer Haufen Bücher ist im Laufe dieses Abenteuers zusammengekommen, jedes Exemplar ist eine kleine Chance auf gesellschaftliche und individuelle Veränderung. Die Welt wäre besser, wenn sie alle gelesen worden wären.
Die Graswurzelrevolution veröffentlicht als Vorabdruck einen Auszug aus Hanna Mittelstädts Buch „Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens“, das im März 2023 in der Edition Nautilus in Hamburg erscheinen wird. (GWR-Red.)
Die Poesie ist die Tat, die neue Wirklichkeiten hervorbringt
Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst, 1967
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Wir waren also Anfang der siebziger Jahre nicht nur dabei, eine Zeitschrift zu publizieren und einen Verlag aufzubauen. Da war auch noch die Sache mit der Revolution, und die Organisation von Kontakten und Gruppierungen …
„Wir schweben hier in hamburg zwischen den beiden himmeln des aktivismus, einmal die bücher, ein andermal die personen und ihre umsturzvorbereitungen“, schrieb Lutz [Schulenburg] im November 1974 an Jörg Asseyer, der damals etliche politische Flugschriften für uns aus dem Englischen übersetzte, alle aus dem rätekommunistischen Spektrum.
Anarchistische Genossen in aller Welt wurden angeschrieben, es wurde über Austausch von Informationen, von Druckwerken, mögliche Zusammenarbeit etc. debattiert. Anarchisten waren in Deutschland eine marginale Gruppierung am Rand der Linken, der linke Diskurs wurde von anderen bestimmt. Es gab unter uns kaum „Intellektuelle“, keine Uni-Anbindung. Proletarische, subproletarische, subkulturelle und andere randständige Elemente waren wir, aber mit internationalen Verbindungen, denn anderswo in der Welt waren die Karten anders verteilt. In Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Lateinamerika, den USA gab es stärkere anarchistische Bewegungen, andere Traditionslinien, andere maßgebliche historische Erfahrungen: die spanische Revolution von 1936, nicht der Bürgerkrieg, sondern die soziale Revolution; die Machnowtschina in der Ukraine 1918 gegen die Hegemonie und die Säuberungen der Bolschewiki bei der Etablierung ihrer Macht; die freiheitlichen bäuerlich-proletarischen Bewegungen in Lateinamerika; die subkulturelle Protestbewegung und die indigenen Bewegungen in den USA und Kanada; die Rätebewegungen, der Anarchosyndikalismus als Gegenbewegung zu den institutionalisierten Parteien und Gewerkschaften … An diese historischen und zeitgenössischen Erfahrungen wollten wir anknüpfen.
Pierre hatte viele Adressen in seinem kleinen Notizbuch, nach weiteren suchten wir gemeinsam. Überall gab es Versprengte, die ähnlich wie wir nach etwas Neuem suchten. Wir korrespondierten per Brief oder besuchten uns. Jahrzehntelang hatten wir keinen Urlaub, sondern fuhren zu Genossen. Oder die Genossen kamen zu uns.
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das glück war da das risiko / der überfluss der traum
und seine wirklichkeiten schwarze bluten von neuem
Pierre Gallissaires, Die Straßen, die Mauern, die Commune, MaD Flugschrift Nr. 10, 1975
Pierre, Lutz und ich hatten uns im Versammlungslokal der Hamburger Anarchisten 1972 kennengelernt, ein schwarz gestrichener Kellerraum unterhalb eines griechischen Lokals in der Karolinenstraße Ecke Marktstraße. Die zumeist jungen Menschen, auch hier viele junge Männer, wenige junge Frauen, waren Verweigerer, Suchende … Es herrschte eine diffuse Stimmung zwischen Rausch und Verzweiflung, enthusiastischer politischer Diskussion, es gab Posen der Bewaffnung, Posen der Scheißegal-Haltung.
