Eine kollektive Arbeitsniederlegung einer Belegschaft, die unabhängig von Gewerkschaften einen Arbeitskampf führt, wird als „wilder Streik“ bezeichnet. Als Mittel im Arbeitskampf sind wilde Streiks fester Bestandteil vieler sozialrevolutionärer Bewegungen. Der „Revolutionäre Mai 1968“ in Frankreich, an dem sich auch viele Anarchist:innen beteiligten, gilt als größter wilder Streik in der neueren europäischen Geschichte. Wie aktuell „wilde Streiks“ sind, zeigt nicht nur der Lkw-Fahrer-Streik an der A5 in Gräfenhausen am 30. Juli 2023, sondern auch der folgende Artikel. (GWR-Red.)
Einige recht spektakuläre Aktionen der letzten Jahre führen dazu, dass Debatten um „wilde“ Streiks, um politische Streiks und das Streikrecht im Allgemeinen wieder aktuell geworden sind. Im Sinne der medialen Aufmerksamkeit waren dies vor allem der „wilde“ Streik der Riders bei Gorillas in Berlin, der Protest der Erntehelfer:innen bei SpargelRitter in Bornheim bei Bonn sowie der erst kürzlich beendete Ausstand der LKW-Fahrer an der Raststätte Gräfenhausen West bei Darmstadt (beim Verfassen dieser Zeilen begann an derselben Raststätte eine erneute Aktion von LKW-Fahrern gegen denselben Unternehmer).
Diese Beispiele zeigen schon auf, dass wir teilweise über grundverschiedene Dinge sprechen, wenn von „wilden“ Streiks die Rede ist. Zwar haben sie einiges gemeinsam: eine migrantische Zusammensetzung der jeweiligen Arbeitskraft, prekäre Bedingungen und in den Beispielen Gorillas und Gräfenhausen West verschiedeneAspekte der Transportlogistik. Womit wir bei den Unterschieden wären: Die Gorillas-Riders liefern Konsummittel an Endkund:innen, die LKW-Fahrer Produktionsmittel an Unternehmen. Das war entscheidend für die Frage, warum erstere immer noch vor Gerichten kämpfen, unterdessen das Unternehmen längst einen neuen Besitzer hat, die türkische Lieferfirma Getir; dagegen bekamen die LKW-Fahrer alle ihre Forderungen erfüllt. Des Weiteren arbeiteten die Berliner Riders mit einem Aufenthaltsstatus in Deutschland unter deutschen Arbeitsrechtsbedingungen, während die LKW-Fahrer formal selbstständig sind und auf Basis von EU-Rechten für ein polnisches Unternehmen fuhren. Zwar sind beide Belegschaften migrantisch, entstammen aber nichtsdestotrotz völlig verschiedenen Milieus: die Berliner Rider kommen (im Unterschied zu vielen anderen Standorten) oftmals aus einem akademischen, kulturaffinen und politisiertem Milieu (1) Die Besonderheiten des LKW-Fahrer-Streiks auf Gräfenhausen West erläuterten Nelli Tügel und Jan-Ole Arps kürzlich wie folgt: „Erstens: Die ausgebeutetsten und rechtlosesten Kollegen im Geflecht der Transportlogistik haben ihn geführt. Zweitens: Sie haben gewonnen, ohne Abstriche. Drittens: Sie haben enorme Solidarität aus der Region erfahren. Die mediale Aufmerksamkeit war nach anfänglicher Ignoranz durchgängig hoch. Viertens: Auch DGB-Gewerkschaften und der DGB selbst haben […] den Streik unterstützt“ (2).
