nie wieder!

Im Rauch der Scheiterhaufen

Erinnerung an den verbrannten Dichter Max Hermann-Neisse

| Martin Baxmeyer

Beitragimrauch
Max Herrmann-Neisse, Zeichnung von George Grosz, ca. 1925-1926

Die Bücherverbrennung, die die Nazis im Mai 1933 mit düsterem Pomp inszenierten, gehört paradoxerweise zu den erfolgreichsten Aktionen des mörderischen Regimes. Gut, vielleicht nicht die Verbrennung selbst. Die war, glaubt man den Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, wohl eher ein lächerliches Spektakel: mit Studenten, die sich heimlich teure Bücher aus den Scheiterhaufen fischten, ehe die Flammen sie erreichten; mit Erich Kästner, der in Berlin der Verbrennung seiner eigenen Bücher zuschaute; oder mit dem bayrischen Volksschriftsteller und Anarchisten Oskar Maria Graf, der, als er feststellen musste, dass sein Name auf der Liste der empfohlenen Bücher auftauchte, in einem weltweit publizierten Wutschrei forderte: „Verbrennt mich!“ – was dann auch prompt geschah. Aber aus verbrannten Dichtern waren längst verbannte Dichter geworden. Das Nazi-Regime ließ sie ermorden, sperrte sie in Konzentrationslager, beschlagnahmte ihr Eigentum, verbot ihre Bücher und trieb hunderte von ihnen ins Exil. Viele überlebten die Zeit ihrer Verbannung nicht. Und diejenigen, die es taten, fassten meist in der jungen Bundesrepublik nie wieder Fuß. Verbrannt, verbannt, vergessen: Das war das Schicksal der Besten der deutschen Dichtergeneration der zwanziger und dreißiger Jahre des 20sten Jahrhunderts.

Zu ihnen gehört auch Max Herrmann-Neisse. Er war 1886 in Schlesien zur Welt gekommen. Der zweite Teil seines Nachnamens, „Neisse“, bezeichnet seine Geburtsstadt. Hermann-Neisse war behindert und kleinwüchsig: auf einem winzigen, unendlich zerbrechlich wirkenden Körper thronte ein riesiger Kopf. Er war gut befreundet mit Joachim Ringelnatz und Else Lasker-Schüler, und hatte sich als Theaterkritiker einen Namen gemacht. Vor den Nazis floh er nach London, wo er 1941, mit nur 55 Jahren, leise und vergessen starb. Über Max Herrmann-Neisses dichterisches Schaffen aus der Weimarer Republik hat sich der Staub der Zeit gelegt. Seine Gedichte aus dem Exil dagegen sind zeitlos. „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“ gehört zu den bekanntesten.

Max Herrmann-Neisse
Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen

Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
die Heimat klang in meiner Melodie,
ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,
das mit ihr welkte und mit ihr gedieh.

Die Heimat hat mir Treue nicht gehalten,
sie gab sich ganz den bösen Trieben hin,
so kann ich nur ihr Traumbild noch gestalten,
der ich ihr trotzdem treu geblieben bin.

In ferner Fremde mal ich ihre Züge
Zärtlich gedenkend mir mit Worten nah,
die Abendgiebel und die Schwalbenflüge
und alles Glück, das einst mir dort geschah.

Doch hier wird niemand meine Verse lesen,
ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht;
ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht.

Wie eine Motte das Licht umkreisen Herrmann-Neisses Exilgedichte den Begriff „Heimat“. Das hat sie verdächtig gemacht. Einer politischen Linken beispielsweise ist der Begriff „Heimat“ ein Gräuel. Sie fürchtet Heimattümelei, Intoleranz, Schrebergärten und brünftige Hirsche. Aber einmal ganz davon abgesehen, dass viele überaus linksradikale Freundinnen und Freunde von mir begeisterte Schrebergärtnerinnen und Schrebergärtner sind, ist es doch merkwürdig, dass hier nur ein Verständnis von „Heimat“ gewählt wird, um den ganzen Begriff in Misskredit zu bringen. Selbst die Fachwissenschaft hat sich täuschen lassen. Eine etablierte germanistische Forschungsmeinung besagt, im Exil hätten die meisten Dichterinnen und Dichter sich ganz sich selbst und ihrem eigenen Leid zugewandt. Und so findet sich etwa in Wolfgang Emmerichs und Susanne Heils verdienstvoller Sammlung „Lyrik des Exils“ der lapidare Satz: „So wurde aus so manchem sentimentalischen ein sentimentaler Dichter“. Er bezieht sich (auch) auf Max Herrmann-Neisse. Es lohnt sich jedoch, genauer hinzusehen.

