Seit Monaten demonstrieren in Israel zigtausende Israelis gegen die Pläne der ultra-rechten Regierung unter Benjamin Netanjahu. Allein am 5. März 2023 sind 250.000 Israelis auf die Straße gegangen. Die Regierungskoalition will die israelische Demokratie in ein autokratisches System umwandeln. Die Gewaltenteilung soll durch eine Justizreform abgeschafft werden, auch um die vielen Strafverfahren wegen Korruption gegen Netanjahu abzublocken. Seine Regierung plant mehr Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, was die Wut vieler Palästinenser*innen vergrößern und zu weiterer Gewalt führen wird. Am 1. März 2023 hat das israelische Parlament ein Gesetzesvorhaben für die Einführung der Todesstrafe auf den Weg gebracht. 55 von 120 Knesset-Abgeordneten stimmten für den Entwurf, den eine Abgeordnete der rechtsextremen Koalitionspartei Ozma Jehudit eingebracht hatte. Neun Abgeordnete stimmten dagegen, der Rest enthielt sich oder war abwesend. Israel auf dem Weg Richtung Autokratie? Wie konnte es soweit kommen? Eine Frage, die sich auch der Filmemacher Robert Krieg stellt. (GWR-Red.)
Wenn in einer repräsentativen Demokratie der Populismus siegt, ist es nicht mehr weit bis zur Abschaffung der Demokratie. Gewöhnlich nehmen Populist*innen zuerst die unabhängige Justiz als eine der tragenden Säulen des demokratischen Systems ins Visier, um sie zu entmachten und bis zur Unkenntlichkeit zu demontieren. Das geschieht bereits seit einigen Jahren überall auf der Welt und jetzt auch in Israel, dem vormals so geschätzten Vorposten der Demokratie im Nahen Osten, der als Vorbild gehandelt wurde, umgeben von antidemokratischen, autoritär regierten und feindlich gesinnten Ländern. Die ultrarechte und ultrareligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu treibt den Teil der israelischen Bevölkerung auf die Straße, der eine „Tyrannei der Mehrheit“ nicht hinnehmen will. Doch war Israel bisher eine lupenreine Demokratie? Was sind die Ursachen für diesen rasanten Verfall der politischen Ordnung 75 Jahre nach Staatsgründung? Der Oberste Gerichtshof Israels ist die letzte Bastion, um sich gegen illegale Landnahme und Aussetzung elementarer Menschenrechte in den besetzten Gebieten zu wehren. Die gilt es zu schleifen, um bei passender Gelegenheit die Annexion der Gebiete, die in einem langen schleichenden Prozess vorbereitet worden ist, endgültig durchzuführen und pro forma „gesetzlich“ absichern zu können.
Vor einem Vierteljahrhundert hatten wir die Gelegenheit, einige Israelis, die vor der Gründung Israels nach Palästina eingewandert waren, zu der Entwicklung ihres Landes zu befragen. Sie sind Protagonist*innen unseres Dokumentarfilms „Ich kam nach Palästina …“, der 1998 uraufgeführt wurde. Obwohl sie als Siedler*innen kamen, teilten sie die Überzeugung, dass alle Menschen egal welcher Hautfarbe, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit gleichwertig zu behandeln seien. Entsprechend verhielten sie sich gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Das hatte sie von Anfang an zu Außenseiter*innen in der eigenen Gesellschaft gemacht. Ihre Einsichten geben Antworten auf die aktuellen Entwicklungen ihres Landes, das sich von innen heraus zu zerstören droht. Mit einer fortwährenden Besatzungspolitik, die die sonst gültigen Gesetze menschlichen Zusammenlebens außer Kraft setzt. In den folgenden Einlassungen fächern unsere Gesprächspartner*innen ein Psychogramm von Menschen auf, die Besatzer*innen geworden sind. In meinen Augen das größte Hindernis auf dem Weg zu einer zukünftigen Friedensordnung. Wir haben die Interviews 1996 bis 1997 geführt. Sie haben an Aktualität nicht verloren, sondern im Gegenteil leider noch dazugewonnen.
