Vor 50 Jahren putschte mit Hilfe der USA das Militär in Chile. Der 1970 demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben, nachdem die Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda bombardiert hatte und Soldaten in den Palast eingedrungen waren. Zigtausende Linke wurden verhaftet und gefoltert. Amnesty International schätzt, dass 30.000 Menschen alleine im ersten Jahr der bis 1990 wütenden Pinochet-Diktatur ermordet wurden. Wir haben den 1974 in der Graswurzelrevolution Nr. 7 erschienenen Artikel „Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?“ auf graswurzel.net wieder zugänglich gemacht (1). In dieser GWR erinnern wir mit Artikeln von Isabel Lipthay und Stephan Ruderer an den durch „Nine-Eleven“ von vielen Medien weitgehend vergessen gemachten 11. September 1973 in Chile. (GWR-Red.)
Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär gegen die gewählte Regierung von Salvador Allende. Die Augen der Welt richteten sich damals auf das Land in Südamerika. Mit Allende war der erste marxistische Präsident demokratisch gewählt an die Macht gekommen und seine Idee, Chile innerhalb der demokratischen Institutionen zum Sozialismus zu führen, erschien vielen europäischen linken Parteien als anregendes Beispiel und Ausweg aus der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Die brutale Attacke des Militärs auf den Präsidentenpalast am 11. September 1973 und die anschließenden systematischen Menschenrechtsverletzungen der Diktatur von Augusto Pinochet machten diesen dann in der Welt – völlig zu Recht – zu dem Symbol für den grausamen lateinamerikanischen Diktator.
Nach dem Ende der Diktatur 1990 und der Festnahme Pinochets in London 1998 wurden auch die Versuche der Vergangenheitsaufarbeitung Chiles vor den Augen der Welt ausgetragen. International ist dabei das Urteil eindeutig: Während Allende für sein Eintreten für einen demokratischen Weg zum Sozialismus in vielen Teilen der Welt gewürdigt wird, ist Pinochet zum Sinnbild für den brutalen Tyrannen geworden.
In Chile selbst fallen die Urteile allerdings nicht so eindeutig aus. Die Rede zum 50. Jahrestag des Putsches wird der junge linke Präsident Gabriel Boric halten. Dieser hatte sich zu seinem Amtsantritt im März 2022 in die Tradition Allendes gestellt und Worte aus dessen berühmter Abschiedsrede vom Putschtag zitiert. Mit Boric wurden viele Hoffnungen eines Großteiles der chilenischen Gesellschaft auf tatsächlichen Wandel und eine Verbesserung der Lebenssituation vor allem der ärmeren Bevölkerungsschichten in Chile verbunden. Anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt ist die politische Lage im chilenischen Winter 2023 allerdings kompliziert. Um die Auswirkungen der aktuellen Situation auch auf die Debatten um den 50. Jahrestag des Putsches zu verstehen, muss man einen kurzen Blick auf die politische Entwicklung in den letzten Jahren werfen.
Als im Oktober 2019 in Santiago zahlreiche Metrostationen brannten und sich kurz darauf Massenproteste im ganzen Land gegen die damalige rechtsliberale Regierung formierten, schien die chilenische Gesellschaft endgültig „aufzuwachen“. (2) Die Forderungen der Protestierenden kanalisierten sich bald in der Idee, eine der wichtigsten Hinterlassenschaften der Pinochet-Diktatur, nämlich die Verfassung von 1980, endgültig zu ersetzen. Durch die Pandemie nur kurzfristig gebremst, entwickelte sich in Chile ein Verfassungsprozess, während dem im Jahr 2021 eine große Mehrheit von unabhängigen und linken KandidatInnen in den Verfassungskonvent gewählt wurden. Es bestand die Hoffnung und die Chance, eine moderne, progressive, demokratische Verfassung auszuarbeiten. In diesem Klima wurde Gabriel Boric gegen den Kandidaten der rechtsextremen Partei der Republikaner zum Präsidenten gewählt. Die Hoffnungen auf ein Ende des von der Diktatur aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftssystems in Chile, das eine höchst ungleiche Gesellschaft produziert, schienen sich zu erfüllen. Im September 2022 wurde dann allerdings der tatsächlich