so viele farben

Der größte anarchistische Kongress des 21. Jahrhunderts

St. Imier – sehr gut organisiert, aber mit Problemen. Ein subjektiver Erfahrungsbericht

| Chemix

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Foto: Vera Bianchi

Vom 19. bis 23. Juli 2023 fand in St. Imier der bisher größte anarchistische Kongress des 21. Jahrhunderts statt. Mehr als 5.000 Anarchist*innen trafen sich vom 19. bis 23. Juli 2023 in Saint-Imier in der Schweiz, um gemeinsam den 150. Jahrestag des Kongresses von Saint-Imier zu begehen. Im September 1872 wurde in dem Uhrmacherstädtchen die Antiautoritäre Internationale gegründet, ein Ereignis, das als Geburtsstunde des organisierten Anarchismus gilt. Auf den folgenden Seiten schildern Anarchist:innen ihre subjektiven Eindrücke und benennen auch Probleme, die es gab. Einen weiteren Diskussionsbeitrag, der in der Druckausgabe keinen Platz mehr gefunden hat, haben wir für Euch auf graswurzel.net gestellt. (GWR-Red.)

Nach langer Fahrt kamen wir an. St. Imier zeigte sich uns als malerischer Ort, in einem Tal, umringt von Bergen. Ich war gespannt auf das Treffen von Anarchist*innen aus aller Welt.
An der Eissporthalle, wo die anarchistische Buchmesse stattfinden sollte, luden wir aus und bauten unseren Stand auf. Danach fuhren wir ans andere Ende der Stadt, wo wir in einer Gymnastikhalle sehr komfortabel untergebracht waren, es gab Matratzen und sogar eine Dusche. Es gab ein Programm von rund 400 Workshops, die oft überfüllt waren und meist problemlos abliefen.
Negativ war allerdings, dass die Themen der Workshops nur online einsehbar waren. Ich hätte es besser gefunden, wenn es eine Auflistung in Schriftform gegeben hätte, mit Angaben wo die Workshops stattfinden, da die Orte über die ganze Stadt verteilt waren. Allerdings war es fast das Einzige, was formal zu bemängeln war. Um es vorweg zu nehmen: Das Essen war sehr gut! Die Organisation war sehr gut, auch die langen Schlangen, die sich bildeten, lösten sich überraschend schnell auf. Es scheint auch bei libertär-sozialistisch gesinnten Menschen nicht ohne Schlangen abzugehen, ob beim Essen oder den Toiletten.Die Workshops waren vielfältig, wenn auch einige für mich wegen der Sprachbarriere nicht in Frage kamen. Das Kulturprogramm war auch reichlich. So gab es im Espace Noir, einem anarchistischen Zentrum, und in der Great Hall jeden Tag Konzerte.Auf der Buchmesse konnte man Bücher an rund 100 Ständen kaufen und interessante Diskussionen erleben.
Es gab aber auch negative Vorkommnisse!

An mehreren Tagen der Buchmesse gab es handfeste gewaltsame interne Auseinandersetzungen, die leider zeigten, wie sehr die Gewalt in der anarchistischen Gemeinschaft verbreitet ist.

