Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?

Aus: "Graswurzelrevolution. Zeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft" Nr. 7, 1974

Gwr007

Vor 50 Jahren putschte mit Hilfe der USA das Militär in Chile. Der 1970 demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben, nachdem die Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda bombardiert hatte und Soldaten in den Palast eingedrungen waren. Zigtausende Linke wurden verhaftet und gefoltert. Amnesty International schätzt, dass 30.000 Menschen alleine im ersten Jahr der bis 1990 wütenden Pinochet-Diktatur ermordet wurden. Der folgende Artikel wurde 1974 in der Graswurzelrevolution Nr. 7 veröffentlicht.

 

Viele Gruppen auf der Linken haben den blutigen Militärputsch in Chile zum Anlaß genommen, einmal mehr die Unmöglichkeit und Vergeblichkeit des „friedlichen Wegs“ zum Sozialismus zu konstatieren. Wir haben den Eindruck und wagen zu behaupten, daß dieser Schluß zumindest voreilig gezogen wurde und wird, daß ihm eine Unkenntnis und Unterschätzung gewaltfreier Kampftechniken zugrunde liegt. Diese Behauptung wird jedenfalls durch die Tatsache gestützt, daß diese Gruppen parlamentarischen Weg (also die Politik Allendes) und friedlichen Weg unkritisch gleichsetzen und die Möglichkeiten einer gewaltfreien revolutionären, jenseits von Parlamenten und etablierten Parteien sich formierenden Gegenmacht von unten nicht sehen.

Die Politik der Unidad Popular wird im allgemeinen als der schlechthin „friedliche Weg zum Sozialismus“ dargestellt. Zwar führte Allendes Weg über die Wahlurne und das Parlament – insofern kam er ohne einen gewaltsam-revolutionären Akt an die Regierung, aber ist damit automatisch bewiesen, daß „friedlicher Weg“ gleichzusetzen ist mit der Eroberung der Parlamentsmehrheit? Oder gibt es keine revolutionär-gewaltfreie Alternative? Diese Frage wird von denen, die vom wohlbehüteten Schreibtisch aus jetzt auf Kosten der chilenischen Massen Gewalt predigen, erst gar nicht gestellt.

Uns ist keine zufriedenstellende Analyse des friedlichen (d. h. parlamentarischen) Versuchs der Volksfront bekannt, den Sozialismus in Chile einzuführen. Aber auch die gewaltfreie Bewegung in der BRD hat die Analyse des chilenischen Experiments, während es noch im Gange war, vernachlässigt – sind wir doch jeder „revolutionären“ Strategie gegenüber skeptisch eingestellt, die – durch Wahlen oder andere Mittel – nach der Staatsmacht strebt.

Nach unserer Auffassung muß die gewaltfreie Revolution auf der Eigenaktivität des Volkes basieren. Manchmal wird dies eine allmähliche eigenständige Reorganisierung der Gesellschaft von den „Graswurzeln“ her sein, manchmal jedoch wird sie voller Erschütterungen sein. Die Revolution wird massive Kämpfe mit sich bringen, oft wird sie aufrührerische Formen annehmen wie Streiks, Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen der Nicht-Zusammenarbeit und ziviler Usurpation. Die Gegenstrukturen, die im Verlauf von gewaltfreien Kämpfen gebildet werden, sollten die Strukturen der Gesellschaft, die wir verwirklichen wollen, schon vorher formen. Durch diese Strukturen – z. B. Stadtteilkomitees oder Arbeiterräte – wird das Volk lernen, Initiative zu ergreifen und sein Leben selbst zu organisieren.

Dies ist in Chile viel zu spät und nur im Ansatz erkannt und praktiziert worden. Nachdem das Volk jahrelang durch Wahlen und parlamentarische Eiertänze irregeführt und abgelenkt worden war, erwachte das Mißtrauen der Arbeiterklasse gegenüber bürgerlichen Institutionen wie Parlament, Justiz und Armee erst Jahre nach dem Wahlsieg Allendes und nahm erst Monate vor dem September-Putsch – viel zu spät – organisatorische Formen in den Arbeiter- und Bauernräten an.

Eine gewaltfreie Revolution, wie wir sie sehen, muß sich auf diese wirklich öffentlichen Formen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation gründen. Dies ist mit dem parlamentarischen Weg grundsätzlich unvereinbar. Die Partei kommt durch ein System zur Macht, in dem Leute überredet werden, sich regieren zu lassen und auf ihre Selbstorganisation und Eigenverantwortung regelmäßig zugunsten von „gewählten Vertretern“ zu verzichten.

