In der schweizerischen 5.000-Einwohner*innen-Kleinstadt Saint-Imier kamen vom 19. bis 23. Juli 2023 ebenso viele Anarchist*innen aus verschiedensten Weltregionen zusammen, wie dieser „Ursprungsort des Anarchismus“ an Wohnbevölkerung zählt. Der Anlass war der 150. Jahrestag der Gründung der Antiautoritären Internationale – man muss dies betonen vor dem Hintergrund der geschilderten Ereignisse.
Was ist eigentlich Anarchie? Für mich jedenfalls gehört zu den verbindenden Essentials des ansonsten sehr heterogenen anarchistischen Spektrums eine Herrschafts- und Staatskritik, samt entschiedener Kritik der damit einhergehenden Gewaltverhältnisse, die zum Beispiel bei Militarisierung und Militarismus offensichtlich sind. Darin grenzen sich anarchistische Theorien und Handlungsweisen von anderen sozialistischen Bewegungen ab, die autoritärer verfasst sind und oft ein idealistisches Verständnis des Staates haben, indem sie beispielsweise in Krisenzeiten den Staat wieder als vermeintliche Rettungsinstanz anrufen oder gar einen autoritären, etatistischen „Sozialismus“ anstreben.
Anarchistischer Märtyrer-Kult?
Wenigstens habe ich diese grundsätzliche Differenz bisher so wahrgenommen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine scheint sich dies geändert zu haben. So waren auf der anarchistischen Buchmesse, die im Rahmen der Veranstaltung in Saint-Imier stattfand, Porträts von im Krieg kämpfend umgekommenen Anarchisten im Goldrahmen zu sehen. Und an den russischen Anarchisten Dmitri Petrow, der im Ukrainekrieg den Tod fand, erinnerte eine Schweigeminute. Im Gegensatz zu Plakaten, die sich klar gegen jeden Krieg und Militarismus positionierten, wurden die heroisierenden Porträts der in einer nationalistischen Armee dienenden und als „Gefallene“ verklärten „Anarcho“-Soldaten bis zum Ende der Messe nicht entfernt.
Der Anspruch, selbst antiautoritär zu agieren, andere Ansichten nicht ausgrenzen und nicht-hierarchisch debattieren zu wollen, schaffte in St. Imier gerade Feinden der Freiheit einen Rahmen für machtvolles Agieren.
Ja, Antimilitarismus hatte es schwer in Saint-Imier. „Gefallene im Kampf gegen den russischen Imperialismus und für die Anarchie“, das war auf einem großen Transparent zu sehen, an einer Wand in der Eissporthalle, in der die anarchistische Buchmesse stattfand. Doch Soldaten fallen nicht, sie morden, und sie werden ermordet. Der Begriff „Gefallene“ dient zur Verharmlosung und Glorifizierung des staatlichen Mordhandwerks. Diese Erkenntnis ist im Anarchismus des Jahres 2023 aber offenbar nicht mehr vorauszusetzen. Und seit wann tragen Menschen, die bewaffnet in Uniform innerhalb einer staatlichen Armee kämpfen, etwas für die Anarchie bei? Ist eine Armee nicht Herrschaft in Reinkultur – und war dies nicht ein Kongress, der der Erinnerung (und Perspektive) des antiautoritären Erbes dienen sollte? „Krieg ist der Mord auf Kommando“, so fasst ein Buchtitel des in St. Imier mit Veranstaltungen und einem Büchertisch vertretenden Verlags Graswurzelrevolution die anarchistisch-antimilitaristische Position treffend zusammen.
Über 400 Diskussionen und Workshops fanden in Saint-Imier statt, darunter auch eine von mir angebotene Debatte unter dem Titel: „Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive“. Der Titel sollte für sich sprechen, es ging mir darum, auszuloten, welche Alternativen zu immer weiteren Lieferungen von militärischen Mordwerkzeugen antimilitaristische Initiativen formulieren und praktizieren könnten. Ohne Nennung sowohl des Vortragstitels wie auch meines Namens fand diese Diskussionsveranstaltung auch eine mediale Erwähnung, nämlich auf Swissinfo, der schweizerischen öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Informationsplattform (1). Dass es um meine Veranstaltung geht, wird aus verschiedenen Rahmeninformationen deutlich (die Personenzahl und der Umstand, dass ich eine Buchpublikation vorbereite, sind beispielsweise immerhin richtig).
Der Journalist Benjamin von Wyl geht in seinem Artikel zunächst auf die Geschichte des Anarchismus und die besondere Rolle von Saint-Imier sowie den Anarchismuskongress 2023 ein, bevor er Kurs nimmt auf den Krieg in der Ukraine. Dass von Wyl dabei auf Seiten eines militärischen Kampfes gegen Russland steht, wird deutlich anhand seiner kurzen Beschreibung einer Podiumsdiskussion zum Thema. Im Anschluss schlägt er den Bogen zu meiner Veranstaltung – und meint dabei, mir „Falschinformationen zu Selenski“(!) unterstellen zu können. Allerdings ist es von Wyl, der die Falschinformationen produziert. So habe ich nicht gesagt, dass Selenskyj sich an Waffenlieferungen bereichere. Das hat von Wyl erfunden. Auch habe ich nicht gesagt, dass der Krieg mit gigantischen NATO-Manövern begann. Vielmehr sagte ich, dass durch die Politik von NATO und EU (Osterweiterung, Ausschlagen von russischen Gesprächsangeboten etc.) sowie die Manöver Putin bewusst provoziert wurde, wobei ich betonte, dass dies selbstverständlich keinen Angriffskrieg rechtfertigt.
