die waffen nieder

Gibt es Hoffnung für den Sudan?

Erinnerung an die gewaltfrei-libertäre Taha-Tradition

| Lou Marin

Beitragsudan
Demonstration in Atbara, November 2019 - Foto: Abbasher, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

Seit Mitte April 2023 wird in den herrschenden Medien der BRD wieder einmal über den 1956 unabhängig gewordenen Sudan als „failed state“ berichtet, in dem zwei Generäle, Generalleutnant Dagolo (genannt „Hemeti“) und seine Miliz (Rapid Support Forces; RSF), sowie General al-Burhan, noch De-facto-Präsident und Militärbefehlshaber, ihre Armeen in einen Bürgerkrieg treiben. Das heißt, „die meisten Bürger*innen beteiligen sich gar nicht an den Kämpfen, sie sitzen in ihren Kellern, Garagen und Schlafzimmern – und warten ab, ob das Militär ihr Land in den Abgrund reißt.“ (1) Insofern ist das Wort „Bürgerkrieg“ nicht ganz zutreffend, zumal in den Medien in Deutschland kaum genauer über die gewaltfreien Traditionen informiert wird, die es im Sudan gleichzeitig immer gegeben hat und noch gibt. (GWR-Red.)

Ein erneuter, womöglich lang dauernder Krieg, eine Hungerkatastrophe und damit zusammenhängend Fluchtwellen in die angrenzenden Länder, besonders Ägypten, sollte aber nicht das Schicksal der Menschen in diesem Lande sein, die bereits zweimal durch gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen Diktatoren stürzen konnten.

Der Sturz an-Numairis nach der Hinrichtung Muhammad Tahas

Nachdem der ursprünglich nasseristische Jung-Obrist aus dem lange als „links“ eingestuften Lager der „Freien Offiziere“, an-Numairi, im Sudan bereits 1969 geputscht und eine säkulare Ideologie vertreten hatte, wandelte er sich zum islamistischen Militär, der 1984/85 die islamistischen „Hadd“-Strafen einführte. Bei diesen Strafen kam es zu zahlreichen öffentlich durchgeführten Amputationen wegen Diebstahl und Tausenden von Auspeitschungen wegen Alkoholkonsums.
Der 1909 bis 1985 lebende Mahmud Muhammad Taha hatte als Sufi eine theologische Unterscheidung zwischen „kleinem“ und „großem“ Djihad eingeführt und stark über seine Organisation „Die republikanischen Brüder“, unterstützt von Student*innen an der Universität Khartum, verbreiten können. Die Prophetenworte in dessen Lebensphase in Medina wurden von Tahas Theologie dem „kleinen Jihad“ zugeordnet, darunter Krieg und Gewalt. „Er ordnete der medinensischen Phase weiter die Sklaverei, den Kapitalismus, die Scharia und die Unterdrückung der Frau zu. Die in Mekka (oder der mekkanischen Lebensphase des Propheten; L.M.) gepredigten Prinzipien seien dagegen die friedliche Überzeugung, die rechtliche Gleichheit von Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen und die Gleichheit der Geschlechter.“ (2)
Zitate Tahas aus seiner Interpretation der mekkanischen Phase:
„Das grundlegende Prinzip im Islam ist, dass jeder Mensch frei ist. (…) Das grundlegende Prinzip im Islam ist Gemeinschaftlichkeit des Besitzes.“ (3)
Im Laufe der Zeit wurde Taha jedoch aufgrund der zunehmenden Popularität seiner Theologie zur Bedrohung an-Numairis, von diesem mit Unterstützung der islamistischen „Muslimbrüder“ des Sudan als Ketzer verfolgt, schließlich festgenommen und am 18. Januar 1985 wegen Ketzerei (offiziell „Apostasie“; L.M.) am Galgen im Khartumer Kôbar-Gefängnis hingerichtet.

Im April 2019 kam es zu von Frauen getragenen Massenprotesten gegen den Ausnahmezustand. Auf diesen Druck wurde der Völkermörder in Darfur, al-Bashir, aus dem Amt geputscht.

