Paul Sörensen Präfigurative Politik. Eine Einführung, Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2023, 166 Seiten, 14 Euro, ISBN 978399136-502-0
Anarchistisches Denken scheint inzwischen auch im deutschsprachigen Raum einen Einzug in akademische Debatten zu halten. Die Bücher von Paul Sörensen zum Konzept der „Präfigurativen Politik“ sprechen für diese zaghafte Tendenz. So bezieht sich der Politikwissenschaftler auf aktuelle Autor*innen des Anarchismus zu seinem Thema, etwa Murray Bookchin, Richard Day, David Graeber, Uri Gordon, Marina Sitrin, Bini Adamczak, Eva von Redecker, Daniel Loick oder Erik Olin Wright.
Präfiguration bedeutet Vorbildfunktion oder Verbildlichung, welche alternative Projekte, Beziehungen und Praktiken erhalten können. Sörensen findet dafür die etwas blumige Beschreibung eines „Bildgebungsverfahrens“ mit welchem ebenfalls andere Menschen gebildet werden. Präfiguration ist somit das Aufscheinen der erstrebenswerten, anderen Gesellschaftsform in der Hülle der maroden Herrschaftsordnung. Mit ihr wird demonstriert, dass andere Verhältnisse möglich sind und ausgeweitet werden können. Zugleich werden mit präfigurativen Ansätzen experimentell Veränderungen erreicht, welche Voraussetzung für sozial-revolutionäre Transformation im Großen sind, als auch bereits als wesentlicher Bestandteil derartiger Wandlungsprozesse begriffen werden können.
Schon der kommunitäre Anarchist Gustav Landauer (1870 – 1919) thematisierte dieses theoretische Konzept und den strategischen Ansatz umfassend – wenngleich er dafür nicht die Bezeichnung „präfigurativ“ verwendete. Aus diesem Grund sieht Sörensen vor allem in der anarchistischen Tradition eine Debatte über Präfiguration „avant le lettre“ (vor dem Brief). Wenn ich im Folgenden Kritik an den Ausführungen übe, dann deswegen, um die Diskussion weiter zu spinnen und herauszustellen, dass ich Sörensens Beitrag wertschätze und es prinzipiell richtig finde, dass sich auch Akademiker*innen mit anarchistischen Perspektiven beschäftigen und diese weiterentwickeln.
Präfiguration als Problematisierung von Politik und Begriffsgeschichte
Im Buch geht der Autor zunächst von einem mittlerweile breiteren Interesse am Konzept der Präfiguration aus (Kapitel 2). Von besonderem Interesse ist sein Insistieren darauf, dass Präfiguration durchaus als „politischer“ Handlungsmodus zu begreifen wäre – so als wäre mit diesem Adjektiv eine besondere Auszeichnung verbunden. Ich denke es gälte dagegen eher zu betonen, dass präfigurative Praktiken nicht vor allem zu einer Umdeutung des Politischen führen, sondern dieses vielmehr überschreiten. Dies bedeutet auch, dass die „Frage nach ihrer Erfolgsträchtigkeit [welche sich] […] eine als politische Strategie etikettierte Praxis gefallen lassen“ (S. 144) müsste, wie der Autor reflektiert, eine von ihm fingierte Frage bzw. ein von ihm auferlegter Anspruch unter der von ihm gewählten Etikettierung darstellt. Sörensens Schlussfolgerung ist nachvollziehbar – aber nicht die einzige, zu welcher man in der Beschäftigung mit präfigurativen Praktiken gelangen kann. Vielmehr ließen sich mit ihnen politisches Handeln auch als Problem markieren, für welches im anarchistischen Denken gleichwohl nur wenig überzeugende Lösungsansätze vorgeschlagen werden.
Weiterhin rekonstruiert der Autor die Begriffsverwendung durch die häretisch-marxistischen und libertären Denker-*innen Daniel Guérin, André Gorz, Carl Boggs, Sheila Robothham und Wini Breiners (Kapitel 3). Insbesondere Boggs prägte explizit den Begriff der „Präfiguration“ mit einer Schrift von 1977. Die kenntnisreiche Darstellung ist hilfreich, um Begriffe der anarchistischen Theorie zu schärfen. Sörensen widmet sich den Aspekten der Unmittelbarkeit, praktischen Propaganda, der Mittel-Zweck-Debatte und den Ansichten zu einer strategischen Verwendung präfigurativer Praktiken (Kapitel 4). Ob Präfiguration als „strategischer“ Ansatz zu verstehen ist, ist eine Frage, die sich analog zu ihrer Beschreibung als (anti-)politisch stellt.
