Gemüse gegen das Atom

Das Nuklearindustrie-Projekt „Cigéo”, der Widerstand und erste Bausteine einer solidarischen Gesellschaft in Bure / Frankreich

| Guillaume Amouret

Vom 26. August bis zum 3. September 2023 fanden im ostfranzösischen Bure die „Rencontres des luttes paysannes et rurales“, ein Treffen der bäuerlichen und ländlichen Kämpfe, statt. Die Veranstaltung wurde auf dem Gelände des Kollektivs „Les Semeuses“ (Die Säerinnen) organisiert. Mit Gemüse als Kampfmittel setzen sie sich gegen die Atomindustrie ein und legen die ersten Bausteine einer solidarischen Gesellschaft im Süden des Département de la Meuse („Maas-Departement“) in der Region Grand Est. Wir haben sie im letzten Juni getroffen.

Es ist 18 Uhr, Lukas, Mitglied und Mitbegründer der „Semeuses“, wartet hinter seiner Waage und seiner Kasse auf die ersten Kund*innen. Um ihn herum sind Kisten voller Sommergemüse gestapelt. Jeden Donnerstag in Mandres-en-Barrois, einem kleinen Dorf in Ostfrankreich, organisiert das Kollektiv das Verkaufen der wöchentlichen Ernte. Das Gemüse kommt aus einer kleinen Anbaufläche von drei Hektar im Nachbardorf. Die Verkaufsstelle ist einfach gestaltet: ein Stuhl und ein Tisch auf dem kleinen Asphaltstreifen vor der Scheune der „Augustine“. Die Kund*innen kaufen ihre Zucchini für den Preis, den sie selbst bestimmen. „Augustine”, so heisst das große Steinhaus im Zentrum des Dorfes, das als einer der Treffpunkte des Widerstands gegen das Projekt „Cigéo“ in der Region gilt.
Mandres-en-Barrois liegt wenige Kilometer entfernt von Bure, die vor 25 Jahren ausgewählte Ortschaft für ein „unterirdisches Labor“ zur Erprobung einer Atommülllagerungsmethode. Aus der Idee eines Labors ist im Laufe der Jahre das Projekt Cigéo entstanden: Ein Lager zur Beerdigung aller in Frankreich produzierten, langfristigen Atomabfälle. 500 Meter unter der Erde will die Agence nationale de Gestion des Déchets Nucléaires (ANDRA , Nationale Agentur für das Management radioaktiver Abfälle) die etwa 85.000 m2 mittel- und hochradioaktiven Abfälle für die Ewigkeit lagern. Sie möchte mit den ersten Paketen ab 2035 anfangen.
Der Widerstand gegen das Projekt fing 1995 an mit dem Engagement vieler Landwirt*innen um Bure herum. Die Opposition wuchs und die Auseinandersetzung spitzte sich zwischen den Jahren 2016 und 2018 zu, als die Opponenten*innen – so werden sie in der Umgebung benannt – das Waldstück Bois Lejuc besetzten. Die Räumung der ZAD sowie das endgültige Eintrittsverbot im Wald, verbunden mit einer ab dem Jahr 2019 gestärkten polizeilichen Präsenz, verschob das Gravitationszentrum der Anti-Cigéo-Bewegung. Sie etablierte sich in der Nachbarschaft des Waldes Bois Lejuc.

Gärtnerei als langfristige Kampfstrategie

Mila, Mitglied und Mitbegründerin des Kollektivs, beschreibt die Jahre 2018 und 2019 so: „Nach der Waldbesetzung gab es eine starke Repressionswelle. Wir trafen uns nur noch vor Gerichten, um einander zu unterstützen.“ Eines Tages, nach dem Freispruch beschuldigter Mitstreiter*innen, kam eine kleine Gruppe zusammen, deren Mitglieder sich eine langfristige Widerstandsarbeit in Bure wünschten. „Während der Waldbesetzung hatten wir schon einem Bauern geholfen, und hatten da schon den Wunsch, Gemüse selber anzubauen.“ Also kamen sie 2019 wieder in die Region, diesmal als Landwirtschaftskollektiv. Der Bauer Jean-Pierre Simon, dem sie geholfen hatten, stellte ihnen drei Hektar Land für den Anbau zur Verfügung. Das Kollektiv ist auch eine feministische Aktionsgruppe. Über den Namen „Les Semeuses“ (Die Säerinnen) hinaus wird im Kollektiv die Frage der Stelle der Frau auf dem Land behandelt. Mila erzählt: „Sei es Landwirtschaft oder Bauarbeit, die Tätigkeiten der Männer werden sehr geschätzt auf dem Land, während Frauen vieles leisten, ohne Anerkennung“. Über die acht Mitglieder in der Gruppe sind fünf FLINTA* (1). „Wir funktionieren so, dass das Fachwissen und das Know-How gleich verteilt werden.“

„Der Garten muss aufgeräumt werden, bevor sie etwas anbauen wollen“

Die Anbaufläche befindet sich genau auf der bisher nur theoretischen Eisenbahntrasse, welche zur Beförderung des Atommülls geplant ist. „Das heißt, der Garten muss aufgeräumt werden, bevor sie etwas anbauen wollen, erklärt Jean-Pierre, während er an der Parzelle vorbeiläuft. Er ist hier geboren und hat einen großen Teil seines Lebens auf dem Familienbauernhof verbracht. Die Fläche hat er zur Verfügung gestellt, um so seine Unterstützung der Bewegung fortzusetzen. „Wenn man sich unsere Landwirtschafts- und Energiemodelle einerseits und den Klimawandel andererseits anschaut, stehen wir unter Zugzwang. Wir müssen jetzt reagieren und die Bevölkerung überzeugen.“ Nicht nur durch Demonstrationen, sondern auch durch Aktionen wie den Garten.

