Als mich die Zeitschrift Graswurzelrevolution angefragt hat, einen Artikel zum Thema Sozialdemokratie zu schreiben, sollte es – wieder einmal – das große Jammern rund um den (aus meiner Sicht) von der damaligen Parteispitze zu verantwortenden Niedergang der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) sein. Zum Glück reflektiere ich heute diese Thematik.
Der Mai macht alles neu
Vielleicht ein Detail am Rande: Mein Mann wollte mit mir gemeinsam eine unserer Radiosendungen „Schallmooser Gespräche“ ebenfalls dem jämmerlichen Zustand der Sozialdemokratie widmen, wir hatten aber unseren Aufnahmetermin so weit nach hinten verschoben, dass es zu dieser Sendung zum Glück nicht mehr kam, denn seit Mai 2023 ist alles anders. Hätten wir diese Sendung gemacht und wäre sie On-Air gegangen, dann wäre unser Geschimpfe zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, als die Gruppe um Rendi-Wagner bereits Geschichte gewesen ist. Das wäre peinlich gewesen. Andererseits wäre es für humorvolle Leute auch ein Grund gewesen, darüber zu lachen, dass Reflexion der herrschenden gesellschaftlichen Zustände immer dem hinterherläuft, was ist.
Die SPÖ-Parteispitze mit Pamela Rendi-Wagner als Vorsitzender stand wieder einmal in der Kritik. Der lauteste Skeptiker, der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, forderte Rendi-Wagner zum Duell, die Partei wolle jetzt bitte entscheiden, wer die Sozialdemokratie in Zukunft anführen solle, er oder sie. Rendi-Wagner stellte sich der Herausforderung. Eine Mitgliederbefragung sollte einen Kandidaten oder eine Kandidatin hervorbringen, der oder die am Parteitag bestätigt werden würde. Von außen betrachtet völlig überraschend mischte sich jedoch Andreas Babler ein und präsentierte sich als dritte Alternative. Auch ihn könne man zum neuen Parteivorsitzenden wählen. Diese offiziell nicht bindende Urwahl im April und Mai war wegen der Ungeübtheit der Partei in solchen Dingen von vielen Missverständnissen und Holprigkeiten geprägt. Schließlich bekam Doskozil hier knapp die meisten Stimmen, aber eben nur wenig mehr als ein Drittel, dicht gefolgt von Babler und Rendi-Wagner. Rendi verzichtete daraufhin wie versprochen auf ein Antreten am Parteitag in Linz. Am 3. Juni ging dort der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil zunächst als Wahlsieger hervor. Nach nochmaligem genauen Hinsehen wurde aber ein Fehler entdeckt, irgendwie sind in einer Excel-Tabelle Zahlen vertauscht worden. Das Ergebnis musste korrigiert werden und so wurde Andreas Babler Parteivorsitzender der österreichischen Sozialdemokratie.
Wer ist nun dieser Andreas Babler?
Babler ist die Zukunftshoffnung der Sozialdemokratie. Während Hans Peter Doskozil nie einen Hehl daraus gemacht hat, dem rechten Flügel der Partei anzugehören, ist Babler dem linken Flügel zu zuordnen. Seit vielen Jahren ist er Bürgermeister von Traiskirchen. Traiskirchen ist eine überschaubare Gemeinde in Niederösterreich, sie zählt etwa 20.000 Einwohner_innen und ist innenpolitisch ständig im Gespräch, denn sie beherbergt und verwaltet das österreichweit größte Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge. Ein sozialer Brennpunkt, wenn man so will. Während der Phase der schlechten alten Zeit, als die extrem rechtsnationalistische FPÖ (Freiheitliche Partei) Koalitionspartner der damaligen wie heutigen rechtskonservativen Regierungspartei ÖVP (genannt Volkspartei) war und Herbert Kickl (FPÖ) zum Innenminister ernannt worden war, war es eine seiner ersten Taten, nach Traiskirchen zu fahren, das Schild „Erstaufnahmezentrum“ abzuschrauben und durch das Schild „Ausreisezentrum“ zu ersetzen. Von der ÖVP hat man zu dieser medial inszenierten Aktion nichts gehört, empört zeigten sich kirchliche Organisationen. Vor allem die Diakonie hatte klare Worte gefunden. Der zuständige Bürgermeister von Traiskirchen, Andreas Babler, bewahrte die Ruhe. Er bekennt sich zur Aussage: „kein mensch ist illegal“, ja, das macht ihn auch für mich sympathisch. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie, seine marxistische Schulung hat er unter anderem der SJ, der Sozialistischen Jugend, einer Vorfeldorganisation der SPÖ zu verdanken.