Palästinakrieg 1947–1949
Hans Lebrecht: Ich war verantwortlich für die Wasserversorgung, Sanitätsversorgung in einem Militär Konvoi. Da trafen wir auf einen Zug von Flüchtlingen, von Leuten, die aus ihrem Dorf von den Israelis vertrieben wurden. Das war ein heißer Tag, so mit den Wüstenwinden und nichts zu trinken und ohne Proviant, und dann die älteren Leute waren dort, die Kinder waren da schon am Straßenrand gelegen, zum Teil sterbend, zum Teil verdurstend. Da hab ich die Wassertanks angehalten und Wasser verteilt. Der ganze Konvoi ist stehengeblieben, und ich wurde angeschnauzt vom Offizier. Da haben wir gesagt: Du guck mal her, das ist unmenschlich, ja.
Der hat mir mit dem Standgericht gedroht, das zum Glück nachher nicht stattgefunden hat, weil ich später verwundet worden bin. Aber das Bild von den Flüchtlingen, das werde ich nie vergessen. Das hab ich irgendwie in Verbindung gebracht mit dem, was meine Schwägerin (*), die aus dem KZ Ravensburg den Todesmarsch nach Mecklenburg-Vorpommern mitgemacht hat, erzählt hat. Das war ganz ähnlich, hat ähnlich ausgesehen. In meinem Kopf jedenfalls. (*Esther Bejarano)
Uri Avnery: Die Gebiete, die wir erobert haben, da blieben keine Araber zurück, und die wenigen Gebiete, die die Araber erobert haben, da bleiben keine Juden zurück. Wir hatten sehr wenige wirkliche Massaker, aber Vertreibung war ganz allgemein. Und ich war Augenzeuge. Darum sind das Mythen, die so herumspuken, die Araber haben das Land freiwillig verlassen und so weiter. Ich meine, jemand, der es erlebt hat, und der ehrlich genug ist, sich daran zu erinnern, was wirklich passiert ist, für den sind diese Mythen alle Quatsch.
Joel Tandler: Wir haben uns aber nicht vorgestellt, dass dieser Staat sich so zu seiner Minderheit benehmen wird. Das konnten wir uns nicht vorstellen. Wir haben immer geglaubt, dass die Erfahrungen des jüdischen Volkes allgemein und in diesem Jahrhundert es dazu bringen werden, dass ein Staat entstehen wird, der liberal sich zur Minderheit benehmen und sie akzeptieren wird als einen Teil dieses Staates, so dass es ganz logisch war, dass wir für den Staat waren.
Beschlagnahmungen und Militärverwaltung nach der Staatsgründung Israels
Uri Avnery: Wir waren im täglichen oder wöchentlichen Kampf um die Gleichberechtigung der arabischen Staatsbürger in Israel. Am Anfang ging es darum, dass die Regierung riesige Bodenflächen beschlagnahmt hat, das heißt, den Arabern den Boden weggenommen hat, um jüdische Siedlungen dort zu gründen. Das war ein stetiger Kampf, beinah jede Woche passierten solche Geschichten.
Hans Lebrecht: Da kamen die Traktoren, die israelischen und die gepanzerten, die haben den Arabern das Land weggenommen. Da haben wir uns vor die Traktoren gelegt. Da waren auch Juden dabei. Die mit den Arabern zusammen gekämpft haben. Das war eine jüdisch-arabische Zusammenarbeit gegen solche Dinge, die rassistisch sind. Die uns, die wir im antifaschistischen Widerstand waren (Hans Lebrecht hat im Untergrund gegen Nazi-Deutschland gekämpft, R. K.), besonders mitgenommen haben. Wir haben gesagt, es ist gegen das wahre Interesse von Israel. Das fortschrittliche Israel muss intervenieren, um den Arabern zu beweisen, dass nicht alle Juden so denken wie die Militärgouverneure, die sie unterdrücken und beherrschen in kolonialistischer Weise. Genauso haben wir das mit den Arabern diskutiert und auch mit linksradikalen Juden, die gesagt haben: Israel ist eine faschistische Diktatur. Was nicht wahr war. Es war kein Faschismus. Es war ein ganz eindeutiger Kolonialismus, das haben die Engländer in Südafrika gemacht, und das haben die Belgier im Kongo gemacht und das haben die Holländer weiß ich wo gemacht. Und das ist, was die Israelis gemacht haben und auch heute noch in den besetzten Gebieten machen.
Joel Tandler: Da waren wir noch weit von 1967 entfernt. Da haben wir nur eine arabische Minorität im Land gehabt, die unter dem Militärregime gelebt hat, denen man die Ländereien entzogen hat. Also die vertrieben wurden eigentlich. Damals wurde immer gesagt: Sie sind weggelaufen. Wir haben immer gesagt: Sie wurden vertrieben. Und heute kannst du es lesen, es ist wirklich so.
