Im Mai 2022 besetzten Atomkraftgegner*innen zwei Strommasten, die der Versorgung der auch nach dem „Atomausstieg“ weiter betriebenen Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau dienen (1). Unter dem Vorwand, diese hätten mit der Besetzung Hausfriedensbruch begangen, nahm die Polizei die Strommastbesetzer*innen und weitere Unterstützer*innen nach der Aktion mit auf die Wache. Dort wurden sie erkennungsdienstlich behandelt.
Die Verfahren sind inzwischen eingestellt, die Protestaktion war nicht strafbar. Die Festnahmen und die ED-Behandlungen wurden als Ersatzbestrafung eingesetzt. Die Polizei wandte bei mehreren Personen Gewalt an, um zwangsweise Fingerabdrücke zu nehmen. Gegen die Kletteraktivistin Cécile Lecomte wurden Zwangsgriffe angewendet – ohne Rücksicht auf ihre rheumatische chronische Erkrankung und Schwerbehinderung.
Sie leidet an rheumatoider Arthritis, einer chronischen Entzündung der Gelenke. Die Gewalteinwirkung auf ihren Kopf war aufgrund der Schädigung der oberen Halswirbelsäule durch ihre Erkrankung schmerzhaft und lebensgefährlich. Sie wurde verletzt und verließ die Polizeiwache Ahaus mit zahlreichen Hämatomen am Körper. Eine Gerichtsverhandlung fand am 17. April 2023 in Ahaus statt. Vor Gericht standen weder die Polizisten noch der für die Polizei tätige Arzt, der sich an den Maßnahmen tatkräftig beteiligt hatte, sondern Cécile Lecomte. Der Vorwurf lautete: „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Der Prozess nahm seltsame Züge an: Missbrauch der Feuerwehr, Zeugen auf frischer Tat beim Besprechen der Akte im Gerichtsflur ertappt und schließlich eine Einstellung. Der Reihe nach.
Hintergrund
Die Urananreicherungsanlage läuft trotz Abschaltung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland weiter (vgl. GWR 479). Die Strommastbesetzung fand auf einer Leitung, die die Anlage versorgt, statt. Die Atomindustrie verbraucht viel Strom, um Uran anzureichern. Die Polizei räumte die Aktion noch am gleichen Abend. Die Räumung verlief ohne besondere Vorkommnisse, niemand wurde dabei verletzt.
In der Strommastbesetzung selbst fand die Justiz keinen Verstoß gegen das Strafgesetzbuch. Die Zwangserhebung der persönlichen Daten wurde auf Anordnung von Polizeioberrat (POR) Sühling durchgeführt, obwohl die Aktion strafrechtlich nicht als relevant gewertet wurde und den Behörden die Personal- sowie Schwerbehindertenausweise der Aktivistin vorlagen. Zugegen war der Arzt Dr. Wolfgang Majert. Dieser sollte den gesundheitlichen Zustand der Aktivistin untersuchen, zur Beurteilung der mit Zwangsmaßnahmen einhergehenden Gesundheitsgefahren. Es kam jedoch anders. Der Arzt war per du mit den Polizisten und sprach nicht mit der Betroffenen, die er als „Straftäterin“ titulierte. Er beteiligte sich sogar an den polizeilichen Maßnahmen.
Cécile kommentierte vor der Gerichtsverhandlung: „Die Polizei tötet. Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit psychischen Erkrankungen, laufen bei Kontakt mit der Polizei und in Gewahrsam weit weg vom Blick der Öffentlichkeit, besonders Gefahr, schwer verletzt zu werden oder gar zu sterben. 3/4 der durch die Polizei getöteten Menschen in den letzten Jahren hatten eine psychische Erkrankung. Zu diesem Ergebnis führen nicht nur ‚im Einzellfall’ nicht verhältnismäßige Zwangsanwendungen oder ‚Unwissen’ über Vorerkrankungen oder über den Umgang mit Behinderung, die als Rechtsfertigung regelmäßig herhalten müssen, sondern auch der tief sitzende Ableismus bei der Polizei. Ich habe ihn, neben dem üblichen Hass der Polizei auf uns Antiatomaktivist*innen, hautnah erleben müssen. Schockiert hat mich hier vor allem die Beteiligung eines Arztes an den Polizeimaßnahmen.“ Bezeugt wird dieser Ableismus (2) und seine repressive Ausgestaltung durch die Rechnung, die der Arzt den Behörden stellte: Ein Kostenpunkt enthält zur Begründung die Vokabel „Widerstand“, obwohl der Arzt nicht für die Anwendung von Zwang zuständig war. Cécile wurde nach Aussage ihrer Mitkämpfer*innen in einem extremen Schock- und Schmerzzustand entlassen. Ihre Verletzungen wurden am Tag danach durch einen Hausarzt attestiert.
Knapp zwei Wochen nach ihrer Festnahme, erhielt Cécile einen Strafbefehl – ohne vorherige Anhörung, obwohl diese durch die Strafprozessordnung vorgesehen ist. Die Ermittlungen wurden ausschließlich zur Belastung geführt, die Rechtmäßigkeit der Polizeimaßnahme nicht geprüft, obwohl sie Voraussetzung für die Strafbarkeit eines Widerstandes ist. Das ärztliche Attest, das Cécile mit einer Klage gegen die Polizei einreichte, fand sich nicht in der Akte wieder.