Streiks – immer schon divers
Möglicherweise ist diese Unterschiedlichkeit (neudeutsch: Diversität) aber kein Argument gegen eine Streikwelle: Die Argumente gelten für die historischen „Gastarbeiter“-Streiks nicht weniger, auch diese waren in den frühen 1970ern schon „divers“. Zwar arbeiteten sie alle unter den Bedingungen der Anwerbeabkommen, dennoch sind entscheidende Unterschiede zwischen den einzelnen Streikhochburgen des Jahres 1973 festzustellen: Die Frage, ob der Staat, das Unternehmen oder eine Agentur die Anwerbung durchführte. Außerdem, wie lange sich die einzelnen Gastarbeiter:innen bereits in Deutschland aufhielten und bei wie vielen Firmen sie bereits gearbeitet haben, die jeweilige Art der Unterbringung (Baracken, Wohnheim oder städtische Wohnungen) und nicht zuletzt auch der jeweilige lokale oder firmeninterne Schwerpunkt der nationalen Zusammensetzung, etwa die Dominanz türkischer Arbeiter bei Ford Köln, griechischer Arbeiter:innen bei Pierburg Neuss oder spanischer Arbeiter:innen im Rhein-Neckar-Gebiet. Hinzu kommen soziale Unterschiede in der Frage ländlicher oder urbaner Herkunft sowie die verschiedenen Ausbildungen. Traditionell wurden die Streiks von 1973 auch immer damit erklärt, dass sich hier ein ländliches Subsistenzarbeits-Milieu erstmals einem Fabrikkommando unterwerfen musste, aber: „Das in der BRD tradierte, stereotype Bild von unqualifizierten Menschen aus ärmlichen, bäuerlichen Regionen, die in der ›modernen‹ BRD ankamen, deckt sich kaum mit der Realität. Die meisten ›Gastarbeiter‹ gehörten zu den besser qualifizierten ArbeiterInnen ihrer Länder“ (3). Nichtsdestotrotz gab es auch das rurale, unausgebildete Gastarbeiter:innen-Milieu.
Das Besondere an der Situation 1973 war die Kumulation des Streikgeschehens in einem Jahr, insbesondere sogar einem Monat (August) mit den bekannten herausstechenden Beispielen, die nahezu alle deutlich länger angedauert haben als die medial wahrgenommenen „wilden“ Streiks der Gegenwart (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Gräfenhausen West), und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Weltwirtschaft in ihre „nachhaltigste“ Nach-Weltkriegskrise stürzte (Ende des Bretton Woods-Systems, Stagflation; Beginn des Neoliberalismus mit dem Chile-Putsch), am Ende einer globalen Protestphase, die als „1968“ in die Geschichtsschreibung eingegangen ist und als das Ende der Anwerbeabkommen in Sichtweite war. Für die Streiks des Jahres 1973 ist das in dreierlei Weise entscheidend: Erstens waren sie global durch ein vergleichbares Streikgeschehen gerahmt (konzentriert auf die Metall- und noch konkreter die Automobilbranche), zweitens hatten sie eine breite Unterstützung aus linken und linksradikalen Kreisen (im Moment der „proletarischen Wende“ des studentischen Milieus) und drittens waren es auch Abwehrkämpfe gegen Arbeitsplatzverlust.
Teilweise stimmen diese Kriterien auch heute: Zumindest erleben wir seit 2007 ein wachsendes Krisenrauschen sowie die durch Corona und Ukraine-Krieg verstärkten Folgekrisen, das nun zurückliegende Jahrzehnt eines globalen Protesthochs (4) und eine erneute, wenn auch geringer und inkonsequenter ausfallende „proletarische Wende“ (etwa die Debatten um eine „neue Klassenpolitik“), die mit den Solidaritätsaktionen etwa der syndikalistischen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter Union (FAU) („Mall of Berlin“ oder SpargelRitter Bornheim) und allgemein der Riders der Lieferdienste korrespondierten sowie zu wachsenden Solikreisen führten wie jenen im Bereich der Amazon-Streiks z.B. in Leipzig und Hamburg.Auch wenn sich die Streiks durchaus zu verdichten scheinen, so sind sie (noch) nicht zu einem entscheidenden Streikjahr kumuliert. Es ist kaum unterscheidbar, ob sich tatsächlich die Zahl der „wilden“ und migrantisch geprägten Streiks verdichtet hat oder die mediale Aufmerksamkeit schlicht erhöht ist.
Peter Birke hat in seiner zu dem Thema immer noch maßgeblichen Studie „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder“ (2007) darauf hingewiesen, dass die meisten „wilden“ Streiks unter dem Radar der Öffentlichkeit stattfinden: In der Regel haben die Streikenden kein Interesse an dieser Öffentlichkeit, die Unternehmen möchten ebensowenig, dass die Zustände in den Betrieben bekannt werden. Durchaus exemplarisch sind hier die von Peter Birke in seinem jüngsten Buch „Grenzen aus Glas“ (2022) dokumentierten Aktionen in der Fleischindustrie: Obwohl die Branche während der Pandemie aufgrund von Masseninfektionen im Blickpunkt der medialen Öffentlichkeit stand, wurde über die durchaus stattgefundenen „wilden“ Streiks überhaupt nicht berichtet. Hier scheint allerdings ein anderer Mechanismus zu wirken: Man hätte die „Opfer“, für die man sich engagiert, gerne als passive, für die man reden kann. Nicht so gerne hat man, wenn diese sich selber äußern.