Von Wyl, der schweigend Vortrag und Diskussion über sich ergehen ließ, ohne Wortmeldung oder Nachfrage, hat nicht einfach nur schlecht zugehört. Nein, er gehört zu den Journalist*innen, die einen bewusst falsch verstehen wollen. Es wirkt wie eine Realsatire, dass ausgerechnet von Wyl bei Swissinfo für Demokratie-Themen, insbesondere für direkte Demokratie, zuständig ist. Absurd ist, dass er die „Kehrseite eines offenen Programms ohne Einschränkungen“ betont. Denn die Kuratoren, die er bei diesem Kongress vermisst, die vermisst er eben nicht bei den Anarchist*innen, die Waffengewalt befürworten. Nein, einzig angesichts meines Vortrages, der eben nicht nur gegen den in der Tat imperialistischen Aggressor Russland wetterte, sondern kritische Positionen auch gegenüber Deutschland, EU, NATO, USA und der Ukraine bezog und diese Positionen auch begründete. Nur da vermisst von Wyl das kuratierende Element. Offensichtlich vermisst er die Zensur – und kreidet es den Veranstaltenden an, dass ich überhaupt reden durfte.
So erfüllt sein Text eine Funktion: Menschen, die antimilitaristische Positionen beziehen – hier an meinem Beispiel –, als durchgeknallt darzustellen. Um das zu erreichen, scheut er nicht vor abenteuerlichsten Verrenkungen zurück, auch nicht vor offenen Lügen. Man hat mir nicht die Gelegenheit gegeben, diesen Swissinfo-Text vorab zu lesen, von Wyl sprach mich auch nicht im Anschluss an die Veranstaltung an, sondern verzog sich so wortlos, wie er gekommen war. Man ließ mir den Text auch nachträglich nicht zukommen, setzte mich nicht einmal davon in Kenntnis. So werden viele swissinfo-Leser*innen nun glauben, was von Wyl ohne jede Korrekturmöglichkeit meinerseits an verbalen Erfindungen in die Welt gesetzt hat. An diesen Lügen hätte die von dem 2020 übrigens als „Top-30 unter 30-Journalist ausgezeichneten Autor vorgeblich gewünschte Moderation nichts geändert.
Denn der Verweis auf Moderation ist nur von rhetorischer Funktion, um das freie Rederecht zu kritisieren, das ich in Saint-Imier ausüben durfte. Dass das Publikum am Geäußerten „kaum Zweifel“ gehabt haben soll, ist übrigens ebenso unwahr, es gab im Gegenteil eine kontroverse Diskussion, bei der man sich allerdings – selten genug bei diesem Thema – ausreden ließ. Diese Diskussion kann von Wyl nicht entgangen sein, da er selbst im Publikum saß. Das wahrheitsgemäß zu berichten hätte aber seiner „Beweisführung“ geschadet, dass Antimilitarist*innen im Gegensatz zu den Befürworter*innen militärischer Einsätze grundsätzlich „Falschinformationen“ aufsitzen, die auf russische Propaganda zurückgingen, also aus dem Kreml gesteuert sind. Falschinformationen sind kein Privileg der russischen Seite, sondern reihen sich auch in von Wyls Text aneinander.
Dass sich Falschinformationen – ironischerweise als Warnung vor Falschinformationen ausgegeben – so unwidersprochen verbreiten können, verweist auch auf das Fehlen von emanzipatorischen Gegenmedien mit großer Reichweite – früher sprach man von Alternativmedien, aber vielleicht ist der Begriff des Alternativen nun im Zeitalter von alternativen Fakten und Parteien, die das Alternative im Namen führen, auch schon desavouiert.
Dass sich allerdings auf einem anarchistischen Kongress Menschen, die einen Krieg im Namen staatlicher Logiken (und nicht zuletzt im Namen von geopolitischen Machtkämpfen und Kapitalinteressen) befürworten oder gar daran teilnehmen, so viel Raum verschaffen konnten, verweist auf ein Manko des Anarchismus. Der Anspruch, selbst antiautoritär zu agieren, andere Ansichten nicht ausgrenzen und nicht-hierarchisch debattieren zu wollen, schaffte in St. Imier gerade Feinden der Freiheit einen Rahmen für machtvolles Agieren. Und straff organisierte, in Staatsarmeen integrierte militärische Einheiten kann ich eben nicht anders nennen als Feinde einer freiheitlich-sozialistischen, herrschaftsfreien Gesellschaft.
Ja, machtvoll: Wo die antimilitaristisch gesonnenen Menschen in Saint-Imier Scheu hatten, Militärpropaganda schlicht zu entfernen und damit den offenen Konflikt vermieden, trat die militaristische Fraktion wortgewaltig auf und hatte keinerlei Skrupel, Antimilitarist*innen verächtlich zu machen und antimilitaristische Plakate abzureißen. Was mit dazu beitrug, dass die Perspektive der sozialen Revolution gegenüber militaristischen Statements viel zu wenig Platz fand auf diesem – antiautoritären – Kongress. Insofern hat von Wyl mit seiner Kritik an einem offenen Programm ohne Einschränkungen sogar recht, wenn auch ganz anders, als er selbst es intendiert. Auch dies ist eine Ironie seines Beitrages.
(1) https://www.swissinfo.ch/ger/politik/-sabotage-ueberall---am-ursprungsort-des-globalen-anarchismus/48684968
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.