Auch hier wurde nach dem Glück gesucht, auch nach der Wahrheit, nach Solidarität und Freiheit. Ein indischer Anarchist kochte hin und wieder in seiner bescheidenen Sozialwohnung große Mengen Reis mit Gemüse für die Genossinnen und Genossen und erzählte von anarchistischen Traditionen in Indien. Leider ging der Kontakt zu ihm bald verloren, vielleicht war ihm die militante Radikalisierung der zumeist männlichen Genossen aus dem Anarchokeller zu fremd. Aber in seiner Küche traf ich erstmals Lutz. Er war mir wie ein Mythos angekündigt worden: Heute kommt ein echter Proletarier … Da saß er dann auf dem Kühlschrank, in schwarzer Kordhose und rotem Rollkragenpullover aus Wolle, dünn, lang, energiegeladen, gestenreich und provokativ diskutierend, die schwarzen glatten und kräftigen Haare schulterlang mit Pony neben dem Seitenscheitel (seine lebenslange Frisur), eine feine Goldrandbrille (die er ebenfalls so gut wie lebenslang beibehielt): So begann dieses starke Energiefeld zwischen uns beiden, eine spontane und heftige Anziehung, die viele Erschütterungen überstand.
Mit Pierre zusammen bildeten wir in diesem schon relativ kleinen anarchistischen Kreis eine besondere Zelle, die Theoretiker, könnte man sagen, diejenigen, die die Geschichte genauer kennenlernen wollten, bevor sie Aktionen starteten oder es lieber ließen.In den frühen Ausgaben der MaD-Zeitschrift finden sich unsere Untersuchungen zur Theorie und Praxis der anti-autoritären Bewegung und eine zweiteilige Kritik des Bolschewismus.
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Schon bald verlegten wir aber unseren Schwerpunkt aus den anarchistischen Kreisen, starteten etwa 1974 unser eigenes kollektives Experiment und nannten uns „Subrealisten“. Das Konzept der anarchistischen Zeitschrift MaD–Materialien, Analysen, Dokumente verwandelten wir 1976 in ein Diskussions- und Reflexionsblatt mit dem Titel Revolte, Organ der Subrealisten.
Ein später auch in der Subrealisten-Bewegung aktiver ganz junger Suchender war Jürgen Otte. Er beschreibt seine Situation in der Aktion 220 (2013): „Anfang der siebziger Jahre waren die Ausläufer der Wellen des weltweiten 1968 auch in der niedersächsischen Provinz angekommen.
In Schüler- und Lehrlingsgruppen, in Initiativen für autonome selbstorganisierte Jugendzentren, in denen wir uns bewegten, fanden sich einige Slogans der Rebellion wieder. An den Gymnasien gab es die ersten ‚linken Lehrer‘, im Philosophie- und Geschichtsunterricht wurden Auszüge der Frühschriften von Marx gelesen. Seine Thesen über die Entfremdung hinterließen tiefe Spuren im eigenen Denken. Ein Großvater war Antifaschist, Gewerkschafter und Kommunist gewesen. Er gab mir einiges mit auf den Weg, starb, als ich sechzehn war. Im selben Jahr die erste eigene Tramptour nach Holland, Amsterdam. […]
Hier in Amsterdam fanden sich selbst gedruckte Zeitschriften, Broschüren, Pamphlete, die ich so nicht kannte. Fast das Kleinste, was es dort überhaupt gab, fiel mir in die Hände. Zwei Faltblätter mit Parolen des Mai 68 und Thesen zur Selbstorganisation, wenn ich mich recht erinnere. Beides publiziert von Lutz, Hanna und Pierre. Zwei der allerersten Veröffentlichungen dieser drei.
Und wie das damals war: Die ganze Welt sollte wissen, hier, das sind wir, das sind unsere Publikationen, das ist unser Beitrag zur sozialen Revolution. Deshalb fanden sich diese winzigen Faltblätter auch in Amsterdam wieder. Nicht viel Text, aber der hatte es in sich. Der brachte zum Ausdruck, wofür die eigenen Worte noch nicht weit genug waren. Die Thesen zur Selbstorganisation fundierten unseren Kampf für ein Jugendhaus. Der Mai 68, die soziale Revolution sollte fortan auch der Bezugspunkt für das werden, was jugendliche Oberschüler in der Provinz erträumten.“
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Politisch engagiert?! Das waren die Jusos! Wir waren Revolutionäre!
Lutz im Interview mit Jan Bandel, 2007, s.o.
Als Lutz und ich 1974 nach drei anderen Stationen nach Hamburg-Bergedorf zogen und dort mehr als dreißig Jahre bis Weihnachten 2008 blieben („Dieses Gerede vom Metropolenleben muss man ja nicht mitmachen“, Lutz 1999), bildeten wir umgehend mit etlichen Genossen einen radikalen Aktions- und Diskussionskern
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Auf eine Art geschwisterlich saß ich 2017, also vierzig Jahre nach den bleiernen Jahren der RAF-Verfolgungen, neben drei Ex-RAFlern, Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts und Lutz Taufer.