Uri Avnery: Ben Gurion hat 18 Jahre lang die arabische Bevölkerung in Israel selbst unter Militärverwaltung gestellt. Der Kampf zur Abschaffung der Militärverwaltung war einer der wichtigsten Kämpfe, die wir bestanden haben. Wir waren jahrelang damit beschäftigt, bis sie endgültig abgeschafft worden ist. Ein Jahr vor dem Sechstagekrieg. Es war ein ständiger Kampf, es war ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit, für Demokratie. Aber es war auch ein Kampf um die Grundidee Israels: Was ist eigentlich Israel? Ein Problem, das bis heute noch nicht gelöst worden ist, die Diskussion geht heute noch weiter.
Der Sechs Tage Krieg und die Folgen
Joel Tandler: 1967, das war so komisch. Bekannte von uns, links Eingestellte, waren begeistert, was hier erreicht wurde. Jerusalem vereinigt, Hebron gehört zu uns, ganz unglaublich. Wir und Leibowitz (*) waren die einzigen, die anderer Meinung waren. Leibowitz hat es prophezeit, was kommen wird. Wir haben es nicht so prophezeien können, aber wir haben gleich gesagt, dieser Krieg war unnötig, und jetzt setzt euch und macht Frieden. Aber mit dem Essen kommt der Appetit. Und nachdem man jetzt ein großes Stück Land besetzt hat, und dessen Bevölkerung unter Besatzung gebracht hat, muss ein gewisser Teil unserer Bevölkerung – und genau das hat Leibowitz prophezeit, aktiv Besatzer werden. Ob in der Polizei, oder in den Geheimdiensten, so dass sich 1967 eine neue Psychologie in der Bevölkerung entwickelt hat. Auf einmal sind wir ein Herrenvolk geworden und als solches haben wir gehandelt. Es ist nicht nur eine theoretische Feststellung. Sie wurde praktisch im Leben durchgeführt. Rabin hat gesagt: Man muss ihnen (den Jugendlichen der ersten Intifada, R.K.) die Knochen brechen. Warum soll er es sagen, und Jajer und Jigal und alle anderen jungen Soldaten sollen es nicht machen. (*Jeschajahu Leibowitz, jüdischer Philosoph)
Uri Avnery: Weil wir die besetzten Gebiete nicht aufgeben wollen, weil wir uns darin verliebt haben, kommen wir zu keinem Frieden. Und werden weitere Kriege haben. Die Leute wollten die Gebiete nicht nur behalten, sie haben angefangen, diese unglückseligen Siedlungen aufzustellen, die heute das Hauptproblem sind, das gelöst werden muss, um überhaupt zu einem Frieden zu kommen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Mechanismus abläuft, wie wir uns langsam immer mehr in diese Gebiete verwurzeln und es immer schwerer wird, die Gebiete aufzugeben. Ich habe mal zu Golda Meir, als sie Ministerpräsidentin war, – ich habe sie immer gehasst und sie mich auch – gesagt: Jede Siedlung, die Sie jetzt aufstellen, ist eine Landmine, die wir eines Tages wieder herausholen müssen, und glauben Sie mir als ehemaligem Soldaten, das ist eine sehr unangenehme Aufgabe, ein Minenfeld zu säubern.
Kolonialismus und Macht
Shmuel Amir: Eine Politik der Macht beginnt meiner Meinung nach immer mit einer Kolonisierung. Ohne Macht gibt es keine Kolonisierung. In dieser Hinsicht ist Israel nicht zu unterscheiden von der Kolonialpolitik anderer kolonialistischer Länder. Nun, wie konnten sich die Amerikaner, die ersten Siedler in Amerika, durchsetzen oder in Südafrika oder sonst irgendwo? Ohne Macht gibt es keine Siedlungspolitik. Das ist immer so. Ohne Macht gibt es keinen Imperialismus.
Die Einwohner hier waren Araber. Ich weiß nicht, ob die sich selber Palästinenser nannten, darüber kann man diskutieren. Aber ich bin sicher – wäre das alte Palästina besiedelt gewesen, sagen wir von Franzosen oder Deutschen, die höchst fanatischsten Zionisten wären nicht auf den Gedanken gekommen herzukommen und sich neben französische Siedler zu siedeln und zu sagen: das Land wird uns gehören. Das wäre einfach unmöglich.