Eine Begebenheit möchte ich noch erzählen, bevor ich zur Frage komme, ob ich mich jetzt schämen muss. Wenig bekannt geworden ist eine Tatsache, die nicht nur mich wütend gemacht hat, nämlich die, dass die Frau Doktor, ihres Zeichens Ärztin, Joy Pamela Rendi-Wagner, vor vier Jahren 27 Mitarbeiter_innen gekündigt hatte, und zwar per E-mail. Noch zynischer geht es wohl kaum. Gut, sie ist gescheitert. Aber wenn sich eine Sozialdemokratin so aus der Verantwortung stiehlt, dann stimmt die Kritik von gestern und heute: „Wer hat uns verraten…“
Ich kann nur eines sagen: feige Frau! Die eigenen Felle hatte sie im Trockenen. Die von ihr gekündigten Mitarbeiter_innen waren ihr kein persönliches Gespräch wert.
Was hat das jetzt mit Andreas Babler zu tun? Er hatte sich vor drei Jahren angesichts dieser untragbaren Handlung positioniert, und zwar entsetzt, er äußerste sich sehr emotional. So ein Verhalten sei klassisch für kapitalistische Unternehmer, die Frau hat wohl vergessen, dass sie als Sozialdemokratin so nicht handeln dürfe, und implizit, also so zwischen den Zeilen, hörte ich schon die Frage heraus: Wo bleibt die Moral? Aus dieser damaligen Empörung heraus lässt es sich vielleicht erklären, wieso sich Babler selbst zur Wahl zum künftigen Parteivorsitzenden angeboten hatte.
In der Not frisst der Teufel Fliegen
Am 10. Mai hielt Babler seine Wahlkampfrede auf dem SPÖ-Parteitag zu seiner Kür als neuer Parteivorsitzender. Die knapp einstündige Rede findet sich im Internet. Die jungen Genossinnen und Genossen waren begeistert, die alten bzw. älteren hatten Tränen in den Augen. Als ich zu diesem Artikel recherchiert habe, konnte ich um diese Rede nicht herumkommen, auch ich hatte feuchte Augen. Ich gehe aber davon aus, dass die feuchten Augen meinen Blick nicht trüben werden. Dass nach jahrzehntelanger Schmierenkomödie jetzt ein vielleicht anständigerer Mensch an der Spitze der Sozialdemokratie steht, ändert nichts an der hierarchisch geprägten systemkonformen Struktur dieser Partei. Ich frage mich, ob ich mich schämen muss, einen Spitzenpolitiker in seinem Bestreben nach Rückbesinnung auf sozialistische Werte derart ernst zu nehmen. Die Hellhörigkeit bleibt, auch die kritische Distanz bleibt, denn wenn ich aus der Geschichte eines gelernt habe, ist es dies, sich niemals für Führerpersönlichkeiten zu begeistern; dies beinhaltet auch, sich weder einnehmen noch vereinnahmen zu lassen.
Alles in allem schlägt die Sozialdemokratie in Österreich ein neues Kapitel auf, mit jemanden mit philosophischem Bildungshintergrund an der Spitze, der für Gestaltungsbestreben zu stehen scheint. Um es mit Adorno/Horkheimer zu sagen: „Philosophie ist das Aller-Ernsteste, aber so ernst nun auch wieder nicht.“
Rosalia Krenn hat in der GWR 479 vom Mai 2023 in ihrem Artikel „Papua-Neuguinea“ u.a. beschrieben, wie in Wien mit arbeitssuchenden Menschen umgegangen wird.
Anmerkung: Die erwähnte Radio-Reihe „Schallmoose Gespräche“ der Radiofabrik Salzburg ist als Podcast verfügbar unter: https://cba.fro.at/podcast/schallmooser