Barriere-Justiz
Der Prozesstag begann mit einer Solidaritäts-Kundgebung vor dem Amtsgerichtsgebäude mit Essen, Baumklettern, einem Soli-Miniatur-Strommast und Pressegesprächen. Ein Feuerwehrauto parkte auf dem Gerichtsvorplatz. Dass es für Cécile da war, erfuhr sie erst beim Betreten des Gerichtsgebäudes. Der Verhandlungssaal befand sich im ersten Stock. Das Amtsgericht hat aber keinen Aufzug. Die Feuerwehr wurde um Amtshilfe gebeten, um Cécile mit ihrem Rollstuhl die Treppe hoch zu tragen. Bei jeder Pause musste sie auf die Feuerwehr warten, um ins Erdgeschoss zu gelangen, wo sich die Behindertentoilette befand. Die Verhandlung zog sich allein schon deswegen in die Länge. Die Trageaktion war nicht ungefährlich für Cécile. Sie prangert den Ableismus einer Justiz an, die nicht in der Lage ist, Gesetze zur Barrierefreiheit und die UN-Berhindertenrechtskonvention einzuhalten. „Ich hätte lieber einen Flaschenzug aus Seilen, um zum 1. Stockwerk zu gelangen, das wäre sicherer gewesen“, spottete sie. Eine Woche nach dem Prozess sorgte der Vorfall immer noch für Schlagzeilen. Er sehe das Problem, habe aber auch keine bessere Lösung [als das Tragen durch die Feuerwehr] parat, wurde Gerichtssprecher Benedikt Vieth in den Ahauser Nachrichten zitiert.
Zeugenkomplott
Immerhin durfte Céciles persönliche Assistenz (Schwerbehindertenrecht) im Saal neben ihr sitzen. Eine Barriere weniger. Sie und ihre beiden Laienverteidiger*innen reichten Rügen ein, u.a. weil das Gericht das rechtliche Gehör verletzt hat, die Akte unvollständig war und die Ermittlungen ausschließlich zur Belastung geführt wurden. „Ich glaube nicht an ein faires Verfahren“, erklärte Cécile.
Der Ablauf der Hauptverhandlung gab ihr Recht. Die Verteidigung rügte das Verhalten der geladenen Zeugen auf dem Gerichtsflur und reichte das Protokoll der Beobachtungen einer Augenzeugin ein. Demnach habe der Zeuge POR Sühling dem Zeugen Dr. Majert die Akte gezeigt. Die Augenzeugin sei dazwischengegangen. Auf ihre Anmerkung hin, dass die Zeugen die Akte nicht besprechen dürfen, habe man behauptet, dass es sich um Urlaubsfotos handle – auf DIN-A4 in Farbe gedruckt, wohl gemerkt. Cécile erklärte, dass insbesondere der Zeuge Sühling vorsätzlich rechtswidrig handele. Ein Polizeioberrat wisse genau, was er da tue. Deshalb könne das Verhalten der Zeugen als Zeugenkomplott betrachtet werden. Der Richter folgte dem Antrag der Verteidigung auf räumliche Trennung der Zeugen nicht, zeigte sich jedoch über das Verhalten der Zeugen erbost und rief alle sechs geladenen Zeugen zusammen, um sie zu belehren. Dies gefiel ihnen absolut nicht! „Ich fühle mich nicht angesprochen“, rief ein Polizeizeuge gereizt.
Nach Verlesung der Anklage setzte Cécile an, ihre Einlassung über die politischen Umstände des Verfahrens und ableistische, traumatisierende (Polizei)Gewalt vorzutragen. Nach fünf Stunden Verhandlung, selbst wenn es einige Pausen gab, fehlte ihr jedoch die Energie diese zu Ende vorzutragen. Die Verhandlung wurde beendet. Die Zeugen wurden ohne Vernehmung entlassen. Manch ein*e Demonstrant*in vor dem Gerichtsgebäude hat ihre Unmutsbekundungen zum Ablauf der Verhandlung mitbekommen. Tja, anzeigen müssen sie nicht.
Einstellung
Die Verhandlung wurde nicht fortgesetzt. Das Gericht unterbreitete zwischen den Verhandlungstagen der Angeklagten ein Einstellungsangebot gegen eine Geldauflage. Sie habe aus prozessökonomischen Gründen zugestimmt, so Cécile, denn sie sei nach wie vor davon überzeugt, dass die Polizeimaßnahme an jenem Tag rechtswidrig gewesen sei und die Zwangsanwendung, das Zufügen von Schmerzen unverhältnismäßig, sogar Körperverletzung waren. Für sie sei die Gerichtsverhandlung sehr belastend, auch aufgrund des langen Anreisewegs mit der Bahn und den zahlreichen Problemen, die es dabei mit der ungenügenden Barrierefreiheit gibt. „Ich behalte lieber meine Energie für den weiteren Kampf gegen den Weiterbetrieb von Atomanlagen wie der UAA in Gronau. Zumal meine eigene Klage gegen die Polizeimaßnahme noch läuft und das letzte Wort folglich nicht gesprochen ist.“, erklärte die Aktivistin. Die Klage gegen die Polizei ist vor dem Landgericht anhängig. Cécile hat inzwischen Akteneinsicht erhalten. Die Akte zur ED-Behandlung umfasst 500 Seiten, die ihr im Strafverfahren vorenthalten wurden.
Strommastbesetzungen gefährden Ihren Atomstaat. Es braucht mehr davon!
(1) Infos zur damaligen Aktion:
https://urantransport.de/2022/05/strommast-besetzt-urenco-den-saft-abdrehen/
(2) Ableismus bezeichnet eine Form der Diskriminierung, bei der behinderte Menschen Vorurteilen, Benachteiligung und Vorbehalten ausgesetzt sind. Der Begriff leitet sich von ability ab und beinhaltet die Annahme, dass Menschen mit Behinderungen weniger Wert oder weniger Fähigkeiten haben als nicht behinderte Menschen.