Solange wir die Macht nicht hatten, wäre keiner auf den Gedanken gekommen, in der Praxis meine ich, dass ganz Jerusalem uns gehört. Bis 1967 hatte keiner diesen Gedanken oder darüber gesprochen. Und nicht nur das. Die israelische Bevölkerung hatte bis 1967 andere Gedanken, da waren andere Sachen auf der Agenda. Aber dann, ein Tag nach der Eroberung der Westbank, steht plötzlich Jerusalem in der Mitte von dem nationalen Mythos und Gefühl und so weiter. Wodurch? Es wurde besetzt, es wurde erobert. Die Ideologie war schon vorhanden, aber die Macht war erst 1967 da.
Edda Tandler: Wir wären viel weiter gekommen in diesen ganzen Agreements mit den Palästinensern, wenn diese Siedlungen nicht so stehen würden wie ein Schachbrett. Du kannst eigentlich heute sehr schwer irgendwie Ordnung machen, irgendeine Grenze ziehen. Allerdings, wenn wir an der Macht wären, wäre das ganz leicht. Wir würden sagen: Du bekommst eine Entschädigung, fertig. Wer will, soll unter den Palästinensern bleiben, und wer nicht will, wird eine Entschädigung bekommen und ab nach Hause, nach Israel. Aber das kann weder die Arbeiterpartei machen und natürlich nicht die Rechte. Wer ist in diese Gebiete gegangen, das waren meistens Leute, die keine Wohnung gehabt haben, und dort war es viel billiger oder überhaupt umsonst. Dann sind viele amerikanische Juden gekommen, denen es egal ist, ob sie in Tel Aviv oder irgendwo in dem besetzten Gebieten leben. Gekommen ist das reaktionärste Element aus Amerika, noch dazu fanatisch und religiös.
Das Psychogramm der Besatzer
Joel Tandler: Nach dem ’67er Krieg waren viele Arbeiter aus den besetzten Territorien am Bau. Ich war auf Baustellen aktiv, weil wir viele Fenster und Türen gemacht haben. Da kam ich eines Tages auf einen Bau und diskutiere mit einem Vorarbeiter orientalischer Herkunft. (gemeint sind Jüdinnen und Juden mit Wurzeln in arabischen Ländern, R. K.) Und der sagt mir: Alles das müsste – das hat man ja früher sehr oft gehört – alles muss man liquidieren. Nach einer Stunde komme ich zum selben Platz, da sitzt er im Kreis mit all den Arbeitern und sie essen Hummus zusammen. Das ist typisch. Das ist die Schizophrenie, die besteht. Einerseits sind sie ihnen sehr nahe, andererseits sind sie ihnen sehr weit.
Uri Avnery: Es ist, ich nehme an auch in Deutschland, eine allgemeine soziale Erscheinung, dass, wenn ich zwei Völker habe, ein herrschendes Volk und ein beherrschtes Volk, sagen wir mal, wie die Türken in Deutschland, die unterste Schicht des herrschenden Volkes die aller-radikalste, nationalistischste ist. Das hat nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch psychologische. Wenn man sich im eigenen Volk verachtet fühlt oder minderwertig, dann braucht man eine nationalistische Identifizierung viel stärker als andere, das heißt, zwar tauge ich nicht, zwar verdiene ich nicht, zwar werde ich nicht mit der Verachtung fertig, aber ich gehöre dem deutschen Volke an, und das deutsche Volk ist das herrischste der Welt! Oder ich gehöre dem jüdischen Volke an, das jüdische Volk ist das herrischste der Welt. Dasselbe in Amerika. Dasselbe überall. Das ist eine Erscheinung, die es überall gibt. Gerade in diesen Schichten gibt es einen emotionalen Hass gegen die Araber und eine Verachtung für die Araber, die sehr tief geht.
Edda Tandler: So, wie wir heute aussehen, alles das ist eigentlich der Endeffekt vom 67er Jahr. Und das sage ich euch nicht deswegen, weil ich eine Kommunistin bin, sondern, weil ich auch eine Mutter und eine Großmutter bin. Alles hat sich gesellschaftlich ganz allmählich abgespielt. Wenn ein Besatzer so lange ein Besatzer bleibt, eine ganze Generation mit der Besatzung aufwächst und die nächste Generation, die nach 1967 zur Welt gekommen ist , dann macht das etwas mit Israel. Diese Generation kennt Israel nur als ein Groß-Israel, wo du ein Besatzer bist und ein Herrscher über ein anderes Volk. Das hat sehr schlecht gewirkt auf unsere Kinder und unsere Bevölkerung.
