Gegen Krieg und Todesstrafe

Leo Tolstoi und die Stimme des Gewissens

| Christian Bartolf

Leo Tolstoi: Das Reich Gottes ist in euch. Übersetzung von Raphael Löwenfeld. Mit einer editorischen Bemerkung und einem Nachwort von Ulrich Klemm. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2023, 216 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-86569-161-3

„Jeder Krieg, auch der kürzeste, mit allen den Krieg gewöhnlich begleitenden Verlusten, Vernichtungen von Saaten, Diebstählen, geduldeten Ausschweifungen, Räubereien, Morden, mit der vermeintlichen Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit und Gerechtigkeit, mit der Lobpreisung und Verherrlichung der Kriegstaten, mit Gebeten für die Feldzeichen, für das Vaterland und mit der Heuchelei der Sorge um die Verwundeten und so weiter – entsittlicht in einem Jahre die Menschen mehr, als Millionen Räubereien, Brandstiftungen und Mordthaten, die im Laufe von Hunderten von Jahren von einzelnen Menschen unter dem Einfluß der Leidenschaft begangen werden.“ (Leo Tolstoi)

„Das Königreich Gottes ist in dir“ ist ein 1893 von Leo Tolstoi geschriebenes Sachbuch. Diese christlich-anarchistische, philosophische Abhandlung wurde erstmals 1894 in Deutschland veröffentlicht, nachdem sie in seinem Heimatland Russland verboten worden war. Sie entwirft eine neue Organisation für die Gesellschaft, die auf einer Interpretation des Christentums basiert, die sich auf die universelle Liebe konzentriert. Es ist ein Schlüsseltext für tolstoische Befürworter:innen des bewussten Nicht-Widerstehens, des gewaltfreien Widerstands und der christlich-anarchistischen Bewegung.
Der Titel des Buches stammt aus dem Neuen Testament und dem Evangelium des Lukas. In dem Buch spricht Tolstoi vom Prinzip des gewaltfreien Widerstands bei der Konfrontation mit Gewalt, wie es von Jesus Christus gelehrt wurde. Als Christus sagt, man solle die andere Wange hinhalten, behauptet Tolstoi, dass Christus die Gewalt, auch die Gewalt in Verteidigungsabsicht, abschaffen und auf Vergeltung und Rache verzichten will, von Revanche frei sein will. Tolstoi erkennt, dass für Christen ein absolutes Tötungsverbot besteht, weil Vertrauen und Zuneigung durch Abschreckung und Todesfurcht zerstört werden und dadurch auch das verbindende Band der Liebe.
Er ließ sich von den Schriften der amerikanischen christlich-anarchistischen Denker Adin Ballou und William Lloyd Garrison inspirieren, die seine Ansicht teilten, dass alle Regierungen, die Krieg führten, einen Affront gegen das Neue Testament und die christliche Ethik darstellten. Tolstoi bespricht in dem Buch ausführlich die Texte und Biografien von Ballou und Garrison, darunter einen ganzen Auszug aus Ballous „Non-Resistance Catechism“ von 1844. Da es sich bei der Russisch-Orthodoxen Kirche zu jener Zeit um eine mit dem russischen Staat fusionierte Organisation handelte, die sich der Politik des Staates unterwarf, versuchte Tolstoi, ihre Lehren von dem zu trennen, was er für das wahre Evangelium Christi hielt, insbesondere von der Bergpredigt. Er befürwortete Gewaltfreiheit als Lösung für die vom Nationalismus verursachten Probleme und internationalen Konflikte. Außerdem als Mittel, um die Bigotterie der Kirche und ihrer Würdenträger zu erkennen. Für Tolstoi war die moderne Kirche eine autoritäre Sekte. Er präsentierte Auszüge aus Zeitschriften und Zeitungen über verschiedene persönliche Erfahrungen und gab einen detaillierten Einblick in die Geschichte des bewussten Nicht-Widerstehens seit den Anfängen des Christentums. Insbesondere konfrontiert er diejenigen, die den Status quo aufrechterhalten wollen.
