Klassische Musik – politische Aktion

Freisprüche für Lebenslaute

| Gerd Büntzly

Seit 1986 führt die offene Musik- und Aktionsgruppe Lebenslaute mit Ensembles zwischen drei und über hundert Musiker:innen bei öffentlichen Auftritten klassische Musik und zivilen Ungehorsam zusammen. (1) 2014 wurde die Arbeit von Lebenslaute zusammen mit der US-amerikanischen Graswurzelbewegung Code Pink – Women for Peace mit dem Aachener Friedenspreis gewürdigt, der jährlich am 1. September, dem Antikriegstag, überreicht wird. Anzeigen gegen die gewaltfreie Aktionsgruppe hat es seit vielen Jahren nicht gegeben, nicht von Rheinmetall in Unterlüß, nicht einmal vom Bundesamt für Verfassungsschutz, das Lebenslaute 2018 blockiert hat. Einzig der mächtige Klimakiller RWE hat auf juristischer Verfolgung bestanden. (GWR-Red.)

Von den ca. 80 Personen von Lebenslaute, die im Jahr 2021 in den Tagebau Garzweiler II eingedrungen sind, um dort Musik zu machen, standen bisher nur eine Handvoll vor Gericht. Im Endeffekt wurden alle vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen, aber die Verfahren machten zum Teil kuriose Umwege. Gleich die ersten drei Personen, die am selben Tag in Rheydt hintereinander bei demselben Richter Termin hatten, wurden mit einer ungewöhnlichen und politischen Begründung freigesprochen. Sie seien berechtigt, ihr Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wahrzunehmen, das wenige Monate zuvor ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimawandel stand Pate. Außerdem, so äußerte der Richter, habe RWE mit seinem Tagebau über Jahrzehnte so massiv in das Hausrecht zahlreicher Menschen eingegriffen, dass sie sich die kurzzeitige Einschränkung des Lebenslaute-Konzerts gefallen lassen müssten.
Wer sich das nicht gefallen ließ, war die Staatsanwaltschaft, sie ging in Berufung, und die drei wurden zu Geldstrafen verurteilt. In der Revision wurden aber vom Oberlandesgericht andere Maßstäbe angebracht und empfohlen, das Thema nicht zu hoch zu hängen. Daraufhin gab es vom Amtsgericht Rheydt, an welches die Verfahren zurück verwiesen worden war, Freisprüche mit dem Argument, das Gelände von RWE sei gar nicht richtig umfriedet gewesen.
Heftig waren die Urteile im Fall zweier Personen, die bereits früher wegen ähnlicher „Delikte“ verurteilt worden waren: 80 bzw. 120 Tagessätze standen im Raum. Auch hier gab es aber im Endeffekt Freisprüche. Mitglieder von „Ende Gelände“, die 2019 im Tagebau waren, konnten im Endeffekt von diesen Verfahren profitieren, auch sie wurden freigesprochen. Weitere Verfahren, z.B. das gegen einen Fotografen, der mit Lebenslaute auf das Gelände gegangen war, endeten mit einer Einstellung.
Die Argumentation vor Gericht bezog sich immer wieder auf die Verbrechen von RWE am Klimaschutz und an der Umwelt, wobei auch das seit 2021 tagende RWE-Tribunal erwähnt wurde, eine gesellschaftspolitische Initiative, die in Lützerath, Düsseldorf, Köln und Essen getagt hat und auf Youtube nachzuhören ist. Ein Musiker, schon in höherem Alter, mühte sich sehr, seine klimapolitische Glaubwürdigkeit zu unterstreichen und beschrieb, dass er, um einen jungen Baum im Garten zu bewässern, nur noch Spülwasser nehme (natürlich indem er auf Spülmittel verzichtete). Leider habe er aber feststellen müssen, dass diese Quelle nicht ausreichend gewesen und der Baum schließlich eingegangen sei. Das alles beschrieb er sehr detailliert, und das Gericht hörte mit großer Geduld zu, weil seine Aufrichtigkeit erkennbar war.
Wie es mit den anderen Verfahren weitergeht, ist noch nicht definitiv geklärt. Da das Gelände, das RWE in eine Wüste verwandelt hat, ungeheuer groß ist, waren gleich drei Staatsanwaltschaften zuständig. Die eine schrieb die Leute an: Wenn sie 10 Euro zahlten, werde das Verfahren eingestellt. Fast alle haben das gemacht, aber auch die wenigen, die nicht reagiert haben, hatten keine Nachteile. Die zweite Staatsanwaltschaft verlangte 300 Euro Bußgeld, welches an eine Umweltschutzorganisation zu zahlen sei, die dritte verschickte Strafbefehle über 900 Euro. Auch diese krassen Unterschiede der juristischen Einschätzung der Lebenslaute-Aktion mögen die höheren Richter zu ihrer Empfehlung bewogen haben, den Ball flach zu halten. Im Übrigen boten alle Verfahren Gelegenheiten für Mahnwachen vor den Gerichten in Rheydt, Mönchengladbach und Grevenbroich, verbunden mit Musik und Gesang.
Es entsteht der Eindruck, dass man nun solche Prozesse gern „versöhnlich“ vom Tisch haben möchte, nachdem mit Lützerath ein weltweit bekanntes Symbol des Kampfs gegen fossile Energiegewinnung vernichtet werden konnte. Und so war auf einmal der Hausfriedensbruch keiner, weil in der Tat die Lebenslaute-Musiker:innen durch Lücken in der Umwallung des Tagebaus in diesen eingestiegen waren.
Lebenslaute wird in diesem Jahr vor den Toren des Militärgeländes bei Nörvenich musizieren: Dorthin sind die Tornado-Flugzeuge umgezogen, da Büchel umgebaut werden soll. Die Atombomben bleiben ein Thema von schrecklicher Aktualität.

(1) Siehe: Lebenslaute (Hg.), Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2020. 21 × 28 cm, 247 Seiten, 180 Fotos. ISBN 978-3-939045-39-7

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