Es klingt eine durchaus hörbare parodistische Note durch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“, die sich mit dem Vorwurf der Sentimentalität schlecht verträgt. Beispielsweise, wenn das lyrische Sprecher-Ich feststellt, die Heimat – sprich: die Geliebte – habe ihm „Treue nicht gehalten“, sondern sich ganz den „bösen Trieben“ hingegeben. In Bild und Wortreihung steht hier der mittelalterliche Minnesang Pate, mit seiner Klage über die grausame, untreue Geliebte. Das hervorstechendste Merkmal des Minnesangs jedoch war, dass die Geliebte in ihm stets unerreichbar, unkörperlich, im Grunde irreal blieb – ein Wunschbild höchster Schönheit und makelloser Tugend, welches man von weitem anstaunte. Die Heimat als unerreichbares Phantombild? Auch die antik-römische Liebeselegie könnte Modell gestanden haben, die schon der erste große Dichter des Exils, Ovid, ironisch zweckentfremdete, um seine Verbannung aus Rom zu beklagen. Wiederum wird „Heimat“ hier kunstvoll und durchaus realitätsfern gestaltet, und nicht einfach nur herbeigesehnt. Formal dagegen folgt „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“ aufs Haar und gewiss nicht zufällig ausgerechnet einem englischen Vorbild: Thomas Grays „Elegy written in a Country Church Yard“ [‚Elegie, geschrieben auf einem Dorffriedhof‘], die im 18. Jahrhundert entstand, rasch in ganz Europa berühmt wurde und endgültig den ‚Klagegesang‘ als Gattungskennzeichen der Elegie festlegte. Grays Gedicht brach radikal mit den bis dahin gültigen antiken Formregeln für eine Elegie und besteht aus vierzeiligen, kreuzweise gereimten Strophen in – ungewöhnlich – fünfhebigen Jamben [ggf. vorzählen]. Genau wie bei Max Herrmann-Neisse. Ein schlesischer Dichter im Londoner Exil beklagt den Verlust seiner deutschen Heimat in Versbau und Strophenform eines Engländers. Wo genau, bitte, liegt Max Herrmann-Neisses Heimat?
Tatsächlich nahmen die Nazis Max Herrmann-Neisse nicht so sehr die Heimat im Sinne eines realen Ortes. Sie nahmen ihm die Möglichkeit, sich weiterhin eine Heimat vorzustellen, von einer Heimat zu träumen und zu dichten, die er, wie er selbst einräumt, nie besaß: „in eine Welt, die mich nicht will, geboren/ mir selbst mit jedem Atemzug zuviel“, heißt es in einem seiner frühen Gedichte. Er, der Abseits stehende, „der Zaungast“, wie er selber schreibt, hatte mit Blick auf das, was er „Heimat“ nannte, nie etwas anderes getan, als „ihr Traumbild zu gestalten“. Was Max Herrmann-Neisse sein lyrisches Sprecher-Ich in der ersten Strophe sagen lässt, ist demnach wörtlich zu verstehen: „Die Heimat klang in meiner Melodie/ ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,/ das mit ihr welkte und mit ihr gedieh“. Denn nur hier konnte existieren, was der Dichter „Heimat“ nannte. In früheren Gedichten, etwa „Verdammnis 1933“, nennt er die Heimat ausdrücklich „Märchen“, sogar „Paradies“. Ein wirklicher Ort ist damit nicht gemeint. Aber selbst dieser Traum wird ihm nun entrissen. Er zerschellt am blutigen Wahn der Zeit. In Deutschland, selbst in Schlesien, wäre Herrmann-Neisse wohl ebenso heimatlos gewesen, wie er es in London war. „Heimat“ ist in seiner Exil-Lyrik von Anfang an ein Nicht-Ort, ein Schön-Ort, eine Utopie, verpflanzt und verwurzelt in den Raum der literarischen Fiktion. Etwas, das sein könnte und nie sein wird. Daher die harmonieseligen, altbackenen, biederen Heimatbilder, die er in seinen Exilwerken verwendet und