Die Entstehung anarchistischer Theorie und Praxis war stets von der Diskussion begleitet, wie es sich aus herrschaftskritischer Perspektive eigentlich mit Bildungs- und Erziehungsfragen verhält. (1) Wo endet Verantwortung und wo beginnt Macht? Ist das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern zwangsläufig hierarchisch? Gehört Pädagogik abgeschafft oder bloß reformiert?
Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass der mittlerweile auch bürgerlich geführte Diskurs über Adultismus (2) vieles von dem beinhaltet, was Anarchist*innen wie Bakunin, Tolstoi, Ferrer oder Goodman in ihren Auseinandersetzungen mit pädagogischen Inhalten bereits viel früher thematisiert haben. In diesem Sinne meint auch Ulrich Klemm, dass „derzeit […] weniger eine offene und bewusste Rezeption des Anarchismus in der Bildungs- und Erziehungsdiskussion vorzufinden [ist] als vielmehr eine Traditionslinie, die verdeckt seit dem 19. Jahrhundert erhalten blieb und heute in vielen gesellschaftskritischen Projekten anzutreffen ist.“ (3)
Dennoch lässt sich nicht verschweigen, dass der allgemeine gesellschaftliche Rechtsruck auch vor pädagogischen Kontexten nicht haltmacht. Insbesondere auch Schulen in sogenannter freier Trägerschaft, die eigentlich oft der Versuch sind, sich einen emanzipatorischen Freiraum in Bildungsfragen zu verschaffen, geraten zusehends unter eine besorgniserregende Einflussnahme von rechts.
Freie Schulen und freie Bildung
Die ersten offiziellen Freien Alternativschulen (FAS) in Deutschland gründeten sich Anfang der 1970er Jahre, ihre ideengeschichtliche Tradition jedoch ist eine, „die mit [dem] Beginn des modernen Anarchismus an der Wende vom 18. zum 19 Jahrhundert zusammenfällt.“ (4)
Dementsprechend wundert es nicht, dass sowohl die 1986 verabschiedeten Wuppertaler Thesen als auch die 2011 nachgereichte Berliner Erklärung von einem Vokabular Gebrauch machen, das von „Selbstverwaltung“, „Selbstbestimmung“, „Eigenverantwortung“ und „Individualität“ bis hin zu „Gewaltfreiheit“ und „respektvollem Miteinander“ reicht. (5)
Eine 2021 modifizierte Resolution des Bundesverbandes der Freien Alternativschulen (BFAS) bekennt sich sogar offiziell zum Antifaschismus. (6) Zwar wäre es naiv anzunehmen, dass Alternativschulen dieser Art dezidiert revolutionär wären (wie sollten sie es auch sein, sind sie doch auf eine staatliche Genehmigung angewiesen?), dennoch lassen die zumindest nach außen kolportierten Werte und Absichten eher progressives als regressives Potential vermuten. Elemente, die alle FAS aufweisen sind nach Angaben des BFAS z.B. Unterricht in differenzierter Angebotsform, kindorientierte Formen der Entwicklungs- und Leistungsrückmeldung, weitgehende Mitbestimmungsrechte und -pflichten der Kinder und Jugendlichen, Betonung des sozialen und individuellen Lernens, Frei- und Wochenplanarbeit, Projekte, freies Spiel, Selbstverantwortung, Lernen lernen, Aushandlungsprozesse zwischen Kindern und Erwachsenen, Kinder lernen von Kindern usw.
Im BFAS sind 121 FAS und 48 FAS-Initiativen organisiert.
Nicht im BFAS organisiert sind die Waldorfschulen. Letztere sind zwar auch Schulen in freier Trägerschaft, verfolgen im Vergleich zu den antiautoritären, bisweilen anarchistisch-sozialistisch geprägten FAS ein anthroposophisches, autoritäres Schulkonzept, bei dem die Lehrpersonen DIE Autoritäten sind, der die Kinder gehorchen sollen.
Freie Schule ist nicht gleich Freie Schule – das Verhängnis der Waldorfschulen
In den vergangenen Jahren mehrten sich die Berichte darüber, wie Waldorfschulen zu Orten rechter Unterwanderungen geworden sind.
Laut dem Statistik-Portal statista gab es im Schuljahr 2021/2022 in Deutschland 241 Waldorfschulen. Waldorfschulen berufen sich auf den Anthroposophen Rudolf Steiner, der 1919 in Stuttgart die erste Schule gemäß seiner Ideologie ins Leben gerufen hat. Gemeinhin wird mit Waldorfschulen ein reformpädagogischer Ansatz im Sinne einer ganzheitlichen und am Kind ausgerichteten Erziehung assoziiert, bei genauerem Hinschauen aber wird diese Einschätzung Lügen gestraft. Laut dem Autor des Humanistischen Pressedienstes Hans Trutnau ist das, was einem in der Anthroposophie begegnet, „eine ganz spezielle Mischung aus knallhartem Rassismus und absurdesten Begründungen Steiners, bei denen man sich fragen kann, ob sie mit Esoterik noch richtig charakterisiert sind“ oder doch besser als „Wahnideen“ (7) eingestuft gehören. Da die rassistischen und antisemitischen Narrative Steiners hier nicht wiederholt werden sollen, soll an dieser Stelle auf Direktzitate verzichtet werden. Wer eine Bestätigung für Steiners rassistisches Weltbild will, der wird in den zahlreichen Publikationen dieses „Wurzelrassen-Theoretikers“ schnell und umfangreich fündig.
In der anthroposophischen Szene ist man bemüht, einen relativierenden Umgang mit Steiners menschenverachtenden Passagen zu finden. Jost Schieren, Professor an der anthroposophischen Alanus Hochschule bei Bonn, schreibt in einer Zeitschrift, die vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegeben wird, im April 2022 von Steiners Rassismus und Antisemitismus „als ein vielleicht tragisches Kolonialismuserbe“. Er erklärt beides zur Begleiterscheinung eines „überhöht am deutschen Idealismus anknüpfende[n] Menschenbild[es]“(8)
Mit der Anthroposophie als Weltanschauung und mit Rudolf Steiner als Identifikationsfigur bieten Waldorfschulen, mögen sie sich auch noch so sehr von den als problematisch erkannten Fragmenten ihres Ideengebers distanzieren, ein Einfallstor für rechte und völkische Menschen, die ihre Gesinnung bildungspolitisch im Rahmen des Bestehenden bestmöglich abgebildet wissen oder gar selbst Einfluss auf den Bildungsprozess nehmen wollen.
Einige Beispiele
In der Anfang 2021 im WDR ausgestrahlten Reportage „Wenn Rechtsextremisten freie Schulen unterwandern“ werden mehrere Fälle thematisiert und rekonstruiert, in denen Schulen in freier Trägerschaft von Personen mit völkisch-nationalistischem Gedankengut unterwandert wurden. Der vielleicht prominenteste Fall ist der des Neonazis Wolf-Dieter Schöppe, der bis 2015 insgesamt 20 Jahre lang in verschiedenen Funktionen an der Freien Waldorfschule Minden tätig war. Schöppe fiel nach Aussagen ehemaliger Schüler-*innen zwar immer wieder durch autoritäres Auftreten oder homophobe Kommentare auf, das Engagement des Autors für den Bund für Gotterkenntnis – Luddendorf, der seine Kinder in die Lager des Freibundes schickte, wurde aber lange nicht infrage gestellt. Erst 2015 und dann auch nur dank des Einsatzes einzelner Eltern, die sich gegen Widerstände im Rest der Elternschaft und im Kollegium durchsetzen mussten, wurde Wolf-Dieter Schöppe freigestellt.
Insbesondere auch Schulen in freier Trägerschaft, die eigentlich oft der Versuch sind, sich einen emanzipatorischen Freiraum in Bildungsfragen zu verschaffen, geraten zusehends unter eine besorgniserregende Einflussnahme von rechts.
Die Freie Schule Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern sah sich mit einem anderen Problem konfrontiert: umgeben von völkischen Siedler*innen hat es die Schule immer wieder mit Familien zu tun, die entsprechende Inhalte und Ideologien in den Schulalltag einfließen lassen wollen. Schulleiter Dr. Ralf Boldt berichtet davon, dass die Schule sich mit einem Demokratieparagraphen im Schulvertrag zu helfen weiß, auf dessen Grundlage auch Vertragskündigungen ermöglicht werden.
Die Freie Schule am Elsengrund in Berlin pflegt einen deutlich weniger überzeugenden Umgang mit rechter Einflussnahme: als 2013 mit Bernhardt Schaub, der selbst Waldorflehrer ist, ein szenebekannter Holocaustleugner seine Kinder an der Schule anmeldet, sehen die Verantwortlichen der Schule darin kein Problem. Mehr noch: von einem lange freundschaftlichen Verhältnis zwischen der Familie Schaub und der Schulleitung ist die Rede. Ein Geschichtslehrer der Schule beschreibt in der Reportage, wie er dazu angehalten wurde, bestimmte Inhalte wie die Lektüre von Anne Franks Tagebüchern nicht zu behandeln, da letztere ohnehin erfunden und eine Fälschung seien.
Zwar hat die Schule den Waldorftitel durch den Verband freier Waldorfschulen mittlerweile aberkannt bekommen, viel ist ansonsten seither aber nicht passiert.
Trend zur Schetinin-Pädagogik
Andrea Röpke ist ausgewiesene Expertin für rechte Umtriebe im deutschsprachigen Raum. Im letzten Teil einer vierteiligen Artikelreihe auf dem Internetportal endstation-rechts.de befasst sie sich gemeinsam mit Lotta Maier mit dem besorgniserregenden Trend rechtsoffener Schulgründungsinitiativen. Stetig wiederkehrender Referenzpunkt in diversen Telegram-Gruppen oder anderen Plattformen des Austausches über Alternativen zum staatlichen Schulsystem ist in diesen Kreisen die sogenannte Schetinin-Pädagogik, die auf den 2019 verstorbenen russischen Nationalisten Michail Petrowitsch Schetinin zurückgeht und der eine Nähe zur völkischen Anastasia-Bewegung nachzuweisen ist. Kern dieser Pädagogik ist soldatische Erziehung, völkische Gesinnung nd Geschichtsrelativismus. Auf dem Portal spielundlern wird über die Schetinin-Pädagogik und ihre Schulen geschrieben, dass „Jungen und Mädchen […] getrennt voneinander unterrichtet“ werden, sich durch Kontakt zu bioenergetischen Feldern „11 Jahre Mathematik-Wissen in 10 Tagen“ lernen ließe und dass Geschichte, Politik, Sprachen und Wirtschaftswissenschaften anders als die Naturwissenschaften nicht zu den „wahren Fächern“ gehören, sondern zu den von Menschen erdachten, „die von zeitgeistlichen Ideen und Interpretationen abhängig sind“ (9). Insbesondere der letzte Aspekt, so sorgt sich Röpke, sei bei einer derart nationalistisch ausgerichteten Pädagogik mit Blick auf die deutsche Geschichte und den Holocaust brandgefährlich. Nun ist der Einfluss der Schetinin-Pädagogik durchaus ernst zu nehmen und schlägt sich in diversen Projekten nieder. In der Schweiz zum Beispiel gibt es die Freie Schule Lernraum zum Eintauchen in Uznach, die sich explizit zur Schetinin-Pädagogik bekennt und in der die deutsche „Schetinin-Jüngerin“ (10) Iris Autenrieth arbeitet. Auch die private Schule Zürichsee in Hombrechtikon, weist Röpke nach, sympathisiert mit den von Schetinin propagierten pädagogischen Inhalten. In Österreich wurde 2019 die Weinbergschule geschlossen, nachdem Aussteiger*innen von „sozialer Isolation und Gewalt berichtet hatten.“ (11) Auch Kontakte ins Reichbürgermilieu konnten nachgewiesen werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Weinbergschule kein Einzelfall in Österreich war; zum Zeitpunkt ihrer Schließung soll es immerhin 25 ähnliche Schulprojekte gegeben haben. Und in Deutschland? Röpke hierzu: „Auch in Deutschland berufen sich diverse Schulprojekte mehr oder weniger direkt auf die Schetinin-Pädagogik. Zum Teil sind es auch einzelne InitiatorInnen, die diese Bezüge herstellen und die Vermutung einer politischen Nähe zulassen.“ (12)
Ausblick
Der allgemeine gesamtgesellschaftliche Rechtsruck macht auch vor bildungspolitischen Fragen keinen Halt. Das spiegelt sich in Berichten über Regelschulen wieder, in denen es stellenweise zur Normalität geworden ist, dass Schüler*innen sich via Messenger rechte Memes zuschicken, den Hitlergruß zeigen und Menschen, die diese Zustände problematisieren, angefeindet werden. (13) Auch Schulen in Feier Trägerschaft sind nicht davor gefeit, Ziel rechter Einflussnahme zu werden. Die gestalterische Offenheit dieser Schulen, in der zweifelsohne auch ein großes emanzipatorisches Potential liegt, macht sie anfällig für die im Text geschilderten Phänomene. Es ist daher zwingend erforderlich, dass sich jene Schulen in freier Trägerschaft, denen ein progressives Moment zugrunde liegt, klar und eindeutig positionieren. Zurzeit besonders populär in der Alternativschulszene ist übrigens die ehemalige Regelschul-Schulleiterin Bianca Höltje, die 2021 suspendiert wurde, nachdem sie sich weigerte, die vorgegebenen Corona-Maßnahmen an ihrer Schule umzusetzen und in der Querdenkerszene rund um Michael Ballweg aktiv war. Auf Telegram hat sie ca. 3.600 Follower und ihr Leitfaden zur Gründung Freier Schulen wird breit rezipiert.
(1) Eine gute Übersicht über verschiedene Positionen innerhalb eines anarchistischen Pädagogikdiskurses lässt sich in Ulrich Klemms Büchern „Bildung ohne Zwang. Texte zur Geschichte der anarchistischen Pädagogik“ und „Libertäre Bildung. Tradition und Kontinuität herrschaftsfreier Schulen“ finden. Matthias Mendykas „Libertäre Schulkritik und anarchistische Pädagogik“ leistet eine Einordnung anarchistischer Impulse für den gegenwärtigen Bildungsdiskurs.
(2) Adultismus meint in Analogie zu anderen strukturellen Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Sexismus die systematische Diskriminierung von Kindern und jungen Erwachsenen.
(3) Ulrich Klemm (2016): Libertäre Bildung. Tradition und Kontinuität herrschaftsfreier Schulen, S. 27.
(4) Ebd. S. 7.
(5) Vgl. Wuppertaler Thesen (https://www.freie-alternativschulen.de/index.php/startseite/ueber-uns/selbstverstaendnis/546-wuppertaler-thesen) und Berliner Erklärung (https://www.freie-alternativschulen.de/index.php/startseite/ueber-uns/selbstverstaendnis/14-grundsaetze-freier-alternativschulen)
(6) In der entsprechenden Resolution heißt es: „Deshalb wenden wir uns gegen jeden Versuch, Grund- und Menschenrechte (inklusive der Kinderrechte) auf einzelne Gruppen zu beschränken. Wir grenzen uns deutlich gegen rechte und demokratiefeindliche Tendenzen und Gruppen ab und positionieren uns antifaschistisch.“
(7) https://hpd.de/artikel/rudolf-steiner-war-kein-rassist-20317 abgerufen am 01.10.2023]
(8) https://www.erziehungskunst.de/artikel/anthroposophie-in-der-kritik/ [abgerufen am 01.10.2023]
(9) https://www.spielundlern.de/wissen/die-schetinin-schule-ein-kurzer-ueberblick/ [zuletzt aufgerufen am 01.10.20239
(10) https://www.endstation-rechts.de/news/zucht-und-ordnung [zuletzt aufgerufen am 02.10.2023]
(11) ebd.
(12) ebd.
(13) Vgl. den Artikel: „Mehr rechtsextreme Fälle an Schulen im Osten“ auf https://www.zdf.de/nachrichten/politik/rechtsextremismus-vorfaelle-schulen-ost-deutschland-100.html [zuletzt aufgerufen am 02.10.2023]
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.