Hans Lebrecht: Die Besatzung und die Unterdrückung von einem Volk, das erzeugt nicht nur Widerstandskräfte innerhalb des Volkes, das unterdrückt wird, sondern das bringt auch Früchte von faschistischen und chauvinistischen Elementen, und das sind die radikalen Elemente in der israelischen Gesellschaft. Das hat sich im Laufe der Zeit erwiesen. Okkupation und Faschismus sind Zwillingsbrüder.
Uri Avnery: Was wir heute haben, wird zum ersten Mal ganz klar: 99% der Religiösen sind rechts. Und die Rechtsradikalen in Israel sind beinahe alle religiös. Rechtsradikale, die man in Europa nur Faschisten nennen würde. Hier im Lande gebraucht man das Wort nicht gerne. Diese Religiösen entwickeln die jüdische Religion hier im Lande in einer Richtung, die man früher gar nicht gekannt hat. Die jüdische Religion hier in Israel ist eine Mutation, die verschieden ist von dem, was man in Deutschland als jüdische Religion betrachtet hat, zur Zeit meiner Eltern und Großeltern. Es ist eine messianische, nationalistische Religion, die mit Moral und Moralität überhaupt nichts mehr zu tun hat, die sich als die Vorposten der nationalen Erhebung betrachtet, die prinzipiell jeden Frieden mit den Arabern ablehnt. Es gibt ja Teile dieser Bewegung, die den politischen Massenmord begünstigen und sich offen dafür aussprechen. Dieser Mörder in Hebron, der 30 Palästinenser beim Gebet in der Moschee umgebracht hat, Baruch Goldstein, wird verehrt von Teilen dieser religiösen Bewegung und sein Grabmal ist heute ein Wallfahrtsort.
Die Shoah und der Mythos der totalen Sicherheit
Shmuel Amir: meine Lehre aus der Shoah, aus der Vernichtung der Juden, war, – gegen jeglichen Rassismus zu sein. Leider ist das nicht die Lehre der meisten Israelis, auch nicht derer, die aus den Lagern kamen. Sie haben die Shoah immer als eine speziell-anti-jüdische Sache angesehen. Deswegen muss man die jüdischen Interessen wahren. Nicht, dass man für Rassismus ist, aber zuallererst müssen wir uns als Juden behaupten. Das hatte sich noch überschlagen in unserem Kampf hier in Palästina, Israel gegen die Araber. Anstatt gegen Rassismus sein, hat sich hier sozusagen ein eigener Rassismus gegen die Araber entwickelt. Deswegen wird der Holocaust bis heute damit manipuliert. Wir, die wir doch durch diese furchtbaren Verfolgungen und Zerstörungen und Vernichtung durchgegangen sind, – zu uns kann niemand kommen und uns anklagen, dass wir in irgendeiner Art rassistisch sind. Wir sind die Opfer. Es gibt keine andern Opfer. Oder unser Opfer ist doch immer viel größer und so weiter. Dagegen haben wir gewettert. Es gibt solche Unterschiede nicht. Ich bin bis heute ein Universalist. Was für den einen gültig ist, ist auch für den andern gültig.
Der Kampf zur Abschaffung der Militärverwaltung war einer der wichtigsten Kämpfe, die wir bestanden haben.
Uri Avnery: Aber der Holocaust hat, einen ungeheuren Einfluss auf die Psychologie dieser Gesellschaft hier im Lande gehabt und hat ihn immer noch. Es drückt sich auch darin aus, dass Angstgefühle entstanden sind, die zum Teil irrational sind, ein Bedürfnis, ein Drang nach absoluter Sicherheit, die es nirgends in der Welt gibt, im wirklichen Leben gar nicht geben kann. Sicherheit ist jetzt praktisch hier so ein Ideal, ein Götzendienst.