Der größte Grundeigentümer der Region: ANDRA

Die Lage der angebauten Fläche behält zwar eine starke Symbolik. Jedoch liegt der Kampf für die „Semeuses“ auf einer tieferen Ebene. Denn ANDRAS Grundeigentum wird zum Machtmittel. In einem Umkreis von mehr als 50 Kilometern um Bure herum besitzt ANDRA aktuell etwa 3.000 Hektar Acker und Wälder. Darüber hinaus bekam das industrielle Atommülllagerprojekt letztes Jahr den Status „gemeinnützig”, um so die Aneignungsprozesse zu erleichtern.
Um dagegen vorzugehen, versuchen die Opponent*innen Grundstücke und Häuser zu kaufen. Wie Mila zum Beispiel, die gemeinsam mit ihrem Freund Jan eine Ziegenhaltung in einer kleinen Ortschaft namens Touraille-sous-Bois, östlich von Bure, betreibt. Dafür wollten sie ursprünglich das Grundstück und das Haus, in dem sie gerade leben, kaufen. „Wir haben darauf geachtet, dass man uns nicht als Opponent*innen wahrnimmt”, erklärt Jan, um den Kauf ruhig und ohne Aufschrei beim Notar abschließen zu lassen. Der Verkäufer hat auch dabei mitgespielt.
Doch kurz vor dem Verkauf liess der Bürgermeister von Touraille-sous-Bois sein Vorkaufsrecht gelten. Wohl habe er geahnt, so Mila und Jan, dass sie Cigéo-Gegner*innen sind. Er wollte nicht, dass sie sich hier niederlassen. Der Kauf wurde also eingestellt, Jan und Mila schlossen stattdessen einen langfristigen Mietvertrag mit dem Eigentümer ab. „Aber wir haben es nur durch die lokale Presse erfahren“, sagt Jan. Hätten sie nicht rechtzeitig reagiert, wäre das Haus heute in ein Gästezimmer umgewandelt worden, so wie der Vorkaufrechtsantrag gerechtfertigt wurde. In anderen Dörfern werden Häuser gekauft: „Zuvor haben sie sich nur für Landflächen interessiert, nun kaufen sie auch Häuser, um zu vermeiden, dass Opponent*innen zum Wohnen hierher kommen, meint Jean-Pierre.

Solidarisches Handeln gegen leere Sprüche

„Als ANDRA sich hier niederließ, erklärten die Atom-Lobbyist*innen, dass die Region wirtschaftlich aufblühen wird”, erzählt Lukas, „in der Tat versuchen wir jetzt zu leisten, was sie behauptet haben”. „Durch den Bau einer kleinen Bar in der Augustine, den Aufbau von Kooperativen, verwirklichen wir ANDRA’s Versprechen”. Die Agentur hingegen bringe Korruption, Unterdrückung und verschmutzte die Umwelt.

„Wir verwirklichen, was ANDRA behauptet hat, zu leisten:
die Region zu dynamisieren”

Einen landwirtschaftlichen Betrieb baut man über mehrere Jahre hinweg. Dabei geht es auch darum, mit allen zu kooperieren. „Solche Kämpfe wie in Wackersdorf wurden früher gewonnen, weil alle mitgemacht haben”, sagt Lukas: „die lokalen Reformist*innen, die städtischen und ländlichen Radikalen waren da.“ Wenn man es schaffe, das Spektrum auszubreiten, wird der Widerstand weniger angreifbar. Deswegen sind „Les Semeuses“ nicht nur eine Plattform der politischen Landwirtschaft, sondern auch ein Ort, der mehrere Teile des Widerstands verbindet.
Um langfristig in der Region zu leben, sieht Mila weitere Perspektiven: „Wir müssen hier leben, hier unsere Häuser haben. Für mich ist eine anti-kapitalistische Revolution möglich, wenn wir in vier Bereichen die Autonomie erreichen: Ernährung, Mobilität, Care und das Wohnungswesen.“ Um diese Ziele zu erreichen, entwickeln Mila und ihre Mitstreitenden ihr Wissen in diesen Bereichen und bringen „Les Semeuses“ voran. Vor kurzem wurde ein Backofen in der „Augustine“ konstruiert. Eine Bäckerei sollte da bald eingerichtet werden.

(1) FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen. Der angehängte Asterisk dient dabei als Platzhalter, um alle nicht-binären Geschlechtsidentitäten einzubeziehen.

Guillaume Amouret ist freiberuflicher Journalist. Kontakt: amouret.guillaume@protonmail.com
Instagram / Twitter : @gui_wee

Mehr zum Thema