So gab es bei den Workshops Leute, die den Eintritt ukrainischer Anarchist*innen in den Krieg befürworteten. Auf der Buchmesse in der Eishalle, die mit der nebenstehenden Essensausgabe das örtliche Zentrum des Treffens war, war u.a. ein übergroßes, unübersehbares Transparent zu sehen, mit neun gezeichneten Köpfen mir unbekannter Leute. Drunter stand: „Gefallen im Kampf gegen den russischen Imperialismus und für die Anarchie!“ Aus Sicht sehr vieler Aussteller*innen ein übler Versuch, die Anarchist*innen, die zur ukrainischen Armee gegangen sind, in traditionalistisch-autoritärer Weise zu Märtyrern zu erklären! Andererseits wurden Transparente mit den Aufschriften „Gegen jeden Krieg“ wieder abgehängt und in den betreffenden Workshops gar das Verwenden von Begriffen wie „Antimilitarismus“ kritisiert. Auch soll es auf einigen der Workshops zum Ukrainekrieg zu Kontroversen und sehr hitzig ausgetragenen Diskussionen gekommen sein. Es erstaunte da auch nicht, dass der Guerillakampf der kurdischen YPG-Guerilla in Rojava (Nordwestkurdistan) gefeiert wurde, und zwar durch die Zugfahrt vieler Teilnehmer*innen am Samstag von St. Imier nach Lausanne, wo eine Solidaritätsdemonstration für die Rojava-Guerilla stattfand.Doch es geht noch weiter! An mehreren Tagen der Buchmesse gab es handfeste gewaltsame interne Auseinandersetzungen, die leider zeigten, wie sehr die Gewalt in der anarchistischen Gemeinschaft verbreitet ist.
Am ersten Tag der Buchmesse bereits hatte der französischsprachige Verlag „La Lenteur“ (Die Langsamkeit) ein Buch zur Islamkritik und Kritik des Schleiers ausgelegt. Von einer Gruppe junger erklärter „Feministinnen“ wurden der Stand und die Lenteur-Leute physisch angegriffen und des Rassismus bezichtigt, denn weiße Cis-Männer dürften nicht den Islam kritisieren, das sei Rassismus. Nach dem Angriff baute La Lenteur seinen Tisch ab, suchte frustriert das Weite und reiste ab.
Doch dabei blieb es nicht, am Freitag und Samstag wurde von dieser Gruppierung, die nun als „Ansammlung von Individuen aus verschiedenen Richtungen“ mir gegenüber bezeichnet wurde, auch der Stand der altehrwürdigen, über 130 Jahre lang bestehenden Fédération Anarchiste (FA) angegriffen, weil auch dort zwei Bücher zur atheistisch-anarchistischen Kritik am Islam und des Schleiers auslagen. Es ging dabei erstens um das Buch von Hamid Zanaz (geboren in Algerien; übrigens kein weißer Cis-Mann): „L’impasse islamique. La religion contre la vie“ (Die islamische Sackgasse. Religion gegen das Leben), erschienen 2009, mit einem Vorwort von Michel Onfray, in der „Collection Propos mécréants“ (Kollektion Stimmen der Ungläubigen). Onfray ist seither leider zum neofaschistischen Autor geworden, aber 2009 war er noch anerkannter libertärer Theoretiker des Atheismus. Zweitens ging es um das Buch von René Berthier Loran: „Un voile sur la cause des femmes“ (Ein Schleier über der Sache der Frauen), erschienen 2009 in der Edition du Monde libertaire.
Der Angriff galt nun dem gesamten Stand der FA. Dabei wurden Bücher der FA gestohlenen, zerrissen und verbrannt. Diese Gewaltexzesse, wie Bücherverbrennungen, kennen wir von den Nazis! Auch die gewaltsamen Feminist*innen bei der Buchmesse von St. Imier machen mich nur fassungslos, so wird hier der Aufstand der iranischen Frauen gegen den Schleier und das iranische, islamistische Mullah-Regime ignoriert!
Zur Relativierung sei jedoch hinzugefügt: Sehr viele Gespräche und Begegnungen an unserem Büchertisch waren sehr konstruktiv. Auch viele deutschsprachige Schweizer*innen sprachen davon, dass sie so froh sind, dass es die Graswurzelrevolution und unseren Buchverlag gibt, und sie freuten sich sehr über unsere Präsenz. Wir trafen sogar einen GWR-Abonnenten aus Japan!
Am Stand wurden auch Broschüren von der Gustav-Landauer-Gesellschaft (GLG) Berlin angeboten. Und der Genosse von der GLG hatte sogar eine umfangreiche Landauer-Ausstellung in französischer Sprache in der Eishalle aufgehängt und machte Führungen in mehreren Sprachen dazu.

Fazit

So positiv das Treffen in St. Imier insgesamt zu bewerten ist: Teile dieser Bewegung schaden ihr, indem sie in ihrer anmaßenden Dominanz von Minderheitenmeinungen und ihrer Selbstüberschätzung keine Basis für gemeinschaftliches Agieren bieten, sondern ein erschreckendes Bild von Ignoranz und Gewalt!

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

Wir freuen uns auch über Spenden auf unser Spendenkonto.
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