so viele farben

Zeichen einer Regimekrise

Frankreich: Massenstreik gegen Macrons Rentenreform

| Fabien Escalona, Romaric Godin

Beitragfrankreich
Foto: Christian Bachellier, CC BY-NC-ND 2.0, https://flic.kr/p/2ogniaW

Am 7. März 2023 kam es in Frankreich zum insgesamt 6. Streiktag der Kampagne gegen die Rentenreform Macrons, nach der das Renteneinstiegsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht werden soll. Mit rund 1,4 Millionen Beteiligten landesweit war es die bestbesuchte Mobilisierung bis dahin. Die ersten Streiktage dienten nur der Vorbereitung auf den nun beginnenden „grève reconductible“ (fortlaufenden Streik), der nicht mehr nur auf einen Tag beschränkt werden soll und in einem Kräftemessen die Entscheidung mit Macrons Regierung suchen will. Schon ab Montag, 6. März, waren Raffinerien blockiert worden, ab Dienstag wurden Züge und Flüge bestreikt, flankiert von Demos mit mehreren Hunderttausend Demonstrant*innen in 265 Orten Frankreichs. Beschäftigte der Müllabfuhr streikten; Gymasiast*innen und Student*innen in Hunderten von Institutionen verhinderten den Unterricht. Es gibt eine „intersyndicale“, ein breites Bündnis von acht französischen Gewerkschaften, das seit einigen Wochen zusammenhält. Hier folgt eine Analyse der alternativ-linken Medienplattform „Mediapart“, warum Macron durch seine gegen den Willen von 70 % der Bevölkerung und ohne parlamentarische Mehrheit autokratisch verabschiedete Rentenreform eine Regimekrise riskiert. (GWR-Red.)

Die Rentenreform von 2023 ist nur die Quintessenz dessen, was im gegenwärtigen Regime den Geist von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit untergräbt. Warum nun eine Grenze überschritten wurde, das gilt es hier zu erklären. Bisher hatte es immer Ängste vor einer sozialen Explosion oder vor einem Abstrafen bei Wahlen gegeben, die eine regulative Rolle gespielt haben (1), doch die sind nun vom Horizont der Regierung verschwunden.
Zwar haben sich die neoliberalen Politikformen in Frankreich verankert, aber nicht ohne eine breite Meinungsopposition. Schon 1986 musste eine Rentenreform im Agrarbereich nach einem großen Streik der Eisenbahner*innen aufgegeben werden. Angesichts von Student*innendemonstrationen hatte 1994 Premierminister Édouard Balladur sein Projekt eines gesenkten Mindestlohns für Unter-26jährige aufgeben müssen. Die sozialen Bewegungen haben sich ebenfalls 1995 gegen die damalige Rentenreform von Premier Alain Juppé sowie gegen den Versuch einer Einführung eines unterbezahlten „Erstarbeitsvertrags“ von Dominique de Villepin 2006 durchgesetzt. (2)
Die Regierungen mussten sich damals andere Wege ausdenken, die weniger anfällig für Massenproteste waren, wie etwa Privatisierungen öffentlicher Betriebe, die Liberalisierung des Finanzsystems oder eine neoliberale Reform der Krankenversicherung. Es war sogar möglich gewesen, gegen den Trend zu Sozialkürzungen eine Mindestsozialversicherung (revenue minimum d’insertion, RSI), die Aufrechterhaltung einer schützenden Arbeitslosenversicherung oder die Verringerung der Wochenarbeitszeit als „Kompensation“ durchzusetzen.
Diese „Kompensationsstrategie“ unterscheidet sich jedenfalls von der direkten Konfrontation, welche die Regierung heute inszeniert. Macron hatte das beabsichtigt. In seinem Wahlprogramm von 2016 (3) sah er sich bereits als Antithese zu diesem „französischen Weg“ sozialen Ausgleichs, der angeblich das Land daran gehindert habe, „sich an den Weltmarkt anzupassen“. Wenn er nun so schnell von Ankündigungen zur Umsetzung übergeht, dann vor allem aus folgenden Gründen.

Bricht der ideologische Kern des Macronismus?