„Die Exekution Tahas führte im März und April 1985 zu einem massenhaften, von gewerkschaftlichen Kampfmitteln, das heißt Streiks und Demonstrationen, geprägten Aufstand, der letztlich während einer Auslandsreise an-Numairis in einen innermilitärischen Putsch von an-Numairi-Gegnern und damit in die Absetzung des Diktators am 6. April 1985 mündete. (…) Khalid Duran berichtet sogar über eine während des Massenaufstands erfolgte Gefängnisstürmung und ‚Galgenbesetzung‘ zu Ehren Tahas. (…) ‚Für die Sudanesen ist dieser Ort zu einer nationalen Gedenkstätte geworden.‘“ (4)
Die auf diesen Erfolg einer gewaltfrei-revolutionären Massenbewegung folgende demokratische Phase im Sudan dauerte jedoch nur vier Jahre bis 1989, bis zum nächsten Putsch durch die islamistischen al-Bashir-Militärs, deren Dschandschawid-Milizen dann den Genozid in Darfur maßgeblich verübten. Schon damals hieß deren Chef Mohamed Hamdan Dagolo (Spitzname „Hemeti“). (5)

Der gewaltfreie Aufstand von 2019

Am 22. Februar 2019, nach 30 Jahren Herrschaft, verhängte das al-Bashir-Regime den Ausnahmezustand und setzte erneut das Militär als oberste Macht im Lande ein, nachdem es zuvor in mehreren sudanesischen Städten zu Protesten gegen gestiegene Lebenshaltungskosten gekommen war. Die Proteste wurden stark von Frauen getragen, die auch als selbstbewusste Rednerinnen bei Demos und Kundgebungen auftraten. Zu ihnen gehörte auch die Aktivistin Shadin Alfadil. Am 6./7. April 2019 kam es zu von Frauen getragenen Massenprotesten gegen den Ausnahmezustand. Auf diesen Druck wurde der Völkermörder in Darfur, al-Bashir, aus dem Amt geputscht. Die Proteste gingen jedoch weiter und ein inzwischen eingerichteter „Militärischer Übergangsrat“ wurde zum bedingungslosen Rücktritt aufgefordert. Das Hauptquartier der Armee in Khartum wurde mehrere Wochen mit zivilem Ungehorsam blockiert. Am 3. Juni 2019 töteten die Hemeti-Milizen und andere Militärs aus dem Übergangsrat 118 Menschen und schossen die Blockade nieder. Als Antwort kam es vom 9.-11. Juni 2019 zum Generalstreik. Es gab zahlreiche Aufrufe zum zivilen Ungehorsam, bis es zu einem vorläufigen Abkommen am 17. Juli 2019 kam und ein Rat aus Vertretern des Militärs und der Protestbewegung gebildet wurde. (6)
Die heutigen kriegerischen Auseinandersetzungen gingen aus Spaltungen unter den Militärs und Milizen dieses Rats hervor und zeigen wieder einmal, dass es in sozialen Bewegungen keine zivilgesellschaftlichen Kompromisse mit zuvor mörderisch gewordenen Militärs geben darf. Der hohe Frauenanteil der Proteste von 2019 – Quellen sprechen von rund 70 Prozent Frauen unter den 
Demonstrant*innen – lässt sich zum Teil ebenfalls auf die Taha-Tradition zurückführen. Selbstbewusste Rednerinnen auf Demos fielen durch ihre weiße Kleidung auf, die in der Tradition der Republikanischen Schwestern um die Taha-Tochter Asma Mahmud steht, die sich nicht nur als Theologin, sondern auch als Feministin im Kampf gegen die Scharia-orientierten Sitten, die vor allem auf dem Lande noch bestehen, verstand. Noch am Ende seiner Lebenszeit hieß es zu Taha: „Obwohl Taha zweifellos die charismatische Führungsperson der Bewegung war, hielt er sich zunehmend bei Diskussionen zurück, moderierte nur, rief zu gegensätzlichen Meinungsäußerungen auf und förderte ab 1975 vor allem die Diskussionsfähigkeit von Frauen, die bald als ‚Republikanische Schwestern‘ – um diese Zeit (Anfang der 1980er-Jahre; L.M.) waren ca. 200 der rund 1000 ‚Republikanischen Brüder‘ Schwestern – frei in der Öffentlichkeit diskutierten, Rednerinnen bei Massenversammlungen waren sowie unabhängig von ihren Familien in ‚Republikanischen Häusern‘ lebten – eine im sudanesischen Kontext geradezu unglaubliche Revolutionierung der patriarchalen Tradition.“ (7)
Die feministischen Rednerinnen in ihren weißen Umhang-Kleidern grenzten sich an der Khartumer Universität sowohl von den westlichen Modernisiererinnen als auch von den islamischen Traditionalistinnen ab.