Die meisten „wilden“ Streiks sind kurz, finden oft in kleinen Betrieben statt und enden mit schnellen Kompromissen oder Zugeständnissen. Erst der eskalierte Ausstand wird zum „Fall“, der eine Schlagzeile wert ist. Bezüglich der Riders oder auch der Erntehelfer:innen bei SpargelRitter ist es teilweise der hervorragenden Medienarbeit linker Unterstützergruppen zu verdanken, dass sie das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, während andere, ebenso relevante „spontane“ Ausstände nahezu unbemerkt blieben – etwa die gleichzeitigen Streikaktionen rumänischer Bauarbeiter in Düsseldorf und Hamburg vor genau einem Jahr, die mutmaßlich von dem Subunternehmer initiiert wurden, um den insolventen Auftraggeber zur Zahlung zu bewegen (5); oder, weitaus spektakulärer, die vor allem von polnischen Bauarbeitern getragenen Streiks auf der dänischen Baustelle des Fehmarnbelt-Tunnels (6).
Arbeit und Kapital: Das dynamische Duo
1973 waren die Anwerbeabkommen bereits seit fast 20 Jahren in Kraft, das „Gastarbeiter“-Regime war verstetigt und verfestigt. Die meisten der aktuell wahrnehmbaren „wilden“ Streiks sind Ergebnis der europäischen Arbeitnehmerfrei-zügigkeit, die in Deutschland (und Österreich) erst 2011 ratifiziert wurde, also seit etwas mehr als einem Jahrzehnt gelten. Kurz: Die durch diese Rechtssetzungen in Gang gesetzten Unterschichtungen und Klassenneuzusammensetzungen sind noch jung. Und sie sind prozesshafter und schneller. Der erste größere der „neuen wilden Streiks“ fand im März 2014 bei der Papenburger Meyer-Werft statt, als ca. 300 osteuropäische Werkvertrags-Arbeiter dieselben Vertragsbedingungen wie ihre deutschen Kolleg:innen forderten. Dieser Kampf erfuhr im NDR und der Neuen Osnabrücker Zeitung zumindest lokale Aufmerksamkeit, da im Juli 2013 ein Brand in einem ausgedienten Hotel, bei dem zwei der neuen „Gastarbeiter“ ums Leben kamen, für bundesweite Schlagzeilen sorgte.
Von den damaligen Streikenden in Papenburg ist heute keiner mehr in Deutschland – der Verzicht auf Dreifachschichten und die Zahlung von deutschen Sozialabgaben ließen den Lohnzettel nicht besser aussehen als zuvor. Die Arbeiter der „Mall of Berlin“ erklärten vielfach, sie würden nie wieder in Deutschland arbeiten wollen (7). In der Fleischindustrie dominierten vor etwa einem Jahrzehnt noch polnische Arbeiter:innen, in der Corona-Phase war zumeist von bulgarischen und rumänischen Arbeiter:innen die Rede. Aktuell wird die nächste „Generation“ bereits in Moldawien rekrutiert. Die von osteuropäischen Firmen angeheuerten LKW-Fahrer kommen mittlerweile nur noch selten aus EU-Ländern, vermehrt werden die individuellen Kontrakte mit Fahrern aus dem östlichen Europa oder auch Asien – das erklärt die starke Solidarität z.B. aus Südkorea mit den Fahrern auf Gräfenhausen West – geschlossen. Der neoliberale Kapitalismus und die von ihm forcierte Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse erscheint somit dynamischer und schneller, als sich der Widerstand entwickeln kann. Aber er muss diese Neuzusammensetzung auch forcieren, weil die Bedingungen mittlerweile so mies sind, dass ihm die Arbeiter:innen weglaufen.
Globale „Streikwelle“?