Wir waren in größerer Runde in ein Lokal gegangen, das 1969 im damals noch ärmlichen und stark proletarisch-migrantisch geprägten Hamburger Schanzenviertel von griechischen Exilanten gegründet worden war, die vor den Verfolgungen der Militärdiktatur geflohen waren. Wir saßen da nach der Lesung Lutz Taufers aus seiner gerade erschienenen Autobiographie. In seinen Erinnerungen hatte er die Entstehung der RAF, die Häuserkämpfe, die Situation unangepasster Jugendlicher im Heim, die Militarisierung des Staatsapparates, die Einengung der politischen Spielräume, den ständigen Zwang, sich gegen oder für etwas zu positionieren (für oder gegen die RAF, die Gewalt, den Staat …) etc. heraufbeschworen. Diese Fixierung wurde auch von den Aktionen der RAF immer wieder erneuert, der Staat schlug zurück, verteidigte sein Gewaltmonopol brachial.
Lutz und ich hatten in den siebziger Jahren gemeinsam mit unseren nächsten Genossen die RAF kritisiert, ihre Erklärungen und Aktionen, ihren Anspruch auf „Befehlsgewalt“ und „bedingungslose Solidarität“. Für uns waren sie „Leninisten mit Knarre“, wie es in der Berliner linksradikal-anarchistischen Zeitschrift 883 hieß.
Die aus ihren Aktionen erwachsende Opferlogik, die Kehrseite des Heroismus, konnten wir mithilfe der situationistischen Begrifflichkeit kritisieren, ohne uns gemein zu machen mit der Gewalt der herrschenden Ordnung, die die Distanzierung von der Gewalt der Guerilla als Vorbedingung für jede Diskussion einforderte. Nachrichtensperren, Falschmeldungen, Lügen und Verdrehungen, alles wurde damals von den „Meinungsschaffenden“, den Einflüsterern und Verteidigern der bestehenden Machtverhältnisse benutzt und zog weite Kreise in die liberalen, linken, kulturellen Kreise. Die ursprüngliche recht breite Solidarität mit den Anliegen und Aktionen der RAF wurde medial torpediert, sie wurde aber auch durch die Aktionen der RAF selbst torpediert, die in einer für alle Beteiligten schädlichen Spirale der Gewaltsteigerung steckten. Die Klarheit der situationistischen Ausrichtung ermöglichte uns die Formulierung anderer Vorstellungen. Wir waren für einen Kampf, der in seiner Form schon die künftige Freiheit in sich trug, der vielfältige Lebensweisen außerhalb jeder Form der Verdinglichung ermöglichte, der Kritik und Analyse, Spiel und Lust nicht in die Zwänge der Illegalität und des Guerillakampfes presste.
Wie stark der „Krieg“ in die Köpfe und in den Alltag vorgedrungen war, war bei der Lesung Lutz Taufers noch einmal greifbar, unter den anwesenden Zeitgenossen, die wahrscheinlich so ziemlich alle damals in die Auseinandersetzungen involviert waren: als Knastbesucher*innen und Unterstützer*innen der Gefangenen, als politische Aktivisten. Die Haftbedingungen waren brutal, manchmal tödlich, voller Schikanen, alte Nazischergen waren ja noch am Ruder. Auch Freunde von Lutz und mir waren im Knast, auch an Hungerstreikaktionen beteiligt, wir wollten sie unterstützen. Das ging mit vielen Briefen und Bücherspenden. Und jetzt, vierzig Jahre später, hatte ich, neben diesen Ex-RAFlern sitzend, doch ein starkes Gefühl der Verbundenheit. Immerhin hatten wir, jeder auf eine andere Art, eine wichtige Zeit geteilt, eine Zeit, die heute weit weg zu sein scheint.
…
(1) Lutz Schulenburg (1953-2013). Ein Nachruf von Bernd Drücke, in: GWR 380, Sommer 2013, https://www.graswurzel.net/gwr/2013/06/lutz-schulenburg/
Auszug aus: Hanna Mittelstädt, Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags, Edition Nautilus, März 2023, 50 S/W-Abbildungen, 360 Seiten, ISBN 978-3-96054-317-6, 28 Euro
Lesungen mit Hanna Mittelstädt: