„Diese Partnerschaft ist unsere Hoffnung“

| Netta Ahituv, Nadin Abou Laban, 12. Oktober 2023

Jüdisch-arabische Solidaritätsinitiativen. In ganz Israel bündeln Jüdinnen, Juden und Araber:innen ihre Kräfte, um Kriegsopfern zu helfen und Unruhen zu verhindern. In Haifa und Jaffa versuchen gemeinsame jüdische und arabische Patrouillen, Gewalt auf beiden Seiten zu verhindern. Im Süden riskieren Beduinenbewohner:innen ihr Leben, um nach Opfern des Hamas-Terrors zu suchen. Im Schatten des Krieges entstehen arabisch-jüdische Solidaritätsinitiativen.

„Am Sonntag, dem zweiten Kriegstag, sahen wir ein enormes Chaos und erkannten, dass wir etwas tun müssen“, sagte Sleman Shlebe, ein Beduine aus dem nördlichen Negev, der in kurzer Zeit rund 600 Freiwillige rekrutierte, hauptsächlich vom Stamm der Azazmeh, der mit seinen Geländefahrzeugen ankam und Notfallteams zusammenstellte, um nach vermissten Israelis zu suchen.
„Wir hatten von vermissten Menschen sowohl in der arabischen als auch in der jüdischen Gemeinde gehört und wussten, dass wir dank unserer außergewöhnlichen Kenntnis des Südens helfen konnten“, sagte er. „Wir haben uns so auf die Autos aufgeteilt, dass es (in jedem Wagen) Leute gab, die für verschiedene Dinge verantwortlich waren: Informationen sammeln, retten und Erste Hilfe leisten.“
Innerhalb kurzer Zeit bestätigte eines der Teams, dass eine bis dahin als vermisst gemeldete Person getötet worden war. Nach dieser tragischen Entdeckung wurden die Telefonnummern der Teammitglieder weit verbreitet, sodass unaufhörlich ein Strom von Unterstützungsanfragen einging.
„Innerhalb kürzester Zeit“, sagte der 48-jährige Shlebe in einem Telefoninterview, das er vor Ort führte, „erhielten wir zig Anrufe und Nachrichten von Eltern, die uns anflehten, ihnen zu helfen, herauszufinden, was mit ihren Kindern passiert war. Ebenso von Menschen, die uns gebeten haben, sie aus ihren Häusern oder von den Feldern zu retten. Wir haben versucht, auf alles zu reagieren und jedem zu helfen, der Kontakt aufgenommen hat.“
All dies geschah, obwohl er und seine Leute keine Waffen hatten – und bewaffnete Hamas-Terroristen immer noch in der Gegend umherzogen. „Es stimmt, dass einige von uns im Sicherheitsdienst arbeiteten, aber wer würde einem Beduinen eine Waffe geben?“
Shlebe fuhr fort: „Einer der Anrufe kam von einem Arabisch sprechenden Menschen, der sagte, er sei angeschossen worden. Er bat uns, ihn auf einem Feld am Gazastreifen zu retten. Als wir dort ankamen, wurde uns klar, dass es ein Terrorist war, der versuchte, uns alle zu töten. Zum Glück kamen wir lebend heraus. (…)“
Die Tatsache, dass ein solch lebenswichtiger Rettungsapparat buchstäblich über Nacht geschaffen worden war, wurde den etablierten Sicherheitskräften in der Region bewusst. Irgendwann entsandten sie Polizisten und Wachen des Regionalrats, um die Beduinentrupps bewaffnet zu eskortieren. „Sie erkannten, dass unser Wissen wichtig war, und wir nutzten es, um Araber und Juden vor Gefahren zu retten“, sagte Shlebe und fügte hinzu, dass die Beduinen-Freiwilligen gemeinsam mit den anderen Kräften Hunderte von Menschen in Dutzenden von Orten suchten, verteidigten und bei deren Rettung in den folgenden Tagen halfen.
„Wir standen vor Armeestützpunkten, um Menschen ins Krankenhaus zu evakuieren. Zusammen mit bewaffneten Teams drangen wir in jüdische Gemeinden ein, in denen es Terroristen gab. Wir sammelten die Überlebenden der Party [der Supernova-Rave in der Nähe des Kibbuz Re’im] ein, die sich stundenlang draußen versteckt hatten. Wir versuchten, jedem zu helfen, aber leider kamen wir für viele zu spät.“
Shlebe lebt in Bir Hadaj, einem landwirtschaftlich geprägten Beduinendorf, das 2003 offiziell vom Staat anerkannt wurde. Aber die meisten Freiwilligen, die sich der Such- und Rettungsaktion anschlossen, leben in nicht anerkannten Dörfern in der Wüste am Highway 40, wo keine Sirenen vor den Luftangriffen zu hören sind und wo es keine Luftschutzbunker gibt. Einige ihrer Dörfer haben nicht einmal richtige Schulen.
„Viele von uns haben das Gefühl, dass der Staat uns im Stich gelassen hat, aber wir haben ihn nicht im Stich gelassen“, sagte Shlebe und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass seine elf Kinder eine gute Ausbildung erhalten und in Sicherheit sind und dass die Häuser in seinem und anderen nicht anerkannten Dörfern in den kommenden Tagen nicht ohne Wasser und Strom dastehen.
Shlebes beeindruckendes und mutiges Team wurde ad hoc mitten im Krieg zusammengestellt. Allerdings betreiben ein Dutzend Bewohner:innen von Bir Hadaj in ihrer Gemeinschaft eine Freiwilligengruppe, die routinemäßig Notfallrettung und medizinische Dienste leistet. Natürlich haben alle zwölf in der vergangenen Woche zu den Kriegsanstrengungen beigetragen. Daher war es schwierig, Ahmed Abu Habak, den Leiter dieser Gruppe, das sogenannte lokale Notfallteam, zu erwischen, das in Abstimmung mit den israelischen Streitkräften, der Polizei, der Feuerwehr und anderen Rettungsdiensten arbeitet.
Am Samstag gelang es Abu Habak und seinen Leuten, ein Opfer der Schießerei in das Soroka Medical Center in Beer Sheva zu bringen, nachdem der Krankenwagen mit dem Mann angehalten worden war, weil die Straßen blockiert waren. Am Sonntag geriet er selbst zeitweise in eine Falle durch einen Terroristenbeschuss. Am Montag wartete er auf das Eintreffen der Soldaten und übergab ihnen einen unbewaffneten Terroristen.
„Wir fanden seine Fußabdrücke, die zur Tze’elim-Armeebasis führten“, sagte Abu Habak gegenüber Haaretz. „Wir haben ihn aufgespürt, gefangen genommen und auf die Armee gewartet.“
Alle zwölf Freiwilligen von Bir Hadaj haben eine Erste-Hilfe-Schulung bei den Rettungsdiensten Ihud Hatzala oder Magen David Adom absolviert. Abu Habak nahm an speziellen Kursen für Ersthelfer teil (…).
Am Sonntag rief eine Familie aus der Beduinenstadt Shaqib al-Salam, alias Segev Shalom, an und bat um Hilfe, nachdem Terroristen in ihre Gemeinde eingedrungen waren. Das örtliche Notfallteam habe „seine Verbindungen“ in der IDF alarmiert und sei so schnell wie möglich eingetroffen, sagte er. Als sie ankamen, befanden sich die dortigen Soldaten mitten in einer Schießerei mit vier Terroristen. Unter Beschuss konnten Abu Habak und seine Leute die Familie retten.
Obwohl es ständig in äußerst gefährliche Aktivitäten verwickelt ist, ist es dem Team auch hier nicht gestattet, Waffen zu tragen. Es operiert daher oft in einer Art Tandem mit Beamt:innen der Polizeistation Segev Shalom. Diese gemeinsame Aktivität, manchmal in Zeiten großer Not, hat freundschaftliche Beziehungen zwischen ihnen geschaffen. Zusätzlich zu den erschütternden Szenen, die Abu Habak diese Woche miterlebte, verlor er zwei enge Freunde bei der Polizei. Einer davon war Oberkommissar Itzhak Bazuka-Shvili, Kommandeur der Polizeistation Segev Shalom. Der andere war Shalom Tzaban, Kapitän der Feuerwehrstation Kiryat Gat. Beide wurden im Kampf gegen Hamas-Kämpfer in Sderot getötet.
Der Wunsch, sich ehrenamtlich zu engagieren und zu helfen, schien diese Woche bei den Beduinen im Süden Israels groß zu sein. (…)
Auch die erfahrene Dozentin und Sozialaktivistin Amal Abo Alkom, die unter anderem als Direktorin der NGO Bedouin Women for Themselves in Segev Shalom fungiert, richtete eine Kommandozentrale ein, um lokalen Beduinen und Juden in Not zu helfen. „Ich habe seit Samstag nicht mehr geschlafen“, sagte sie später in der Woche, nachdem sie und andere Frauen ihrer Organisation begonnen hatten, zwischen den Städten unterwegs zu sein und Grundnahrungsmittel, Medikamente und Spielzeug für Kinder zu verteilen. In der Regel fragen sie die Bewohner:innen, was sie brauchen, und versuchen auch, denjenigen, die ein akutes persönliches und kollektives Trauma erleben, ein offenes Ohr zu bieten.
„Einige Freunde, Psychologen im ganzen Land, sowohl Araber als auch Juden, haben angeboten, zu helfen und beispielsweise mit Mitgliedern der Alkra’an-Familie und anderen zu sprechen, die ihre Lieben verloren haben, aber es wird nicht funktionieren, wenn das Internet hier schwach ist“, sagte Abo Alkom. „Diese Menschen brauchen persönliche Hilfe. Sie brauchen Sozialarbeiter, die hierher kommen, aber im Moment haben alle Angst vor einer Reise. Ich verstehe die Angst, also tauche ich stattdessen auf.“
Die Großfamilie Alkra’an hat vier Kinder verloren – zwei Brüder, Malek, 15, und Jawad, 14, sowie zwei Cousins, Amin Akal, 11, und Mahmoud Diab, 12. Sie wurden am Samstag getötet, als eine in Gaza abgefeuerte Rakete die Hütte traf, in der sie sich zu der Zeit aufhielten. In der Nähe gab es keinen Luftschutzbunker. Am nächsten Tag besuchte Abo Alkom die Familie, mit der sie verwandt ist, und hörte von dem großen Trauma, das sie erlitten hatte. Der Vater erzählte den Besucher:innen, wie er zwischen den Trümmern nach seinen Kindern gesucht, Leichenteile gefunden und verzweifelt versucht hatte herauszufinden, was mit wem passiert war. „Viele andere aus meiner Gemeinde werden vermisst oder sind verletzt“, fügte Abo Alkom hinzu. „Außerdem wurden viele meiner jüdischen Freunde als Geiseln genommen, verletzt oder getötet. Der Schmerz ist total und unfassbar.“

Zwischen Moschee und Synagoge

Am Samstagabend wurde eine Nachricht an Mitglieder zahlreicher aktivistischer WhatsApp-Gruppen über die Einrichtung einer gemeinsamen arabisch-jüdischen Zivilgarde in Tel Aviv-Jaffa gesendet. Ihr Ziel: Die Anwohner:innen unabhängig von Religion oder ethnischer Herkunft zu schützen, falls es unter ihnen zu Zusammenstößen kommt. Innerhalb weniger Stunden schlossen sich rund 1.000 Menschen der neuen WhatsApp-Gruppe des Wachmanns an. Fast 500 Menschen hörten an diesem Abend während einer Videokonferenz zu – Juden und Araber. Alle waren bereit, sicherzustellen, dass sich die Ereignisse vom Mai 2021 nicht wiederholen würden, als es während einer Reihe von Kämpfen in Gaza zwischen Israel und Palästinensern zu interkommunalen Unruhen in Jaffa und anderen „gemischten“ Städten kam. Der Hauptredner war Rechtsanwalt Amir Badran, ein städtischer Beamter, der im Namen der Partei „We Are The City“ für das Amt des Bürgermeisters kandidiert.
„Ich komme aus Jaffa und ziehe hier vier Kinder groß“, sagte er zu Beginn der Konferenz. „Für mich ist es wichtig, dass sie und wir alle Frieden in unserer Stadt haben und dass wir hier zusammen leben können. Wenn wir nicht zusammenleben können, sind wir verletzlicher. Dies sind schwierige Tage und sie werden weiterhin schwierig sein, aber wir haben immer noch Hoffnung.“
Der Vorsitzende des Nachbarschaftsrats Ajami und Jabaliya in Jaffa, Ramzi Abi Taleb, stimmte Badran zu. „In den sieben Jahren, in denen ich in dieser Funktion tätig bin, haben wir viele Krisen erlebt“, sagte er, „und in jedem Konflikt haben wir Araber und Juden unsere Kräfte gebündelt, um zu helfen – und wir haben gesiegt.“
Mitglieder der neuen, unbewaffneten Patrouillengruppe haben die Aufgabe, während des Kriegsverlaufs für Ruhe auf den Straßen zu sorgen. Eine Möglichkeit, die Spannungen unter solchen Umständen abzubauen, besteht darin, Vorfälle per Video zu dokumentieren. Sie drücken auch ihre Solidarität mit den Anwohner:innen aus. Die neuen Wachen sollen bei potenziell explosiven Situationen zum Einsatz kommen, etwa beim Gebet in einer Moschee, Kirche oder Synagoge.
„Diese Zivilgarde ist das Gegenmittel gegen all den Hass, den wir um uns herum sehen. Es ist wichtig“, sagte ein Aktivist während der Videokonferenz. Ein paar Stunden später wurden die Teilnehmer:innen gebeten, anzugeben, was sie tun können, um zu helfen: Ausrüstung sammeln, die entweder an Soldat:innen oder Anwohner:innen im Süden gespendet werden soll, deren Häuser zerstört wurden, Schichtdienste bei der Hotline für Anwohner:innen leisten, tatsächliche Patrouillen der Straßen im Süden durchführen, zu Solidaritätsaktivitäten in sozialen Medien beitragen, usw.
Badran betonte, dass er in den letzten Tagen mit Vertretern lokaler arabischer Nachbarschaften, dem Islamischen Rat von Jaffa, der Liga für die Jaffa-Araber, der Orthodoxen Kirchenvereinigung, örtlichen Scheichs und Imamen sowie verschiedenen jüdischen und arabischen Aktivist:innen gesprochen habe. Sie seien alle „am Boden zerstört über das, was geschieht, und setzen sich einerseits dafür ein, Gewalt, Hetze oder Belästigung von Arabern gegenüber Juden oder (andererseits) von Juden gegenüber Arabern zu verhindern“, sagte er. „Jeder setzt sich dafür ein, einerseits seine Gemeinden zur Zurückhaltung aufzufordern und fordert andererseits von der Gemeinde und der Polizei, für unsere persönliche Sicherheit, die Sicherheit unserer Kinder und die Sicherheit unserer Gotteshäuser zu sorgen.“
Die arabisch-jüdische Gruppe in Jaffa könnte sich an einer ähnlichen Partnerschaft zwischen den Gemeinden Carmel und Fureidis südlich von Haifa orientieren. Araber und Juden schlossen sich dort einer Initiative namens „Neighbors at Peace“ (Nachbarn im Frieden) an, „in der Einsicht, dass wir Gewalt nicht allein, sondern nur gemeinsam verhindern können“, so Boaz Peled, einer der Gründer. Die Gruppe organisiert regelmäßig Veranstaltungen, Konferenzen und Ausflüge, um einen ehrlichen und offenen Dialog zwischen den Menschen vor Ort zu fördern. Ihre WhatsApp-Gruppe mit 300 aktiven Mitgliedern stellt auch eine hervorragende Plattform dar, um Bewohner:innen in schwierigen und möglicherweise gewalttätigen Zeiten wie diesen zu helfen und sie zu schützen. „Wenn sich beispielsweise eine gewalttätige [jüdische] Bande einer Werkstatt in Or Akiva nähert, in der Araber arbeiten, wird jemand unsere Gruppe informieren und wir werden so schnell wie möglich dort sein, um zu versuchen, die Nerven der Menschen zu beruhigen“, sagte Peled. „2021 haben wir gesehen, dass der Schaden an Orten, an denen Juden und Araber gemeinsam versuchten, die Gewalt zu stoppen, weniger groß war.“

Auch Haifa und Taibeh

Der öffentliche Luftschutzbunker im Khalisa-Viertel im unteren Teil von Haifa ist dunkel und schmutzig. „Es sieht so aus, als wäre hier seit dem Zweiten Libanonkrieg 2006 niemand mehr reingekommen“, bemerkte Orwa am Montagnachmittag, als er etwa 100 Stufen hinaufstieg, die vom Bunker zu einem nahegelegenen Spielplatz führten, um zwei große Eimer mit Wasser zu füllen, das er verwenden wird, um den staubigen Raum zu reinigen.
Orwa gehört zu einer Gruppe von rund 600 Bewohner:innen Haifas, Arabern und Juden gleichermaßen, die seit Ausbruch des Krieges im Süden am Samstag gemeinsam die Schutzräume in Haifa säubern. Sie alle haben sich einer WhatsApp-Gruppe angeschlossen, die regelmäßig über die Situation in den Notunterkünften informiert (…). Ständig schließen sich der Gruppe neue Leute an, aus dem Wunsch heraus, etwas für das Gemeinwohl zu tun (…).
Orwa zeigt stolz eine digitale Karte aller Notunterkünfte der Stadt und deren Status. „Fast alle wurden innerhalb weniger Tage gesäubert, dank Arabern und Juden, allesamt Menschen aus Haifa“, sagte er. „Diese Partnerschaft ist unsere Hoffnung.“
Die sogenannte Shelter Cleaning Initiative wurde von der palästinensischen Aktivistin Sally Abed ins Leben gerufen, einer der Gründerinnen von Rov Ha’ir (Großteil der Stadt), einer jüdisch-arabischen sozialen Bewegung, die für den Gemeinderat kandidiert. am letzten Samstagabend schrieb sie in einer Reihe viral gegangener Tweets: „Wir haben Schmerzen. Wir alle. Einige meiner sehr engen Freunde, Partner, Aktivisten. Anti-Besatzungs- und soziale Gerechtigkeitsaktivisten, die ich als echte Verbündete unserer palästinensischen Sache betrachte, sind entführt, getötet oder haben jemanden verloren. Es scheint, als sei es uns nicht erlaubt, den Schmerz mit beiden mitzufühlen. Du fühlst Schmerz wie ein Palästinenser? Hier ist kein Platz für dich. Denken wir daran, dass es das Wichtigste ist, was wir in diesem Moment tun können. Uns selbst erlauben, den Schmerz für beide mitzufühlen, für alle zu trauern. Auf dem Weg zu einem Ort, an dem wir auch für alle bauen können.“
Abed beschloss, die kollektive Trauer und Angst zu nutzen: „Ich bin erschöpft“, gab sie zu. „Was vor sich geht, stellt alles, was ich dachte, in Frage, es bringt die Dinge auf tiefste persönliche und politische Weise durcheinander. Wir hatten [bereits] eine große Organisation von Arabern und Juden in Haifa, und es war uns klar, dass wir sie in diesem Moment in Aktivität „umwandeln“ konnten. Wir haben beschlossen, dass es der größte Akt der Solidarität wäre, den wir unternehmen könnten und der keinen politischen Dialog beinhalten würde, denn es ist nicht die Zeit für Gespräche, sondern für Taten. Und dann wurde uns klar, dass es in Haifa Unmengen von Notunterkünften gibt, die nicht benutzbar sind, und dass wir, Juden und Araber gemeinsam, hingehen könnten, um sie aufzuräumen und nutzbar zu machen. Am Samstag starteten wir mit einer Gruppe von 40 Aktivist:innen und sie wuchs innerhalb von 24 Stunden auf 600. Wir haben mehr als 50 öffentliche und private Notunterkünfte aufgeräumt, von Kiryat Haim bis Wadi Salib.“
Nicht nur in Jaffa und Haifa arbeiten Araber und Juden Seite an Seite, sondern auch in der arabischen Stadt Taibeh im Zentrum des Landes. MK Ahmad Tibi (Hadash-Ta’al) betreibt dort eine Art Hotline, um Zivilist:innen, sowohl Juden als auch Arabern, zu helfen. Sein Team besteht aus arabischen und jüdischen Freiwilligen und versucht, eine Flut von Anfragen zu bearbeiten.
„Eine jüdische Mutter, deren Tochter vermisst wird, sagte, sie habe sich an mehrere Knesset-Abgeordnete gewandt und mir gesagt, ich sei die Erste gewesen, die geantwortet habe“, sagte Tibi diese Woche in einem Telefongespräch. Eine weitere Person, die nach dem Massaker am Samstag auf der Party im Kibbuz Re’im mehrere Tage lang vermisst wurde, war Awad Darawsha, ein palästinensisch-israelischer Sanitäter aus dem Dorf Iksal im Norden Israels. Tibi stand in engem Kontakt mit der Familie und schickte seinen parlamentarischen Berater los, um ihnen einen Besuch abzustatten. Am Donnerstag erfuhr die Familie, dass Awad getötet wurde.
„Trauma und Chaos kommen aus allen Richtungen“, fügte Tibi hinzu, der zusammen mit anderen Führern der arabischen Gemeinschaft auch versucht, arabisch-israelischen Student:innen, die im Westjordanland studieren, dabei zu helfen, eine Genehmigung für die Rückkehr zu ihren Familien in Israel zu erhalten. „Es gibt Tausende von ihnen“, sagte er und wies darauf hin, dass er auch Anfragen von bedrängten Bewohner:innen des Gazastreifens erhalten habe, „wo Hunderte getötet wurden und weiterhin getötet werden“.
Tibi sagte, dass er und viele andere zwar versucht hätten, „das Feuer einzudämmen“ und die arabische Öffentlichkeit aufgefordert hätten, Ruhe zu bewahren und sich nicht in Auseinandersetzungen und schon gar nicht in Gewalt verwickeln zu lassen, es aber auch diejenigen gäbe, die der arabischen Gemeinschaft die Schuld für die eskalierende Situation in die Schuhe schieben wollten.
Beispielsweise twitterte der Channel 12-Journalist Amit Segal Anfang der Woche, dass Tibi und sein Kollege Ayman Odeh seiner Ansicht nach nicht schnell genug seien, um die von der Hamas verübten Massaker zu verurteilen. Worauf Tibi zurücktwitterte: „Amit, das ist es, worüber du in diesen harten Stunden am meisten twittern musst? Eine Hexenjagd? Seit heute Morgen telefoniere ich mit Familien vermisster Menschen (Araber und Juden), helfe Schülern bei der Heimkehr und bemühe mich, Reibungen und Hetze in den gemischten Städten zu verhindern – Hetze, die in den sozialen Medien verbreitet wird.“
Nach Segals Tweet und einem ähnlichen Text des Journalisten Attila Somfalvi wurde Tibi mit Morddrohungen überschwemmt. „Das passiert in jedem Krieg, daran bin ich schon gewöhnt, aber dieses Mal sind die Drohungen deutlicher und dringender. Ich habe das Gefühl, dass sie durch diese Regierung mutiger geworden sind. Die Notwendigkeit, unsere Öffentlichkeit zu schützen, ist klar – die Menschen suchen nach einem Sündenbock und wir sind ein leichtes Ziel.
„Aber dieser Fall ist so dürftig, dass es nur eine ‚Adresse‘ gibt, die dafür verantwortlich gemacht werden kann: die kahanistische Regierung von Smotrich, BenGvir, Sukkot und Netanyahu.“ (1) Nur eine diplomatische Lösung ohne Belagerung oder Besetzung wird Hoffnung und eine andere Zukunft bringen. Und auch ohne kollektive Bestrafung und vor allem ohne Schädigung der Zivilbevölkerung hier wie dort. Denn die Zahl der auf beiden Seiten getöteten Zivilist:innen ist unermesslich.“

(1) Der Kahanismus ist eine Richtung des religiösen Zionismus, die auf den Ansichten von Meir Kahane, dem Gründer der Jewish Defense League und der Kach-Partei, basiert. Sie mischt Ultranationalismus mit religiösem Fundamentalismus, Rassismus, Gojimfeindlichkeit und der Rechtfertigung von Gewalt. Weitere Infos: https://www.al-monitor.com/originals/2022/11/explainer-kahanism-far-right-ideology-linked-netanyahus-election-win#ixzz8GiI5IHt7

Übersetzung aus dem Englischen für die GWR: Helga Weber
Kürzungen: GWR-Red. Danke an R@lf für den Tipp!

Originalartikel aus: Haaretz.com, Israel News, 18.10.2023, https://www.haaretz.com/israel-news/2023-10-12/ty-article-magazine/.premium/across-israeljews-and-arabs-join-forces-to-help-war-victims-and-prevent-riots/0000018b-24d1-d680-af9b26dfc6d00000