Im parlamentarischen Sozialismus werden Veränderungen nicht auf die revolutionäre Praxis des Volkes gegründet, sondern werden außerhalb seiner Reichweite entworfen und zu Gesetzen gemacht. Das Volk übernimmt nicht die Produktionsmittel; vielmehr übernimmt der Staat „für das Volk“ durch Verstaatlichung und wird dadurch seinerseits zum Arbeitgeber. Unter Umständen wird eine Partei die Eigenaktivität des Volkes innerhalb gewisser Grenzen zu fördern suchen – wie in China. Voksfrontregierungen lähmen in der Tat oft Kämpfe des Volkes, die unabhängig von der Regierungsmaschinerie, und oft gegen diese gerichtet, stattfinden wie etwa Fabrikbesetzungen.

Es kann nicht darum gehen, Allendes zweifellos hohe Verdienste und Bemühungen zu schmälern. Doch in der Bedrängnis durch die Opposition feindlich gesinnter Industriegesellschaften (USA, England, BRD), imperialistischer Regierungen und der einheimischen Bourgeosie war der parlamentarische Sozialismus eine unrealistische Strategie. Was er allenfalls zu bewirken in der Lage war, war gegenüber den Gegnern Zeit zu schinden und damit unweigerlich Chiles Sozialismus zu verwässern. Auf diese Weise wiederholte Allende eine Entwicklung, wie sie von sozialdemokratischen Bewegungen in Europa in ähnlicher Weise vollzogen wurde und wird. Den parlamentarischen Weg beschreiten heißt, eine Bewegung vom Volke absondern, was die Führer der Bewegung wiederum veranlasst, ihre eigene „politische Gewandtheit“ höher zu bewerten als die revolutionäre Energie und Entschlossenheit des Volkes.

Trotzkisten und Maoisten bringen ebenfalls eine allgemeine Kritik des bürgerlich-parlamentarischen Weges vor, die der unsrigen im Wesentlichen ähnelt. Auch sie sehen die Zerbrechlichkeit eines sozialistischen Regimes, das vorübergehend einen bürgerlichen Staat regieren muß. Darum beharren sie mit Lenin auf der Notwendigkeit eines „proletarischen Staates“ um die Kräfte der Konterrevolution zu unterdrücken; mit Mao auf der Zweckmäßigkeit, das Volk zu bewaffnen; und mit Che auf der vorrangigen Bedeutung, die Armee der herrschenden Klasse zu vernichten.

Wir meinen: das Volk HAT bereits die Mittel, die Revolution zu tragen. Wenn die Revolution wirklich das Werk des Volkes ist und seine Bestrebungen wiedergibt, wenn die revolutionären Organisationsformen wirklich direkt und partizipatorisch sind, wenn das Volk sich diese Formen selbst geschaffen hat, dann wird seine Solidarität genügen, im unbewaffneten Widerstand zu bestehen. Es ließe sich Beispiel für Beispiel aufreihen, angefangen von den Kosaken, die Befehlen keine Folge leisteten und 1917 in Petrograd sogar auf die Seite der Revolution überliefen bis hin zu den Armeen des Warschauer Paktes, die während des Einmarsches 1968 in die CSSR nach nur ein paar Tagen ersetzt werden mussten, um zu zeigen, daß Soldaten als Agenten der Repression ungeeignet sind, entweder weil sie von den revolutionären Massen unzuverlässig gemacht wurden oder sich ihnen unbewaffnete Kämpfer durch die Methoden der Nicht-Zusammenarbeit und des Massenungehorsams erfolgreich widersetzt haben.

Allende stürzte nicht, weil das chilenische Volk unbewaffnet war, sondern weil seine Art von Sozialismus nicht das Produkt der Aktivität des Volkes war.

Aber mit der Bewaffnung des Volkes wird die ganze Kette konterrevolutionärer Dynamik in Bewegung gesetzt: dezentralisierter Guerrilla-Kampf weicht in wachsendem Maße konventionellen Formen der Kriegführung und organisatorische Strukturen, die für den Militarismus charakteristisch sind, werden in die revolutionäre Bewegung eingebettet. Da Waffentechnik und Bewaffnung immer hochentwickelter werden und damit dem gemeinen Volk immer weniger zugänglich sind, wird die Kontrolle in einer Gruppe (Elite) konzentriert, die über die Verteilung verfügt; diese Gruppe wiederum gerät in Abhängigkeit von auswärtigen Lieferquellen. Und solche Abhängigkeiten werden dann nach außen als „proletarischer Internationalismus“ verklärt.

Wir setzen dagegen: die Völker der Dritten Welt müssen das Recht haben und die Möglichkeit haben, ihre eigene Revolution selbst zu kontrollieren. Unsere Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt muß in erster Linie darin bestehen, ihnen die Last des imperialistischen Westens vom Rücken zu nehmen, d. h. die herrschende Gewalt zu mindern, gegen die sie sich zur Wehr setzen; und das dadurch, daß wir im eigenen Land den revolutionären Kampf aufnehmen.

Übersetzt aus „Peace News" vom 9. November 1973. Ein(e) Verfasser(in) wurde nicht genannt.