die wie ungelebte, unbelegte Hohlformeln wirken. Daher aber auch die gespenstischen, machtvollen Metaphern, wie etwa in seinem Gedicht „Heimatlos“, in dem „Heimat“ nichts weiter ist als ein flüchtiger Blick hinter einen fremden Vorhang, den der Sommerwind aufweht und „grausam“, wie es wörtlich heißt, wieder schließt. Heimatlosigkeit vermag Max Hermann-Neisse somit weit treffsicherer dichterisch zu bebildern als Heimat. Heimat wäre dort, wo Menschen freundlich miteinander umgehen könnten. Ob sie es tatsächlich tun, weiß er nicht. Freundlichkeit jedoch war nichts, was es in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren auf der Welt in reicher Form zu finden gegeben hätte. Schon gar nicht für Exilanten. „Heimat“ ist für Max Herrmann-Neisse demnach kein Ort, an dem man lebt, sondern eine Art zu leben. „Abendgiebel“ und „Schwalbenflüge“, die er in „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“ aufzählt, gäbe es schließlich auch in England zu bestaunen, und sogar Glück (das im folgenden Vers bezeichnenderweise völlig unspezifisch bleibt) ließe sich vielleicht erleben, wenn die Menschen anders miteinander umgingen. Liebe, Friedlichkeit und Freundlichkeit, die nicht das exklusive Privileg einer bestimmten Menschengruppe bleiben, sind, überblickt man sein gesamtes Werk, für Max Herrmann-Neisse die Grundbedingungen von Heimat. Die „bösen Triebe“ sind ihr Gegenteil: Hass, Gewalt und Aggression. Liebe, Friedlichkeit und Freundlichkeit sind für Herrmann-Neisse aber auch das Mittel, um die Welt heimatlicher zu machen. Seine Gedichte sollten diese Botschaft in eine wahnsinnig gewordene Welt hinaustragen. Aber sie können es nicht mehr: „Doch hier wird niemand meine Verse lesen/ ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht“. Max Herrmann-Neisses Seelensprache ist nicht einfach Deutsch. Sie ist die Sprache, die die Welt in ihrem Wahn nicht mehr versteht. So werden Leben und Verse in der Tat „Spuk“, der Schatten von etwas Erdachtem, Erträumten, Verjagtem und Zertretenem, der im wahrsten Sinne des Wortes heimatlos umherstreift. Max Herrmann-Neisse ist nicht sentimental. Er weint nicht seiner Heimat nach. Er beweint das Ende aller Heimat auf der Erde. „Heimatfern“ bedeutet in seiner Dichtersprache: hoffnungslos. Er ist ein Dichter der emotionalen Heimatlosigkeit, so wie es nach ihm der große peruanische Dichter César Vallejo war.
Gegen den brüllenden Nationalismus der Nazis setzte Max Herrmann-Neisse einen Heimatbegriff, der von nichts weiter entfernt hätte sein können als von Intoleranz und vaterländischer Gesinnung. Formal gehört sein Gedicht zu den wenigen großen formtreuen Elegien in der modernen deutschen Dichtungsgeschichte. Goethe hatte sich in seinen „Römischen Elegien“ noch bemüht, den altgriechischen Hexameter in die deutsche Dichtungssprache zu überführen. Rainer Maria Rilke in seinen „Duineser Elegien“ oder Bertolt Brecht in seinen „Bukower Elegien“ wählten eigene, innovative Formsprachen. Heute, in einer Zeit, da wiederum eine rassistische Rechte versucht, den Heimatbegriff zu besetzen, Millionen Menschen auf der Flucht sind, weil sie keine andere Wahl haben, und die Klimakrise droht, sämtliche Menschen auf diesem Planeten heimatlos zu machen, ist es mehr als lohnend, Max Hermann-Neisses Exilgedichte kennenzulernen oder neu zu lesen.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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