sehr progressive und moderne Verfassungsentwurf in einem Plebiszit von über 60 % der ChilenInnen abgelehnt. Die Gründe für diese Ablehnung sind vielfältig, sie liegen in erster Linie an einem mit hohen finanziellen Mitteln geförderten Angstdiskurs der Rechten, gleichzeitig musste man aber auch anerkennen, dass sich ein Großteil der chilenischen Gesellschaft von dem progressiven, linken Diskurs nicht „mitgenommen“ fühlte. Die Ablehnung bedeutete einen schweren Rückschlag für die Regierung Boric, die nach einem kurzen Schock in Verhandlungen mit der Rechten eintrat, um einen zweiten Verfassungsprozess voranzubringen. In diesem zweiten Prozess erzielten in der Wahl zu dem neuen Verfassungskonvent im Mai 2023 allerdings die Republikaner, also die rechtsextreme Partei, die sich an dem Vorbild der Trump-Partei in den USA orientiert und im Grunde gar keine Änderungen an der Pinochet-Verfassung befürwortet, eine große Mehrheit. Die Inhalte der neuen Verfassung werden jetzt also wesentlich von einer Partei bestimmt, die die Diktaturzeit verherrlicht, ein autoritäres Machtverständnis hat und das neoliberale Wirtschaftssystem unterstützt. Im Vergleich zum Oktober 2019 hat sich das politische Klima in Chile um 180 Grad gedreht.
Hier liegt die größte Gefahr für die Demokratie, denn in dieser „hybriden Erinnerung“, die gute und schlechte Seiten der Diktatur vermischt, bleibt die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur uneindeutig, der Unterschied scheint nicht allzu groß
Die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse müssen somit mitbedacht werden, wenn man die Erinnerungsdebatten um den 50. Jahrestag des Putsches in Chile betrachtet. Dabei ist die Regierung bemüht, ihrer Nähe zu den Menschenrechtsgruppen gerecht zu werden. Mit dem offiziellen Slogan zum 50. Jahrestag „Demokratie ist Erinnerung und Zukunft“ soll die Verbindung zwischen notwendiger Vergangenheitsbetrachtung und Zukunftsorientiertheit gelingen, mit dem Ziel, die gefährdete Demokratie zu stärken. Gleichzeitig wird in diesem Jahr ein Regierungsplan zur Suche der immer noch zahlreichen verschwundenen Opfer aus Diktaturzeiten gestartet und es wurden weitere Foltergefängnisse zu Gedenkstätten erklärt.
Der angestrebte Konsens, alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in eine große Erinnerungserzählung einzubeziehen, gelingt dabei jedoch nicht. Das zeigt auch der Fall von Patricio Fernández, dem offiziellen Regierungsberater in Sachen 50. Jahrestag. Fernández, ein enger Vertrauter von Präsident Boric, der aber kaum persönliche Beziehungen zur Menschenrechtsszene aufweist, musste im Juli zurücktreten, nachdem er in einem Interview gesagt hatte, dass es doch möglich sein müsse, die Gründe für den Putsch zu diskutieren, unabhängig davon, dass man die anschließenden Menschenrechtsverbrechen natürlich verurteilen müsse. Diese Aussage wurden von den Opfergruppen und der Kommunistischen Partei als eine Relativierung des Putsches gedeutet, so dass sie sich weigerten, an weiteren Regierungsveranstaltungen zum 50. Jahrestag teilzunehmen, wenn Fernández nicht zurücktrete. Dieser „interne“ Zwist auf der Linken lieferte natürlich eine Steilvorlage für den Diskurs der Rechten, die von „Cancel-Kultur“ redeten und den Opfergruppen vorwarfen, eine ideologisch gefärbte Erinnerung durchsetzen zu wollen.
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall in Chile, die Opfergruppen werden – wie in den letzten 30 Jahren Demokratie – immer noch viel zu wenig gehört, ihre Anliegen sind im öffentlichen Diskurs wesentlich weniger präsent als die Aussagen ehemaliger Diktatursympathisanten. Das liegt in erster Linie an einem der größten Probleme für die chilenische Demokratie, der monopolisierten Medienlandschaft. Noch immer sind die größten Tageszeitungen und Fernsehsender in der Hand von rechten Unternehmern, die gute Verbindungen zur Diktatur hatten. So ist es nicht verwunderlich, dass die aktuellen Debatten zum 50. Jahrestag in Chile in erster Linie von Diskurselementen der Rechten bestimmt werden.
