Buchbesprechung

Der Menschenrechtsfriedhof auf Lesbos

Die offensichtliche Ungleichbehandlung von Geflüchteten

| Peter Oehler

Franziska Grillmeier: Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. Verlag C.H. Beck, München 2023, 220 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-406-79938-9

Franziska Grillmeiers „Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas“ ist in chronologischer Abfolge von Herbst 2017 bis Anfang 2023 geschrieben. Er beginnt mit ihrem ersten Besuch der griechischen Insel Lesbos, wobei sich die Journalistin dann entschloss, 2018 dort hinzuziehen. Sie zog nach Mytilini, der Haupt- und Hafenstadt der Insel. Das Flüchtlingslager Moria lag nicht weit entfernt davon. Sie arbeitet viel mit befreundeten JournalistInnen und Fotograf-Innen zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich auch ein Stück weit treiben lässt. Denn in Zusammenhang mit dem Fotografen Julian Busch schreibt sie: „Wir hatten kein ausgesuchtes Ziel. Es ging vor allem darum, zu verstehen, wie der Alltag in Moria funktionierte. An einem Ort, der keinen Alltag zuließ. […] In diesem Moment waren wir uns nicht sicher, was hier überhaupt unsere Aufgabe war. Das Berichten?“ (S. 31-32) Sie ist sich ihrer exponierten Lage bewusst: „Dieses Buch ist aus der Perspektive einer außenstehenden Beobachterin geschrieben, die aus freien Stücken kommen und gehen konnte. Den Menschen, die aus Moria und entlang der europäischen Grenzen über ihr Leben erzählten, ist es gewidmet.“ (S. 18) Sie hat im Laufe der Jahre zahlreiche Kontakte zu Geflüchteten in Moria und anderswo aufgenommen, sich um sie gekümmert und auch geholfen. Aus dem Epilog, in dem sie über den Werdegang ihrer Bekanntschaften berichtet, und die alle ihren Weg nach Europa letztlich gefunden haben, geht hervor, dass sie Geflüchtete nicht nur kurzfristig interviewt hat, sondern ihr Leben längerfristig verfolgt und sie begleitet. Maleka Mahmoodi ist solch eine Geflüchtete aus Afghanistan, die sich in ihrem Zelt selbst angezündet hatte und schwer verletzt überlebte. Ihr wurde dafür der Prozess gemacht, der bis Anfang 2023 immer noch nicht abgeschlossen wurde. Dies ist einer von mehreren Fällen, die zeigen, dass die griechische Justiz „die systematische Kriminalisierung von Geflüchteten [betreibt], die genutzt wird, um Menschen an der Grenze abzuschrecken“. (S. 131)

Ähnlich krass wird gegen freiwillige HelferInnen vorgegangen. Sarah Mardini (selbst eine ehemalige und mittlerweile berühmt gewordene Geflüchtete auf Lesbos) und Seán Binder wird seit 2018 „Menschenschmuggel, Bereicherung durch Spenden, Geldwäsche, Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ vorgeworfen (S. 20). Dies ist eine Kriminalisierung freiwilliger HelferInnen, wobei dieser Prozess ebenfalls noch nicht abgeschlossen worden ist.
Grillmeier erzählt über wichtige Ereignisse bezüglich Geflüchteter auf Lesbos in den letzten Jahren: der Brand vom Moria-Camp, das daraufhin provisorisch entstandene Lager Mavrovouni, die vielen Proteste der Geflüchteten in Mytilini, die Räumung des Pikpa-Camps, „eine der brutalsten Formen von bürokratischer Gewalt, die hilfsbedürftigen Menschen angetan werden konnte“. (S. 111) Außerdem schreibt sie über die Planung und Entstehung des neuen Lagers Vastria, das immer noch nicht in Betrieb gegangen ist, sowie die vielen illegalen Pushbacks von Seiten der griechischen Küstenwache.
Sie berichtet auch über ihre Schwierigkeiten als Journalistin. Ein Polizist sagte ihr bei einer Demonstration in Mytilini: „Berichten Sie aus Ihrem eigenen Land.“ (S. 54) Auch die Stimmung der Zivilbevölkerung auf Lesbos ist immer mehr gekippt: „wurden auch wir Journalist:innen […] immer wieder angespuckt und angeschrien“. (S. 64) Vom griechischen Ministerium für äußere Angelegenheiten wurde ihr „ein Rechercheverbot für die Region Evros auferlegt“. (S. 178)

Sie ist dabei eine genaue Beobachterin und Zuhörerin. Drei Jahre vor dem Feuer von Moria hatte ihr eine Geflüchtete erzählt, dass kein Feuer einen Backofen zerstören kann. In Moria gab es viele Brotbacköfen, die Grillmeier als ein „Zeichen des Widerstands“ sieht. (S. 39) Später schreibt sie: „Die Brotöfen hatten tatsächlich überlebt.“ (S. 40) Ein ungefähr acht Jahre alter Junge stellte die Frage: „Um wie viel Uhr kommt die Freiheit?“ (S. 102) Das hat schon poetische Qualitäten. Dreimal tauchen im Buch Friedhöfe auf: Der „Schwimmwestenfriedhof“ auf der ehemaligen Mülldeponie von Molivos, der „Friedhof der Namenlosen“ in Kato Tritos (15 Kilometer von Mytilini entfernt), sowie das Graffiti „Menschenrechtsfriedhof“ auf der Außenmauer des abgebrannten Camps Moria. Im Original steht dort: „Welcome to Europe – Human Rights Grave-
yard“, was noch sarkastischer ist.
Das Buch wird abgerundet durch eingeflochtene Berichte über ihre Recherchereisen nach Alexandroupolis und ins Grenzgebiet (zur Türkei) am Evros, Athen, Thessaloniki, Idomeni (an der Grenze zu Bulgarien), die Inseln Samos, Chios, Leros (alle Griechenland), Bosnien und Herzegowina (an der Grenze zu Kroatien), Polen (wegen Flüchtlingen aus Belarus), Ungarn und Slowakei (wegen Flüchtlingen aus der Ukraine), sowie Bangladesch. Das Verhalten der EU gegenüber der Ukraine aufgrund des russischen Angriffskrieges macht ihr klar, „dass ein würdevoller Umgang mit Flüchtenden in Europa möglich war“ (S. 188). Was sie dagegen selbst auf Lesbos und anderswo gesehen hat, zeigt ihr die eklatante Ungleichbehandlung von Geflüchteten.