Mohandas Karamchand Gandhi schrieb in seiner Autobiografie „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“ (Teil 2, Kapitel 15), dass Tolstois Buch ihn „überwältigte“ und „einen bleibenden Eindruck hinterließ“. Gandhi zählte Tolstois Buch zu den für ihn bedeutendsten literarischen Einflüssen in seinem Leben. Die Lektüre dieses Buches öffnete den Geist des weltberühmten Tolstoi für Gandhi, der damals noch ein junger Anwalt war, der in London ausgebildet wurde, und in Südafrika mit der grausamen Realität des Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus konfrontiert wurde.
Im Jahr 1908 schrieb Tolstoi einen „Brief an einen Hindu“ oder „Brief an einen Inder“, den Gandhi las und in dem er die Vorstellung darlegte, dass die indische Bevölkerung in Britisch-Indien das koloniale britische Empire nur durch den Einsatz der Liebe als Waffe und durch passiven Widerstand stürzen könnte. Diese Idee wurde schließlich durch Gandhis Kampagnen landesweiter gewaltfreier Streiks und Proteste bis 1947 verwirklicht. Im Jahr 1909 schrieb Gandhi an Tolstoi und bat ihn um Rat und Erlaubnis, den „Brief an einen Hindu“ in seiner Muttersprache Gujarati erneut zu veröffentlichen. Tolstoi antwortete. Die beiden führten einen Briefwechsel bis zu Tolstois Tod ein Jahr später im Jahr 1910 fort. In den Briefen geht es auch um praktische Anwendungen der Gewaltfreiheit in Natal, im Transvaal, also in Südafrika, und in Russland. Tolstois letzter Brief an Gandhi war die letzte Schrift aus seiner Feder, ein Testament, in dem er Gandhi zum Erben seines Konzeptes des gewaltfreien Widerstandes einsetzte. Die ethischen und politischen Grundsätze und Methoden von Tolstoi und Gandhi sind nah beieinander. Dass selbst James Bevel, der strategische Direktor der Southern Christian Leadership Conference von Martin Luther King Jr. und Friedenspädagoge der US-Bürgerrechtsbewegung in den Jahren 1963 bis 1966, von Tolstois Buch geprägt wurde, ist ein weiterer Hinweis darauf, warum es auch für uns interessant sein könnte, die Neuausgaben in deutscher Sprache zu lesen.
Herausgeber Ulrich Klemm setzt mit der Veröffentlichung eine Reihe von Publikationen über Tolstois Bildungsphilosophie und Kirchenkritik der dogmatischen Theologie fort, zudem mit erneuter Veröffentlichung alter, schwer zugänglicher nicht-literarischer Texte des Autors berühmter Romane wie „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“.
In einer editorischen Vorbemerkung informiert uns der Herausgeber über Raphael Löwenfeld, der die bislang umfassendste Edition der nicht-literarischen Texte von Tolstoi noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges im Eugen Diederichs Verlag (Leipzig und Jena) realisierte. In diesem Sinne arbeitete Peter Bürger mit einem Stab an Unterstützer:innen an der Neuauflage solch einer „Tolstoi Friedensbibliothek“ und veröffentlichte ebenfalls 2023 „Das Reich Gottes ist in Euch: oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre (Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht)“. Beide Veröffentlichungen zeigen jahrzehntelange Versäumnisse der Tolstoi-Rezeption, auf die ich 2006 mit meinem Buch „Ursprung der Lehre vom Nicht-Widerstehen. Über Sozialethik und Vergeltungskritik bei Leo Tolstoi“ hinwies. Beide Neuauflagen dieses Buches sind sehr verdienstvoll und entfalten hoffentlich die notwendige Wirkung, um die Katastrophe von erneutem Krieg und Zerstörung in Europa zu beenden bzw. zu verhindern.

„Ein einziges Todesurteil, das von Menschen vollzogen wird, die sich nicht unter der Einwirkung der Leidenschaft befinden, von wohlhabenden, gebildeten Menschen, mit Zustimmung und unter Teilnahme christlicher Seelenhirten, und das wie etwas Notwendiges, ja Gerechtes hingestellt wird, entsittlicht und vertiert die Menschen mehr als Hunderte und Tausende von Morden, die von arbeitenden, ungebildeten Menschen begangen werden, vielleicht gar im Überschwang der Leidenschaft.“ (Leo Tolstoi)