Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika und ihre Folgen

| Horst Blume

Aert van Riel: „Der verschwiegene Völkermord. Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika“Papyrossa Verlag, Köln 2023, 178 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-89438-812-6

Als 1884 in Deutschland die Afrika-Konferenz stattfand, um die imperialen Gebietsansprüche der EuropäerInnen untereinander abzustimmen und das zukünftige Raubgut aufzuteilen, sprachen die dort versammelten VertreterInnen der Staaten schönfärberisch von der „Hebung des Wohlstands“ und von der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Nicht viel anders wird heute von den VertreterInnen der Länder des globalen Nordens bei Handels- und Energielieferungsabkommen von einer angeblichen Win-win-Situation gesprochen, obwohl sie selbst einseitig von ihr profitieren.
Dass Deutschland große Kolonien besaß und dort schwerste Verbrechen begangen hatte (vgl. GWR 481), ist heute vielen Menschen nicht bewusst. Als ich in den 60er Jahren in der Realschule im Musikunterricht aus der „Mundorgel“ das den Kolonialkrieg verherrlichende Lied „Heia Safari“ (später interpretiert von Heino) mit den Zeilen „Wie oft sind wir geschritten auf schmalem N….pfad“ mitsingen musste, wusste ich nichts über den Maji-Maji-Krieg von 1905 bis 1908 in der Kolonie Ostafrika (Tanganjika, Burundi, Ruanda, ein kleiner Teil von Mosambik), bei dem etwa 300.000 AfrikanerInnen durch die deutschen Kolonialtruppen ermordet wurden.
Immerhin gibt es heute einige Bücher zu diesem Thema. In dem vorliegenden Werk von Aert van Riel wird die gewalttätige deutsche Kolonialpolitik nicht nur dargestellt, sondern es werden vor allem auch ihre schlimmen Auswirkungen in den nachfolgenden Jahrzehnten bis heute beschrieben und darüber hinaus die sehr unterschiedliche Aufarbeitung der Verbrechen in Tansania auf der einen und in der BRD und DDR auf der anderen Seite analysiert.

Vernichtungskrieg

Um den Widerstand der einheimischen Bevölkerung zu brechen, führte Deutschland von 1891 bis 1897 etwa 60 Unterwerfungsfeldzüge in Ostafrika durch. Bei dem späteren Maji-Maji-Krieg wurde gezielt durch Zerstörung der Lebensgrundlagen eine Strategie der „verbrannten Erde“ eingesetzt. Die von rassistischen Vorurteilen getriebenen deutschen Mörder bezeichneten ihr brutales Verhalten selbst als „Vernichtungskrieg“. Aert van Riel stellt dar, dass das deutsche Kaiserreich das Ziel hatte, sich für die Industrialisierung Rohstoffe anzueignen und die eigene Bevölkerung mit „Kolonialwaren“ wie Kaffee und Tabak zu versorgen. Außerdem wurden die AfrikanerInnen durch die willkürliche Erhebung von „Hüttensteuern“ in eine Steuerschuld getrieben und anschließend versklavt.
Zeitgleich stellten sich die christlichen Kirchen in den Dienst der UnterdrückerInnen. Der Missionar Alexander Merensky bekam sogar finanzielle Zuwendungen für seine Schrift „Wie erzieht man am besten den N…. zur Plantagen-Arbeit?“
Folter und Ermordungen im großen Stil standen auf der Tagesordnung. Eine wahre Schreckensherrschaft errichtete jahrzehntelang der Gründer der Gesellschaft für deutsche Kolonisation Carl Peters, dessen Name (Hänge-Peters) noch heute in Tansania schlimme Gefühle weckt. In Deutschland wurden ihm Denkmäler und Straßen gewidmet. Auf Helgoland stand vor der Jugendherberge ein Peters-Denkmal, das in den 60er Jahren zu einer peinlichen Situation führte, als der tansanische Botschafter die kleine Insel, die 1890 gegen die Tansania vorgelagerte Insel Sansibar zwischen Deutschland und Großbritannien angeblich „getauscht“ wurde, besuchte. Der stellvertretende Präsident und Nachfolger von Peters in der Kolonial-Gesellschaft wurde 1931 Konrad Adenauer.

Nicht nur Kilimandscharo

In diesem Buch zeigt von Riel an vielen Beispielen, dass es auch heute noch zahlreiche in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Berührungspunkte zwischen der BRD und Tansania gibt. Als journalistisches Bonmot wird auch heute noch in Zeitschriften gerne darauf verwiesen, dass der 5895 Meter hohe Kilimandscharo, der bis 1964 noch Kaiser-Wilhelm-Spitze bzw. Wilhelmskuppe hieß, einmal der höchste „deutsche“ Berg gewesen sei. Interessanter ist van Riels ausführlicher Hinweis auf das heute durch die Pandemieberichterstattung sehr bekannte, bereits 1891 gegründete Robert-Koch-Institut, dessen Namensgeber 1906 an tausenden Menschen tödlich verlaufene Experimente bei der Erforschung der Schlafkrankheit in Ostafrika durchführte. Der in Ostafrika und Togo praktizierende Kolonialarzt Claus Schilling, der ebenfalls wie Koch agierte, führte später im Nationalsozialismus im KZ an über tausend Häftlingen tödliche Experimente durch.
In einem besonderen Kapitel des Buches wird die Erforschung des Genozids in Ostafrika dortselbst und der Umgang mit dem Völkermord hierzulande bis heute nachgezeichnet. Hierzu gehört auch die Debatte um die Rückgabe von Kunstgegenständen und tausend Schädeln, die sich noch immer in Deutschland befinden. Inzwischen gibt es in vielen Städten Initiativen, die sich engagiert dafür einsetzen, dass Straßen, die nach deutschen Mördern und Verbrechern in den ehemaligen Kolonialgebieten benannt sind, andere Namen erhalten. Hierdurch wird eine längst überfällige Aufarbeitung der Verbrechen angestoßen. Van Riel bemängelt, dass im Gegensatz zu Tansania in der BRD in den Schulbüchern die Kolonialpolitik viel zu wenig kritisch dargestellt wird. Das gipfelt sogar in Fragen an SchülerInnen der 9. und 10. Klasse, „welche positiven Auswirkungen die deutsche Kolonisierung auf den afrikanischen Kontinent hatte“!
Tansania gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt und wird zur Zeit zunehmend autokratisch regiert. Van Riel streift die seit 1967 zeitweise praktizierte Selbstverwaltung auf Gemeindeebene, auch Ujamaa-Sozialismus genannt, leider nur kurz, um sie als „Utopie“ abzutun. Er findet es wichtiger, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung Karl Marx’ „Kapital“ in die ostafrikanische Sprache Kiswahili übersetzt, damit der Kampf in Zukunft auf „wissenschaftlicher“ Grundlage „richtig“ geführt werden kann.
In dem Buch finden sich ausführliche Hintergrundinformationen bis hin zu aktuellen Fragen der „Entwicklungshilfe“ und der Diskussion um eine mögliche „Entschädigung“, die ansonsten nur schwer zu erhalten sind. Aert van Riel hat mit vielen Menschen aus der tansanischen Zivilgesellschaft gesprochen. Dieses Buch wird helfen, die Debatte über die Folgen der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika mit vielen wichtigen Hinweisen und Einschätzungen zu bereichern.