Der erste Grund ist ökonomisch und resultiert aus der Tatsache, dass sich die kapitalistische Krise seit 2020 vertieft hat. Der kontinuierliche Rückgang der Profite und die Abhängigkeit des Privatsektors von der ständigen Unterstützung durch die öffentliche Hand sind die beiden wichtigsten Charakteristika dieser Krise. Daher rührt eine doppelte Notwendigkeit für das Kapital und seine Verbündeten: Einerseits müssen sie den Druck auf den Lohnarbeitssektor aufrechterhalten, um industrielle Arbeit für die Unternehmen rentabel zu halten; andererseits müssen sie den Sozialstaat zurückfahren, um die Ressourcen auf den Privatsektor zu verlagern.
Die Rentenreform, die für Macron von Premierministerin Élisabeth Borne vorgestellt wurde, entspricht genau diesen beiden Notwendigkeiten, die sie übrigens offen nie zugeben würde. Borne wird außerdem weiter Druck ausüben auf eine komplementäre Reform der Arbeitslosenversicherung, um dem Unternehmertum die versprochenen Steuererleichterungen zu finanzieren.
Unter diesen Bedingungen konnte sich die Position der Regierung, die sich den Interessen des Privatkapitals ausgeliefert hat, nur verhärten. Denn hier wird der Kern der Machtidentität berührt. Seit seinem Einzug in den Élysée-Palast hat sich Macrons Ansicht zu zahlreichen Themen verändert. Aber in einem Punkt ist er unverändert geblieben: bei der eindeutigen Unterstützung der Rentabilität des Privatsektors. Außerdem hat er nie versucht, die Arbeitsmarktreformen und die Senkung der Kapitalsteuer infrage zu stellen, auch wenn viele Studien deren Wirkung kritisierten. Wenn man die Rentenreform als Fortsetzung dieser Politik betrachtet, versteht man die Radikalität der Regierungsgewalt besser: Auf die Rentenreform zu verzichten hieße, diese Identität zu brechen. Für den Macronismus geht es bei der aktuellen Reform daher um seine existentielle Grundlage. In diesem Rahmen ist die Demütigung und die Entlegitimierung der sozialen Gegenbewegung durch Macrons Neoliberalismus unmittelbar verknüpft. Sein historisches Vorbild sind natürlich die Unterdrückung der Streiks der [britischen] Bergarbeiter*innen durch Margaret Thatcher 1984/85 sowie die neoliberalen Anpassungsmaßnahmen gegen Griechenland zwischen 2010 und 2015.
Die politischen Gegebenheiten favorisieren diese bis zum Äußersten gehende Mentalität gegen die soziale Bewegung. Um es einfach auszudrücken: Die Regierung ist überzeugt davon, so eine kommende Wahlniederlage zu vermeiden. Das, was den Eifer der Regierungen in den 1990er- und 2000er-Jahren gemäßigt hat, resultierte weniger aus einer Überzeugung denn aus Angst vor dem Machtverlust – und deshalb hat es mehrfach einen Wechsel der beiden Regierungsparteien (damals: Konservative und Sozialistische Partei) gegeben.
Diese Lage hat sich nun jedoch verändert. Die politische Landschaft in Frankreich ist tripolar geworden – und die Linke verkörpert die Figur des ausgeschlossenen Dritten bei einem finalen Duell zwischen einer neoliberalen und einer identitären Rechten. Zweimal wurde Macron jetzt nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der neofaschistischen Rechten der Partei Le Pens gewählt, die von einer Mehrheit der Franzosen/Französinnen abgelehnt wurde und übrigens durch ihre unglaubliche Inkompetenz brilliert. All das geschah gemäß der Hoffnung im Macron-Lager, sicher zu gehen, dass man in die zweite Runde der Wahlen einziehen wird, indem man die eigene soziale Basis, bestehend aus wohlhabenden und Rente beziehenden Schichten, immer weiter mobilisieren kann, deren politischer Einfluss zwar rückläufig ist, aber sich im Vergleich zu den Jugendlichen oder den Unterklassen noch immer quantitativ stärker an Wahlen beteiligt.