Dabei lassen sich mindestens vier Argumentationslinien erkennen. Erstens gibt es, insbesondere von republikanischen PolitikerInnen, eine eindeutige Verherrlichung von Pinochet und dem Putsch, die auf ein klar antidemokratisches Weltbild verweist. Dieser Diskurs trifft allerdings auf den stärksten Widerspruch von fast allen anderen politischen Parteien, so dass mit eindeutig positiven Aussagen über Pinochet in Chile aktuell kaum mehr politischer Gewinn erzielt werden kann. Zweitens werden aber auch immer wieder die angeblichen Verbrechen der Allenderegierung mit denen der Diktatur gleichgesetzt, um diese in einem – historisch komplett widerlegten – Nullsummenspiel gegeneinander aufzuwiegen. Der meines Erachtens aber gefährlichste Diskurs für die aktuelle Demokratie spiegelt sich in einem dritten Element wider, bei dem die „schlechten“ Seiten der Diktatur, also die Menschenrechtsverbrechen, eindeutig verurteilt werden, gleichzeitig aber die „guten“ Seiten, also die wirtschaftlichen Reformen, betont werden. Auch das ist historisch komplett falsch – die Diktatur hinterließ über 40 % der Bevölkerung unter der Armutslinie, von wirtschaftlichem Erfolg kann keine Rede sein –, erscheint aber auf den ersten Blick als eine Position, der ein Großteil der Gesellschaft zustimmen könnte. Hier liegt die größte Gefahr für die Demokratie, denn in dieser „hybriden Erinnerung“, die gute und schlechte Seiten der Diktatur vermischt, bleibt die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur uneindeutig, der Unterschied scheint nicht allzu groß, so dass autoritäre Tendenzen durchaus als Alternative zur Demokratie angesehen werden können. Im Zusammenhang mit dem vierten Diskurselement, nämlich der Idee, die Vergangenheit doch ruhen zu lassen und den Blick in die Zukunft zu richten, liegt hier die größte Gefahr für die chilenische Demokratie.
Politik und Gesellschaft in Chile sind zum 50. Jahrestag des Putsches weit entfernt davon, einen Konsens zu finden, in dem eine Erinnerung vorherrscht, die über alle politischen Lager hinweg eine eindeutige Verurteilung der Diktatur beinhaltet. Dabei fehlen insbesondere Gesten und Zeichen der rechten Parteien, die während der Diktatur gegründet wurden, und von Militär und Unternehmertum. Eine Bitte um Entschuldigung für die Mitarbeit während der Diktatur wäre angebracht, ist aber angesichts der aktuellen politischen Lage in Chile äußerst unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher erscheint es, dass der Präsident Gabriel Boric in seiner Rede am 11. September 2023 zwar den Putsch, die Pinochetdiktatur und deren zahlreiche Verbrechen eindeutig verurteilt, diese Rede aber gleichzeitig auf Kritik bei einem großen Teil der chilenischen Gesellschaft stoßen wird. Die Aufgabe, zu einer gemeinsamen Erinnerungserzählung zu kommen, in der klar zwischen Diktatur und Demokratie unterschieden wird und alle politisch relevanten AkteurInnen die Idee des Nunca más (Nie wieder) teilen, bleibt auch 50 Jahre nach dem Putsch gegen Allende weiterhin bestehen.
(1) Der in der GWR 7/1974 erschienene Artikel „Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?“ wurde jetzt von GWR-Mitherausgeber Horst Blume abgetippt und online dokumentiert u.a. auf: https://www.machtvonunten.de/lokales-hamm/420-chile-ist-der-friedliche-weg-also-unmoeglich.html
(2) Siehe dazu: Das politische Erdbeben in Chile. Furcht und Hoffnung in einer neoliberalen Gesellschaft, Artikel von Stephan Ruderer, in: GWR 443, November 2019, https://www.graswurzel.net/gwr/2019/11/das-politische-erdbeben-in-chile/
Stephan Ruderer ist Professor für Lateinamerikanische Geschichte in Santiago de Chile.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.