Ein „neuartiger Mut” innerhalb des türkischen Antimilitarismus

Ein Rückblick auf die 1990er-Jahre / Vorabdruck aus der Autobiografie von Pınar Selek

| Guillaume Gamblin / Pınar Selek

Voraussichtlich im Oktober 2023 erscheint unter dem Titel „Die Unverschämte“ im Verlag Graswurzelrevolution in deutscher Sprache die von Guillaume Gamblin in zahlreichen Interviews erstellte Biografie von Pınar Selek (1). Pınar Selek wird seit 25 Jahren vom türkischen Regime wegen eines angeblichen Bombenanschlags auf den Istanbuler Gewürzmarkt verfolgt. Obwohl die queerfeministische und gewaltfreie Anarchistin diesen Anschlag nie begangen hat, wurde sie nach einer grotesken, jeder Rechtsstaatlichkeit hohnsprechenden Prozessserie vom Obersten Gerichtshof der Türkei 2022 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt (die GWR berichtete). Ihr Engagement in der antimilitaristischen Bewegung in der Türkei der 1990er-Jahre sowie ihre Kämpfe an der Seite der Straßenkinder, der Kurd*innen und Armenier*innen Istanbuls legten die Grundlage für die Gezi-Park-Massenbewegung von 2013. Pınar ist überzeugt: Die Herrschaft in der Türkei kann nicht militärisch bezwungen, sondern muss von innen transformiert und abgeschafft werden. Pınars Zitate im Text stammen aus diesen Interviews. (GWR-Red.)

Der bewaffnete Kampf gehörte auch in den 1990er-Jahren weiter zu den Kampfformen besonders der kurdischen Organisationen. Hunderte junge Leute ließen dabei ihr Leben. Diese Aktionsform wurde für einige weitere Jahre praktiziert, danach aber mehr und mehr an den Rand gedrängt. Die kurdische Bewegung versorgte sich durch die Kurd*innen aus den angrenzenden Ländern mit Waffen, ebenfalls bekamen sie sie von Revolutionär*innen aus dem Libanon, aus Palästina oder Syrien.
Bei den anderen bewaffneten Bewegungen der Linken war die Herkunft der Waffen undurchsichtiger. Einige führten Aktionen durch, die immer weniger nachvollziehbar waren. Sie wurden manchmal durch die türkische Regierung gegen die kurdische Bewegung instrumentalisiert, hielten nationalistische Reden oder organisierten Gewalttaten gegen Transsexuelle und Prostituierte, von denen sie sagten, sie wollten sie nicht im Stadtviertel haben, im Namen der revolutionären Moral. Zwischen 1992 und 2000 war der bewaffnete Kampf mehr und mehr infiziert von Missständen, die mit dem Militarismus verbunden sind: Gewalttaten, Virilismus und Paranoia-Vorstellungen.
Für Pınar war diese Entwicklung Teil einer Dynamik bewaffneter Bewegungen. Diese haben nämlich nie den Genozid an den Armenier*innen, den Kemalismus (2) oder die Armee grundsätzlich hinterfragt. Sie entwickelten ihre Rhetorik rund um Klassenkampf, Kritik des Faschismus und des Imperialismus, aber sie hatten weder Interesse an einer Kritik des Militarismus als solchem, noch des Nationalismus. Dieses soziale Klima intensiver Gewalt „wurde zum Trauma für die Vorläufer-Generation, aber auch für unsere eigene Generation, denn als wir klein waren, sind wir innerhalb dieses Gewaltklimas aufgewachsen. Darunter muss man sich vorstellen: viele Tote, viele Menschen im Exil, eine Million politischer Gefangener und die Traumata, zu denen all das bei deren Kindern und Familien geführt hat.“

Eine neue Art von Protestbewegungen

Im Rahmen dieser extremen Formen von Gewalt war also in der Türkei ab den 1990er-Jahren eine neue Art von Protestbewegungen entstanden.