Organisationsversuche unter den aktuellen Bedingungen der militärischen Konfrontation

Zu dieser feministischen Tradition, die auch als frauenpolitisches Empowerment bezeichnet werden könnte, zählt auch die jüngst vom ‚Spiegel‘ interviewte Aktivistin 
Shadin Al-
fadi, die eindrücklich die Bedingungen und die Notlage schildert, unter der sie die aktuellen Kämpfe der beiden Militärformationen erlebt:
„Das Schießen wird immer wahlloser. Man muss nicht neben einer Militärbasis oder einem Flughafen wohnen, um zum Opfer zu werden. Die Rapid Support Forces (RSF) haben ihre Fahrzeuge und Kämpfer inzwischen gezielt in den Wohnvierteln positioniert. Sie versuchen, die Bevölkerung als Schutzschild zu missbrauchen. Gleichzeitig schießen sie selbst wahllos um sich. Ich weiß nicht, ob aus Frustration oder um gezielt Chaos zu stiften. Sie setzen nicht nur Maschinengewehre ein, sie feuern schwere Waffen in Wohnvierteln ab, das ist eine riesige Gefahr für die Bevölkerung. Die Menschen haben keinen Zugang zu Krankenhäusern, die Toten werden nicht gezählt. Aus der Innenstadt hat jemand berichtet, dass dort schon seit Samstag Leichen rumliegen, keiner kann raus, um sie zu identifizieren oder ins Krankenhaus zu bringen.“ (8) Sie prangert schonungslos die Strategie der Kompromisse mit den Militärs von 2019 an und fordert, Konsequenzen daraus zu ziehen, die nur auf eine verstärkte Eigenständigkeit gewaltfreier und zivilgesellschaftlicher Bewegungen hinauslaufen können: „Ich bin auch sauer auf die zivilen politischen Kräfte im Sudan, weil sie in den vergangenen Monaten versucht haben, den RSF-Anführer Hemeti an sich zu binden. Sie wollten damit Druck auf die Armee ausüben, um ihre Forderungen für eine zivile Regierung durchzusetzen. Aber Hemeti führt eine Miliz an. Es ist ein großer Fehler, den Übergang zur Demokratie in seine Hände zu legen. Hier geht es um Prinzipien. Eine Miliz und Demokratie passen nicht zusammen.“ (9)
So kann daran gearbeitet werden, dass auch im bürgerkriegsbedrohten Sudan wieder Hoffnung entsteht. Sie basiert auf der Erinnerung an bereits gewonnene gewaltfreie Kämpfe und die konkrete Erfahrung, dass Siege gegen das Militär und die Islamist*innen möglich waren:
„Wir als Zivilgesellschaft, als Aktivistinnen, müssen jetzt den Leuten helfen. Wir bauen Unterstützungsnetzwerke auf für die Menschen in den einzelnen Stadtvierteln. Wir haben WhatsApp-Gruppen für Frauen gegründet, damit sie sich gegenseitig unterstützen können, wenn sie schwanger sind oder ihre Periode haben, wenn sie Kinder mit besonderen Bedürfnissen versorgen oder wenn ihnen die Lebensmittel ausgegangen sind. Über diese Gruppen können sich Menschen in der Nachbarschaft über ihre Notlagen informieren, dann wird Hilfe in der Nähe organisiert.“ (10)

(1) Bernd Dörries: „General gegen General. Im Sudan kämpfen zwei konkurrierende Armeen um die Macht. Dutzende Menschen sterben“, in: Süddeutsche Zeitung, 17.4.2023, S. 7.
(2) Lou Marin: Der gewaltfreie Aufstand gegen die islamistische Militärdiktatur im Sudan (1983-1985), in: Guillaume Gamblin, Pierre Sommermeyer, Lou Marin (Hg.): Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-revoluitionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die „Republikanischen Brüder“ im Sudan 1983-1985, Heidelberg, Verlag Graswurzelrevolution, 2018, S. 96-141, hier S. 108.
(3) Mahmud Taha, zit. nach: ebenda, S. 108, a.a.O.
(4) Lou Marin, ebenda, S. 133f.
(5) Vgl. Sudan-Artikel auf GWR-Website vom 22.2.2019, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2019/02/der-sudan-erneut-im-kampf-gegen-die-tyrannei/ .
(6) Siehe wikipedia-Eintrag: Proteste im Sudan 2019-2019, vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_im_Sudan_2018%E2%80%9319 .
(7) Lou Marin, ebenda, S. 139.
(8) Interview von Heiner Hoffmann mit Shadin 
Alfadil, in: Spiegel-online, 18.4.23.
(9) Shadil Alfadi, ebenda, a.a.O.
(10) Shadil Alfadi, ebenda, a.a.O.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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