Mit Tochter und Einrad in St. Imier

Wie kinderfreundlich war der anarchistische Kongress in der Schweiz?

| M von der anarchistischen Gruppe Dortmund

Dortmund, 18. Juli 2023, 3:15 Uhr. Wir laufen schwer beladen zum Hauptbahnhof, ich trage einen riesigen Rucksack und eine große Tasche mit Luftmatratzen und Schlafsäcken. K trägt meinen kleinen Rucksack auf dem Rücken und ihren vor der Brust, dazu schiebt sie ihr Einrad vor sich her. Ich fluche innerlich und frage mich mehrfach, ob wir das wirklich alles brauchen oder ich es nicht doch übertrieben habe beim Packen. Was ich jetzt noch nicht weiß: Ich werde noch sehr froh darüber sein, dass K ihr Einrad dabei hat.

Ich hatte mich vor einigen Wochen dazu entschieden mit Kind am „International Anti-Authoritarian Gathering“ vom 19. bis 23. Juli in St. Imier teilzunehmen. Mir wurde eine Kinderbetreuung in Aussicht gestellt und ich habe die Hoffnung, mich dieses Mal auf einem Camp zu befinden, wo Kinder und deren Bezugsmenschen/Eltern im Vorfeld wirklich mitgedacht werden. Auf der Internetseite https://st-imier.org/ wurde zumindest „Familyfriendly“ versprochen.
Wir kommen am Hauptbahnhof Dortmund an und finden auf Anhieb den Solibus (www.soli-bus.org), ein Riesen-„Hallo“ beginnt trotz der frühen Uhrzeit. Die anarchistische Szene ist klein, mensch kennt sich. Unser Gepäck wird eingeladen, auch das Einrad findet Platz, sehr zur Freude von K.
Die Stimmung auf der Fahrt ist sehr angenehm und so kommen wir nach einigen Zwischenstopps, um noch Menschen einzusammeln, schließlich gegen 17 Uhr in St. Imier an. Erstmal herrscht dezente Orientierungslosigkeit. Wir überlegen, ob wir im FLINTA-Camp schlafen wollen oder lieber die große Wiese nutzen. Ich überlege, wo denn wohl eher andere Menschen mit Kindern sind. Nach einigem Hin und Her landen wir mit unserer Gruppe schließlich auf dem Hauptcamp.
Schnell wird klar, dass sich die Veranstaltungen, Küfa, Buchmesse, Camps, Schlafplätze, und, und, und über ganz St. Imier verteilen und die Wege durchaus lang sind. Ich finde es etwas unübersichtlich und schwierig, K alleine zu lassen. Sie spricht kein Französisch, kaum Englisch und unsere Handys funktionieren im Schweizer Netz nicht. Eigentlich bin ich eher nicht ängstlich, sie mit ihren elf Jahren aus den Augen zu lassen, sehe mich aber in St. Imier vor einige Herausforderungen gestellt: Lange Wege, Sprachbarriere für K, wird sie das Küfa-Essen mögen, fehlende Informationen bezüglich Kinderbetreuung etc.
Ich verabrede mit K, dass sie sich im Zelt ausruhen kann und ich mich auf die Suche nach Informationen mache und St. Imier erkunde. Als ich den Infopoint endlich finde, hat dieser leider schon zu. Mich zieht es zum Zelt zurück, ich will K nicht zu lange alleine lassen an einem für sie fremden Ort. Zumindest hab ich nun einen groben Überblick, was mich etwas beruhigt. Ich bin sehr fasziniert von der Küchenstruktur, der Küfabereich ist riesig und wirkt sehr gut organisiert. Sobald die Essensausgabe startet, geht es sehr schnell. Das einzige Manko für K, ihr schmeckt das Essen leider überhaupt nicht und leider wurden an dieser Stelle Kinder nicht mitgedacht.
Und damit komme ich zum Kern unseres Problems: Ja, es ist okay mit Kind da zu sein, die meisten Menschen freuen sich durchaus. Strukturell werden wir aber nicht wirklich mit eingebunden. Ich unterhalte mich in den nächsten Tagen viel mit anderen Eltern, von denen ich wiederum die einzige Person bin, die die Hauptverantwortung alleine trägt. Wir schaffen es alle eher weniger, an den über 400 Workshops und Vorträgen teilzunehmen, sind so stark eingebunden, um Essen zu besorgen, was die Kinder halbwegs mögen, die Kinder bei Laune zu halten usw., dass nur wenig Kapazitäten übrig bleiben. K weigert sich, an der Kinderbetreuung teilzunehmen, weil ihr das dort zu langweilig ist. Noch dazu stößt ihr die Bezeichnung Kindergarden auf, aus dem Alter ist sie schließlich raus. Im Gespräch mit anderen Eltern fällt mir auf, dass die Kinderbetreuung nur wenig hilfreich ist, da die Wege sehr lang sind und es kaum zu schaffen ist, die Kinder in der Betreuung abzugeben und pünktlich im Workshop zu sein. Da viele Veranstaltungen so gut besucht sind, ist es oft unmöglich, noch einen Platz zu bekommen, wenn Mensch zu spät kommt.
Das Familiencamp ist am weitesten von der Küche entfernt, was mit kleinen Kindern nicht unbedingt ein Spaß ist, 20 bis 30 Minuten zum Essen laufen zu müssen. Ich bin an dieser Stelle froh, dass wir das Einrad mitgenommen haben und K die meisten Wege darauf zurücklegt und Spaß daran hat, die Berge zu befahren.
Es gibt nur wenige Workshop-Angebote, die für Kinder kompatibel sind und wenn sie es theoretisch wären, fehlt es in der Praxis an passendem Material, wie im Kletterworkshop, in dem es keine Kindergurte gibt. Hier beißt sich die schwarze Katze in den Schwanz: Dadurch, dass Kinder nicht wirklich mitgedacht werden, sind wenige Kinder da, und weil das so ist, haben Menschen den Eindruck, es würde sich nicht „lohnen“, diesbezüglich zu investieren. Und weil diesbezüglich nicht investiert wird, sind wiederum kaum Kinder da.
Ich möchte für dieses Problem keineswegs Einzelpersonen verantwortlich machen. Das ist ein kollektives Problem, ein strukturelles! Kinder haben andere Bedürfnisse als Erwachsene und das sollten wir als Gemeinschaft im Blick haben und nicht die komplette Verantwortung in die Kleinfamilie pressen! Das Thema ist komplex und es sind oft vermeintliche Kleinigkeiten, die dafür sorgen, dass ich mich abgehängt fühle, wenn ich mit Kind an Camps teilnehme.
Es ist zweischneidig, auf der einen Seite habe ich die Zeit mit meinen Freund*innen und K sehr genossen. Ich sehe, dass auch ihr der Kontakt gut tut, ich habe neue tolle Menschen kennengelernt. Es ist toll, was wir als Anarchistinnen auf die Beine stellen können, ich sehe die organisatorische Leistung, ich sehe das Potenzial, was wir alle mitbringen. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch, dass wir noch sehr viel zu tun haben, dass es noch einiges braucht, um bürgerliche Strukturen wie die Kleinfamilie zu überwinden.
Das können wir nur gemeinsam!

Viva la Anarchia!