„Die traditionellen Bewegungen und ihre Aktionsformen haben viele enttäuscht.“

In dem durch die Repression leergefegten Raum wies die aufkommende Frauenbewegung auf das Patriarchat hin, das sowohl im Staat als auch in den revolutionären Kräften vorhanden war, und auf deren Ähnlichkeiten. Die LGBTI-Bewegung (3) entstand gleich danach. Die Ökolog*innen traten auf und teilten dieselben Kritiken. Es war der Beginn einer politischen Wiederbelebung und der intellektuellen Kritik. Es war zugleich der historische Augenblick, in dem libertäre und organisierte anarchistische Gruppen entstanden. Ein Teil von ihnen begriff sich als antimilitaristisch. Die ersten anarchistischen Zeitschriften begannen zu erscheinen.

„Dank der Anarchist*innen wurde die antimilitaristische Bewegung in der Türkei geboren. Innerhalb des anarchistischen Milieus wurde das erste antimilitaristische Kollektiv geschaffen und der Kampf für Kriegsdienstverweigerung begann.“

Die antimilitaristischen Anarchist*innen protestierten damals nicht nur gegen die Kriege, sondern auch gegen die militärische Struktur als solche; und sie propagierten den zivilen Ungehorsam gegen dieses System. Diese Gruppen begannen, Treffen, Konferenzen und Aktionen zu organisieren.

„Ganz plötzlich entstand eine neue Definition dessen, was Mut bedeutet. Bis dahin bedeutete Mut zu haben, sich zu bewaffnen. Nun aber wurde der Mut selbst zur Waffe.“

Die ersten Kriegsdienstverweigerer tauchten nach 1989 auf. Es gab die ersten Gefangennahmen und sie lösten eine umfangreiche Bewegung innerhalb der türkischen Gesellschaft aus. Auch die feministischen und LGBTI-Bewegungen beteiligten sich an der antimilitaristischen Mobilisierung. Diese neue Aktionsform wurde zwar manchmal als naiv betrachtet angesichts der riesigen Dimension der Repression; sie benötigte aber auch eine gewisse Zeit, um in ihrer Logik verstanden zu werden, die so weit entfernt war von den klassischen revolutionären Bewegungen.

„Ab den 1980er-Jahren eröffnete sich ein aktivistischer Raum, in welchem zwei Aktionsformen zur selben Zeit koexistierten. Keine dominierte über die andere. Es gab eine Koexistenz.“

Die feministischen und anarchistischen Bewegungen haben sich verankert und entwickelten sich – und die LGBTI-Bewegiung glaubte ihrerseits sogar daran, diese an Bedeutung zu übertreffen. Sie stand den Antimilitarist*innen sehr nah und publizierte zahlreiche Zeitschriften.

„Der Antimilitarismus hat sich in diesem multi-organisatorischen Feld entwickelt, in Zusammenarbeit mit den anderen Gruppen. Jede Bewegung hat die jeweils andere gestärkt.“

Auftretende Spannungen

Wie waren die Reaktionen auf dieses Auftreten des Antimilitarismus bei den Protestbewegungen?

„Anfangs zeigte die revolutionäre Linke Sympathie, aber bald wurde ihr wahres Gesicht offenbar. Transsexuelle und Prostituierte wurden im Namen der revolutionären Moral zusammengeschlagen. Im Gefängnis haben Mitglieder dieser bewaffneten Organisationen Aktivist*innen getötet, die verdächtigt wurden, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Ein schrecklicher Stalinismus hat sich in deren Mitte entwickelt.“

Besondere Spannungen kristallisierten sich vor allem zwischen der kurdischen Bewegung und den Antimilitarist*innen heraus. Die Kurd*innen, die Familien derjenigen, die im Kampf getötet wurden, konnten jede Form von Kritik an ihren Kampfmitteln nur schwer ertragen. Die Antimilitarist*innen entschieden sich dann dafür, gegen den Krieg, der von ihrer türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerungsgruppe geführt wurde, zu mobilisieren, indem sie nach Diyarbakır (4) gingen, um dort die Kurd*innen zu unterstützen, die sich für Frieden einsetzten. Es war eine intelligente Form, Bündnisse zu schmieden auf der Basis desselben Widerstands, jenseits der Spannungen über die Kampfstrategien.