Das gefährliche Spiel mit der neofaschistischen Rechten

Doch selbst bei ihren wahlpolitischen Eroberungen der Macht wusste die Macron-Regierung sehr gut, dass es ein prekäres Gleichgewicht war. Die Tatsache, bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 nur eine relative Mehrheit errungen zu haben (3), mit einer vereinigten Linken, die im ersten Wahlgang fast gleichauf lag, war für sie ein alarmierendes Anzeichen.
In Zeiten der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts oder während der Volksfront-Regierung von 1936 hatte sich das republikanische Bürgertum noch mit der Linken verständigt (die damals sogar eindeutig kollektivistisch ausgerichtet war!), um zu verhindern, dass sich das reaktionäre Lager die Macht unter den Nagel reißt. Solch ein historisches Bewusstsein ist in den Reihen Macrons vollständig vergessen. Heute wird die Linke ohne Unterlass als „extremistisch“ verteufelt, ganz genauso wie ihr vermeintliches rechtes Pendant. Alles wird getan, um zu verhindern, dass eine ernsthafte und akzeptable parlamentarische Alternative entstehen kann – mit dem Risiko, dass sich die identitäre Rechte diesen Platz einverleibt. Dieses gefährliche Spiel war bereits im letztjährigen Wahlkampf zu sehen, als die Rhetorik der „roten Gefahr“ wieder aufflammte. Es hat sich dann innerhalb des Parlaments fortgesetzt, mit der historisch neuen „Normalisierung“ einer Vertretung des Rassemblement National (RN; früher Front National) und deren 89 Abgeordneten im Parlament. Und dieses Spiel tritt deutlicher als je während des Kampfes um die Renten zutage und beschleunigt sich nun.
Die äußerst „höflich“ ausgetragenen Parlamentsdebatten waren so die Gelegenheit, eine „Front der Übereinstimmung“ zwischen RN und dem Macronismus offenzulegen. Beispiel: Als ein linker Abgeordneter den Arbeitsminister Olivier Dussopt als „Mörder“ bezeichnete, war Letzterer nach einem Bericht der Tageszeitung „Le Monde“ sehr berührt, als er durch Marine Le Pen verteidigt wurde. „Vielen Dank für Ihre Worte“, hat der Minister ihr zugeflüstert, bevor er öffentlich verlautbarte, dass sie „sich republikanischer verhielt, als viele andere in diesem Augenblick“. Diese Episode illustriert eine allgemeine Strategie, die sich auch in anderen Bereichen abzeichnet, etwa bei der Frage des „wokismus“. Die Anhänger*innen Macrons versuchen, einen politischen Dualismus zu etablieren, den sie zu beherrschen glauben, der aber zahllose Risiken in sich birgt. Was zum Beispiel in Italien passiert, mit dem Auftreten einer Vertreterin des Post-Faschismus an der Spitze der Regierung, hat gerade die schuldhafte Verantwortung der Strömung des politischen „Mainstreams“ bei der Normalisierung der neofaschistischen Rechten aufgezeigt.
Dieses Spiel ist so gefährlich, weil es selbst die Bedingungen seiner Fortsetzung sabotiert: Wie kann man alle fünf Jahre zu einer „republikanischen Allianz“ aufrufen, wenn außerhalb des republikanischen Lagers Wähler*innen sind, die sich in der Linken sehen, aber dazu aufgerufen werden, einen neoliberalen Kandidaten zu wählen? Darum trägt Emmanuel Macron die Verantwortung – weit mehr als die Linke – für das Risiko eines späteren Wahlsiegs des Neofaschismus.
Wenn es die Priorität der präsidialen Mehrheit ist, eine Politik im Interesse des Kapitals durchzusetzen, wird es denkbar, dass dies die Schwächung der sozialen Bewegungen und die Marginalisierung der politischen Linken bedeuten muss, mit dem bewussten Risiko der Entstehung einer parlamentarischen Alternative der neofaschistischen Rechten. Denn Letztere wird die Rentenreform ganz sicher nicht bedrohen, weil sie den neoliberalen Rahmen akzeptiert, besonders wenn die soziale Bewegung auf Dauer geschwächt wird. Die Hybris des Bewohners im Élysée liegt demnach in dessen Sicherheit, auf allen Ebenen siegen zu können.
De facto scheint Macron die alte neoliberale Idee der „Neutralisierung“ der Demokratie zu übernehmen, die man bei von Hayek und Milton Friedman schon findet. Aber er trägt nun das Risiko und damit die Verantwortung – mehr noch als die Linke –, einem Sieg der neofaschistischen Rechten Vorschub zu leisten. Dieses Risiko ist umso größer, je mehr Letztere sich im Herzen der Institutionen festsetzt und sich auch noch als Ausweg präsentieren kann, angesichts der Legitimationskrise, in die alle französischen neoliberalen Regierungen seit den 1980er-Jahren geraten sind.
Wie kann man der Falle, in die Macron das Land stürzt, entkommen? Zunächst durch den Widerstand gegen die Rentenreform, die heute sowohl einen politischen als auch entscheidenden Charakter für die Demokratie annimmt. Und dann durch die Weiterführung dieser Bewegung über die dickköpfige Durchsetzungsstrategie der Regierung hinaus, um auf Dauer die Forderung nach einer Demokratisierung auch der Ökonomie zu erheben.

(1): Nach der geltenden Verfassung, die im Gegensatz zu autoritären Staaten noch nicht geändert wurde, kann ein französischer Präsident nur einmal wiedergewählt werden, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kann also Macron nicht mehr antreten; d.Ü.
(2): Zur spontaneistisch-dezentralen Streikkultur in Frankreich im Gegensatz zur bürokratisch-funkionärsdominierten der bundesdeutschen Gewerkschaften vgl. u. a. Lou Marin: Nachruf auf Willi Hajek. Vermittler zwischen französischen und deutschen Basisgewerkschaften, in: GWR 474, Dez. 2022, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2022/11/nachruf-auf-willi-hajek-1946-2022/
(3): Vgl. Wahlanalyse in: GWR 470, Sommer 2022: https://www.graswurzel.net/gwr/2022/05/der-verhassteste-gewaehlte-praesident-ever/

(aus: Online-Tageszeitung
„Mediapart“, 6. März 2023,
übersetzt, leicht gekürzt und bearbeitet von: Lou Marin)

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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