„Der Mittelpunkt der Welt ist sowieso überall“

P.M.s neuer literarischer Coup

| Jochen Knoblauch

P.M.: Von Shesti nach Kifnif. Ein Reisetagebuch. Hirnkost Verlag, Berlin 2023, Hardcover, 355 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-948675-37-0

P.M.: Amberland. Ein Reiseführer. Hirnkost Verlag, Berlin 2022, Paperback, 178 Seiten, zahlr. Abb., 14 Euro, ISBN 978-3-948675-40-0 (hier überarbeitete und aktualisierte Ausgabe der Erstausgabe von 1989)

Der Schweizer Autor P.M. ist bekannt für Bücher wie „bolo’bolo“ und „Weltgeist Superstar“. Nun hat er einen weiteren literarischen Coup gelandet. Ich würde mal sagen: Ein libertärer Abenteuer- und Fantasy-Roman.

Als 1989 im Zürcher Verlag „Paranoia City“ das Buch „Amberland. Ein Reiseführer“ erschien, soll es tatsächlich Menschen gegeben haben, die wissen wollten, wie man denn da hinkäme. Auf den theoretischen Schriften P.M.s basierend ist Amberland eine Insel, wo die Einwohner*innen beschlossen haben, sich nicht mehr dem Weltmarkt zu unterwerfen. Dementsprechend haben sie sich neu organsiert. Ein großer Streik (1864–66) hatte zur Folge, dass Gemeinschaften von 200 bis 500 Menschen sich in Lebensmittelhilfsvereinen zusammenschlossen und „burliks“ gründeten, von denen es heute ca. 8.000 gibt, bei einer Einwohner*innenzahl von ca. 3,2 Millionen. Durch Verträge und Tauschabkommen wird so ein einfacher Lebensstandart gesichert. Stolz sind die Isckarer*innen auf 70 % Arbeitslosigkeit, ein wirtschaftliches Minuswachstum von 4,6 % in einer Monarchie, die eigentlich niemanden interessiert. Das Leben auf Isckar ist durchaus kompliziert, aber bunt.
Nach dem Reiseführer jetzt also ein Reisetagebuch voller Erzählfreude, bei dem ich hier gar nicht so viel wiedergeben kann, wie ich mir notiert habe: Die Frage, wie man nach Amberland kommt – der Name stammt von den Kolonialisten der Insel, die Einheimischen bevorzugen Isckar – wird hier nun auch geklärt, denn in jedem Atlantik-Hafen gibt es in einer kleinen Nebengasse ein unscheinbares Reisebüro für Tickets nach Amberland/Ischkar. Der Ich-Erzähler Jean-Paul Travenier begibt sich auf die Reise durch verschiedene Sprach- und Kulturgemeinschaften, Religionsgruppen ohne Dogmen usw. Er wird in einen Diebstahl verwickelt und entführt, aber auch gerettet vor einer Spielsucht. Zudem wird er Übersetzer des bekanntesten Isckarischen Dichters Turan und schließt sich einer Kirche ohne Glaubenssätze an. Alles mit der Erkenntnis: „Aus mir wird definitiv kein Lawrence of Arabia.“ Das Leben ist nicht einfach, auch nicht in einer Utopie. Alles in einer flotten Erzählweise mit Witz, ökonomischen und filosofischen Gesprächen, sowie literarischen Anspielungen. So soll Allen Ginsberg die Insel fluchtartig wieder verlassen haben, nachdem er in einem Beat-Burlik war, wo die Zeit im New York der 1960er Jahre stehengeblieben ist.

„Lieber ein Himmel ohne Gott als einer ohne Wolken“ (Altes ambrisches Sprichwort).

Im Gegensatz zum letzten Buch von P.M., dem Sci-Fi-Roman „Die Leitung“, der in einer absoluten Dystopie zu enden drohte, bleibt hier das Ende offen – ohne jetzt zu viel zu verraten. Mit diesem Buch hat P.M. einen Abenteuer- und Fantasy-Roman geschaffen (sprechende Tiere usw. kommen auch vor), der ohne den üblichen „Gut vs. Böse-Quatsch“, ohne die ermüdenden Gemetzel und lästigen Intrigen auskommt, die den gängigen Moral- und Spannungserwartungen folgen. Spannung und Fantasie entstehen durch die bildhaften Angebote, die uns der Autor offeriert und wo wir überlegen können, welcher Gemeinschaft wir uns selber anschließen würden. Daneben wird Isckar zum Sehnsuchtsort, der uns in Schwingungen versetzen könnte, warum wir eigentlich so unfähig sind, in einem System zu leben, welches uns krank und einsam macht. Fantasie ist ein wirkmächtiges Instrument. Bücher wie diese könnten Kämpfer*innen, die permanent gegen dieses System hier anlaufen, eine schöne Pause ermöglichen. Ein ständiges Dagegensein ist ermüdend, manchmal hilft es vielleicht auch mal für etwas zu sein.

Sollte jemand darauf kommen, dieses Buch zu verfilmen, dann dürfte es wohl der abgedrehteste Film aller Zeiten werden. Und noch eine Anmerkung ohne jegliche Beurteilung: Wer einen Vornamen für seinen Nachwuchs sucht, wird hier auf eine große Anzahl spezieller Namen stoßen. Und – typisch Hedonist – gegessen wird immer, inklusive „Muttermilchkäse“, aber das stellte sich als Scherz heraus. Vielleicht sollte man mit dem Glossar hinten anfangen.
Ich habe das Buch mit Genuss gelesen.

Nachtrag: Im Herbst 2023 jährt sich zum 40. Mal das Erscheinen von „bolo'bolo“. Eine überarbeitete Jubiläumsausgabe wird vermutlich im Hirnkost Verlag erscheinen.