„Das Verhalten eines Teils der revolutionären Linken hat meine antimilitaristischen Ideen beflügelt, denn Antimilitarismus heißt meiner Meinung nach, nicht nur gegen eine Armee zu sein, sondern auch gegen jede Hierarchie, jede Legitimation und Organisation von Gewalt und Macht. Alles hängt zusammen. Militarismus ist die Organisation von Gewalt. Antimilitaristin zu sein bedeutet, gegen Gewalt und gegen Krieg zu sein; nicht gegen einen bestimmten Krieg, weil der aus spezifisch imperialistischen Interessen geführt wird, sondern gegen jede Form von Krieg. Es war die Organisierung des Militarismus im Allgemeinen, die wir hinterfragten. Sogar der Begriff ‚militant‘ wurde kritisch diskutiert. Wir stellten die Frage nach der organisierten Gewalt in einem etatistischen und militaristischen System, aber auch in den revolutionären Organisationen. Die antimilitaristischen Gruppen hatten außerdem transnationale Kontakte und sie organisierten Workshops über Gewaltfreiheit.“

Pınar bestand auf der politischen Bedeutung der antimilitaristischen Bewegung, die sich seit den 1990er-Jahren im öffentlichen Raum etablierte, als die Armee eine besonders zentrale Rolle im politischen System der Türkei spielte. In der Türkei war die Armee heilig. Sich als antimilitaristisch zu bezeichnen, war deshalb besonders provokativ und revolutionär. In der nationalen Legende war die Armee jene Institution, die die Republik gerettet und die Frauenemanzipation ermöglicht hatte. Bei den Kurd*innen war in deren revolutionärer Erzählung der bewaffnete Kampf ebenfalls geheiligt. Unter diesen Bedingungen galt die öffentliche Zurückweisung aller Armeen und aller militarisierten Kämpfe als subversiv und frevelhaft.
Militarismus – das bedeutet Disziplinierung, Zwang und Hierarchie. Aus diesen Gründen hat sich die antimilitaristische Bewegung inmitten des anarchistischen Milieus gebildet. In der Türkei der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts waren die Antimilitarist*innen sehr aktiv. Deren Diskurs war neu im aktivistischen Raum der Türkei. Mutige Aktionen wurden organisiert, die die Mitglieder manchmal ins Gefängnis brachten.

„Ihre Aktionen machten nicht ‚Bumm‘! Aber sie entfalteten eine zunehmende Wirkung.“

Viele Schwule begannen ebenfalls, sich als Kriegsdienstverweigerer zu erklären [die GWR berichtete]. Sie waren besonders von der Gewalt des Kriegsdienstes betroffen und wurden sogar zu entwürdigenden physischen Erniedrigungen gezwungen, um ihre Homosexualität nachweisen und sie danach „umwandeln“ zu können.

(1) Guillaume Gamblin (Hg.): Die Unverschämte. Gespräche mit Pınar Selek. Aus dem Französischen von Lou Marin, Verlag Graswurzelrevolution, voraussichtlich Oktober 2023, ca. 224 Seiten, ca. 20,90 Euro; ISBN: 978-3-939045-50-2. Guillaume Gamblin ist Mitherausgeber der französischen GWR-Schwesterzeitung „Silence: Écologie, alternatives, nonviolence“.
(2) Der Kemalismus ist die Gründungsideologie der türkischen Republik. Er basiert auf den Grundprinzipien, die von Mustafa Kemal Atatürk in den 1920er-Jahren definiert wurden.
(3) LGBTI ist die aus dem englischen Sprachraum übernommene Abkürzung für die englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transexuell/Transgender und Intersexual (deutsch: Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell/Transgender und Intersexuell).
(4) In der Millionenstadt Diyarbakır (kurdisch: Amed) in Südostanatolien leben überwiegend Kurd*innen.

Auszug aus dem III. Kapitel; Übersetzung: Lou Marin