Emanzipatorische Vergeschwisterung in der Vorwegnahme?
Anschließend beschäftigt sich Sörensen mit Landauer und Antonio Gramsci, wobei sein sprachlicher Versuch der Vergeschwisterung mit ihnen in einem Kontrast zu seiner sonst strikt akademischen Schreibweise steht. Weil beide sich mit Präfiguration beschäftigten, sei auch eine Vergeschwisterung von Anarchist*innen und Kommunist*innen möglich, scheint die Botschaft zu sein (Kapitel 5). Mit diesen Versuchen, anarchistische und kommunistische Stränge zu vermitteln, folgt Sörsensen anderen linken Intellektuellen wie von Redecker, welcher dazu Marx ziemlich weit verbiegt (1), Adamczak, welche die handfesten Auseinandersetzung zwischen den Lagern in der russischen Revolution als bloße „Missverständnisse“ schönredet (2) oder auch Loick, welcher meint, Anarchist*innen in Fragen beraten zu müssen, welche sie gar nicht gestellt haben (3). Dies mutet umso seltsamer an, da Sörsensen ja selbst weiß und erwähnt, dass Gramsci seine Überlegungen zur Präfiguration maßgeblich in Anschauung der seinerzeit erfolgreichen anarchistischen und syndikalistischen Projekte entwickelte – um sie für die kommunistische Übernahme der Staatsmacht in Dienst zu nehmen. In der Umdeutung Gramscis zu einem angeblich libertären Denker, liegt Sörensen im Trend seiner akademischen Zeitgenoss*innen.
Spannend ist auch die Frage, ob „präfigurative Politik“ überhaupt „links“ ist, wobei die Definition dessen, was als „links“ gilt, nicht besonders überzeugend vorgenommen wird. (Exkurs) Wie die meisten anderen Konzepte (etwa direkte Aktion oder Selbstorganisation), Taktiken (z.B. der Schwarze Block, Landkommunen gründen) und Praktiken (z.B. Küfas und Selbstbildung) wird auch „Präfiguration“ zwar stark mit dem Anarchismus assoziiert, ist aber kein reines Markenzeichen von ihm. Sörensen behandelt zurecht die zeitgenössischen völkischen Siedlungsversuche, welche auch in einer Tradition stehen, ebenso wie die Thematisierung „rechter“ Alternativ-Szenen. Die Frage nach der politisch-weltanschaulichen Zuordnung präfigurativer Praktiken entspricht dem verwendeten Verständnis von Utopie. Meines Erachtens nach, sollten wir Präfiguration und Utopie keinen bestimmten normativen Gehalt unterstellen, sondern davon ausgehen, dass es anarchistische wie faschistische, christlich-konservative wie ultra-liberale Utopien gibt – und dementsprechend auch jene Projekte, Gruppen, Praktiken und ethischen Lebensstile, die darauf verweisen. Zu diesem Schluss gelangt im Grunde genommen auch Sörensen und betont damit, dass damit präfigurative Ansätze nicht diskreditiert werden – nur umfassender zu beschreiben wären sie eben.
Im Wissen darum, dass die Einwände gegen präfigurative Ansätze leicht wunde Punkte der Konzeption treffen, will Sörensen diese ernst nehmen, aber dennoch eine Lanze für die Präfiguration brechen. Er sortiert diese in die Rubriken „Selbstreferenzialität“, „Selbsttäuschung“ und „Selbstverzwergung“ (S. 109). Meiner Ansicht nach gelingt es dem Autor hierbei auf sympathische Weise die Fundamentaleinwände gegen jegliche Alternativen, mit denen gerade in der deutschen Linken so ausgiebig um sich geworfen wird, zu entkräften bzw. auf eine höhere Stufe zu heben.
Fazit
Ich finde Sörensens Beitrag zur Arbeit an einem Begriff, der zurecht in den theoretischen Werkzeugkoffer des Anarchismus gehört, sehr wichtig. Allgemein täte es ähnlichen Darstellungen aber gut, wenn sie sich stärker vom akademischen Sprachgebrauch und dem dahinter stehenden Selbstbild entfernen würden. Dies wäre die Voraussetzung, um ein anderes Bild von anarchistischen Intellektuellen zu zeigen, deren Theorie noch viel enger mit den Kämpfen von Menschen in sozialen Bewegungen und eigenen Erfahrungen darin verknüpft ist, statt vorrangig auf ominöse „aktivistische Kreise“ zu verweisen.