Und was dazu kommt, ist, dass gewisse Einstellungen, die es in der jüdischen Tradition schon immer gegeben hat, sehr verstärkt worden sind: Der Eindruck, dass die ganze Welt gegen uns ist, dass alle Völker der Welt Juden vernichten wollen. Das ist heute ein Instrument der israelischen Erziehung, besonders in religiösen Schulen, das stark die israelische Psychologie bedingt und es auch so furchtbar schwer macht, Frieden zu machen, denn wenn man glaubt, dass alle uns umbringen wollen, natürlich die Araber auch, wie kann man Frieden machen? Dann müssen wir uns auf unser eigenes Land zurückziehen, müssen unser Land befestigen und bereit sein, unser Leben jeden Augenblick teuer zu verkaufen. Das ist die politische Einstellung, die heute noch einen großen Teil der israelischen Bevölkerung beeinflusst. Jede Arbeit für den Frieden hier im Lande stößt automatisch auf diese seelischen Komplexe. Wie kann man jemand vertrauen. Glaubst du, dass die Araber ehrlich sind? Glaubst du, dass man mit Arabern Frieden machen kann? Glaubst du, dass überhaupt jemand mit uns Frieden machen wird? Kann man sich auf irgendwas verlassen, außer auf unser Militär?
Hans Lebrecht: Man hat es im Laufe der Jahrzehnte verstanden, das Wort Sicherheit zu definieren mit militärischer Gewalt und mit militärischer Überlegenheit. Militärische Überlegenheit in jeder Beziehung. In der Ausrüstung, in der Ausbildung der Soldaten, in der Wehrfähigkeit. Ein Begriff, den man noch aus der Nazi-Zeit kennt. Schlimm, aber so ist es. Sicherheit ist in Israel ein starkes Militär, dass wir den Arabern zeigen, was wir können, dass die im Grunde genommen merken, wir sind die Stärkeren. Unter den Friedenskräften gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: Wir sind die Stärkeren und wir werden die Stärkeren bleiben, wir werden immer die Übermacht haben. Deswegen können wir uns erlauben, auch was nachzugeben und Frieden zu machen. Das ist eine ganz falsche Einstellung, die im Grunde genommen dem Frieden entgegenwirkt.
Ohne Anerkennung keine Versöhnung
Uri Avnery: Wir haben hier ein Problem, das bei weitem tiefer geht als die Politik. Wir haben ein Problem damit, die Palästinenser nicht nur als Volk sondern als Menschen anzuerkennen. Wenn man anerkennt, dass es ein palästinensisches Volk gibt, dann muss man die zionistische Geschichte der letzten 100 Jahre anders betrachten als die offiziellen Mythen es besagen. Da muss man anders betrachten, nicht nur, was 1948 passiert ist, sondern auch, was 1905 und 1882 passiert ist. Das heißt also, die ganze zionistische Geschichte zu revidieren und neu zu schreiben. Das ist ein schmerzlicher Vorgang. Es ist für die Amerikaner ein schmerzlicher Vorgang, wenn die heute anfangen zu begreifen, dass der wunderbare liberale, demokratische amerikanische Staat auf einem Völkermord aufgebaut ist. Und dass sie ganze Nationen umgebracht haben. Bei uns war es nicht so schlimm, aber anzuerkennen, dass dieses Land nicht leer war, dass wir ein anderes Volk, das hier im Lande gelebt hat, verdrängt haben, das ist für Zionisten sehr schwer. Und daher kommt diese ewige Verdrängung und Verleugnung.
Shmuel Amir: Im allgemeinen gesehen ist Israel eigentlich als ein Land entstanden im Rahmen einer riesigen imperialen Welle am Ende des 19. Jahrhunderts, die die weißen Siedler überall in die Welt schickte. Die haben überall Territorien erobert. Niemals ohne ein unerhörtes Leiden der Einwohner, überall, auch hier. Das muss man anerkennen.
Aber wenn wir nicht nur einen pragmatischen Frieden wollen, sondern auch in die Zukunft blicken und wirklich an ein Versöhnen mit den Arabern denken, ein wirklich echtes, wahres, tiefes Versöhnen mit den Arabern, dann müssen wir anerkennen, und das bezieht sich auf den Zionismus, dass wir in dieses Land kamen und einen Teil der Bevölkerung vertrieben haben. Man muss das anerkennen. Nur nach einer solchen Anerkennung kann man sich wirklich versöhnen. Solange wir darauf bestehen, es war unser Recht, herzukommen und einen großen Teil der arabischen Bevölkerung auszutreiben und das ganze Israel gehört uns, solange kann Versöhnung nicht sein.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.