Linke Medien haben in den vergangenen Monaten eine neue, globale Streikwelle diagnostiziert: Die vergleichsweise heftig geführten Warnstreiks in den tariflichen Auseinandersetzungen in Deutschland, außerdem die Streiks in England angesichts einer im Juni durchgesetzten weiteren Restriktion des Streikrechts, die Kämpfe der Intersyndicale in Frankreich gegen die Rentenreform und zukünftig auch bezüglich des Arbeitslosengeldes; darüber hinaus das „Erwachen“ der US-amerikanischen Arbeiterklasse und vor allem die revolutionären Generalstreiks im Iran legen eine neue Streiklust nahe. Klima- und feministischer Streik befeuern diese Stimmung. Skeptiker:innen machen dagegen darauf aufmerksam, dass diese Streiks sehr unterschiedliche Gründe haben und kaum oder gar nicht miteinander vermittelt sind: Die manchmal analysierte „Weltarbeiterklasse“ mag an sich real sein, sie ist aber noch keine Weltarbeiterklasse „für sich“, so ließe sich diese Skepsis zusammenfassen.
Dennoch:
Die skeptische, oft streng empirische Analyse (8) unterschätzt meines Erachtens das subjektive Element. Die Streikgründe mögen global sehr unterschiedlich sein, aber wahrnehmbar ist eben der Umstand, dass man gegen und für alles Mögliche offenbar streiken kann. Und selbst wenn etwa Deutschland immer noch irgendwo am unteren Ende der Streikstatistiken dümpelt und Streiken nach wie vor eine Minderheitenerfahrung ist (ebd.), so schlägt ihm doch deutlich mehr Sympathie entgegen. Kluge Befürworter:innen von General- oder politischen Streiks wissen, dass Generalstreiks nur dort entstehen, wo Streiken einigermaßen normal geworden ist (9). Jeder Streik und jede:r Streikende, so unterschiedlich (und so „reformistisch“) die jeweilige Motivation sein mag, ist wichtig, um „eine Atmosphäre zu schaffen, dass der Streik aus seiner Ausnahmesituation herauskommt und immer häufiger Situationen entstehen, wo man beim Streik nicht mehr nach der rechtlichen Zulässigkeit fragt“ (10). Von einer Weltarbeiter:innen-klasse lässt sich nie und nimmer reden, wenn man erwartet, dass diese einem gemeinsamen Ziel folgt, das am Katheter oder Laptop formuliert wurde, sondern nur, wenn man die vielfältigen Streiks der ebenso vielfältigen Arbeiter:innen als demokratische und materielle Kämpfe (als „wirkliche Bewegung“) anerkennt.
(1) Schön beschrieben in einem Beitrag der ehemaligen Gorillas-Riderin Duygu Kaya in der jungen Welt vom 24.8.2023, S. 12.
(2) analyse und kritik 693, Mai 2023, S. 19
(3) Engelschall 2005
(4) Le Monde diplomatique 2023
(5) Sperneac-Wolfer 2023
(6) vgl. chefduzen.de
(7) Lackus/Schell 2020
(8) Moody 2012
(9) Dribbusch 2023
(10) Wolfgang Däubler in SoZ 7/8 2023, S. 11
GWR-Autor Torsten Bewernitz ist Redakteur von „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“. Seine Beiträge zur Streikwelle 1973 sind zu finden unter https://nrw.rosalux.de/schwerpunkte/streiks-1973-2023
Literatur:
– Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. und Dänemark. Frankfurt a.M. 2007.
Birke, Peter: Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Berlin/Wien 2022.
– Dribbusch, Heiner: Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000– Daten, Ereignisse, Analysen. Hamburg 2023.
– Engelschall, Titus: The Immigrant Strikes Back. Spuren migrantischen Widerstands in den 60/70er Jahren, in: interface (Hrsg.): WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag & Aktion, Berlin/Hamburg 2005.
– Kaya, Duygu: Recht und Würde. Der Kampf migrantischer Arbeiter in Deutschland. Eine politliterarische Untersuchung der wilden Streiks von Ford bis Gorillas. In junge welt, 24.08.2023, S.12.
– Lackus, Hendrik und Schell, Olga: Mall of Shame. Kampf um Würde und Lohn. Rückblicke, Hintergründe und Ausblicke. Berlin 2020.
– Le Monde diplomatique: Auf den Barrikaden. Das Protestjahrzehnt 2011– 2021. Edition Le Monde diplomatique Nr. 32, Berlin/Paris 2023.
– Moody, Kim: Generalstreik und Massenstreik. In: emanzipation. zeitschrift für sozialistische theorie und praxis. 2/2012. S. 50-62.
– Sperneac-Wolfer, Christian: Die multiple Prekarität rumänischer Bauarbeiter in Deutschland. In: Sozial.Geschichte Online 34/2023. S. 189–217.