Generalstreik und gewaltfrei-anarchistische Ethik

Der dritte Band der Gesammelten Werke von Pierre Ramus

| Lou Marin

Pierre Ramus: Gesammelte Werke, Bd. 3, Hrsg. Gerhard Senft, Verlag Monte Verità, Wien 2022, 298 S., 39,95 Euro, ISBN 978-3-900434-93-9.

Im Sommer 2023 erschien in der GWR 480 ein Interview mit Gerhard Senft von der Wiener Pierre-Ramus-Gesellschaft. Dort gibt der Wirtschaftswissenschaftler auch einen Überblick zu den von ihm herausgegebenen und auf acht Bände angelegten „Gesammelten Werken“ von Pierre Ramus (1). Ich möchte hier den Ende letzten Jahres veröffentlichten Band 3 vorstellen. Er umfasst Texte aus der Lebenszeit des österreichischen Anarchisten Ramus (bürgerlicher Name: Rudolf Grossmann) nach seiner Rückkehr aus den USA (2), zunächst nach London 1904, dann wieder in seine Heimatstadt Klosterneuburg bei Wien ab 1907 und endet 1922 mit dem Wiederabdruck des ausgereiften Programms seiner föderativen Organisation von Ortsgruppen: „Was ist und will der Bund herrschaftsloser Sozialisten?“ (S. 285-298).
Beim Lesen erinnerte ich mich mit Freuden an die Anfangszeit meiner politischen Sozialisation als gewaltfreier Anarchist zu Beginn der 1980er-Jahre innerhalb der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen/Graswurzelrevolution (FöGA), in der ich auf Ramus‘ Artikel und Schriften als unerlässliche Inspirationsquelle aufmerksam gemacht wurde. In meiner Studienzeit bin ich mehrmals nach Wien gefahren, um in der dortigen Nationalbibliothek Ausgaben seiner Zeitschriften „Wohlstand für alle“ (1907–1914) sowie „Erkenntnis und Befreiung“ (1918–1933) zu lesen, von denen manche Abhandlungen, die damals im Verlag dieser Zeitschriften als Broschüren erschienen, den Schwerpunkt dieses Bandes bilden. So wurde ich in meiner prägenden Phase mit der leidenschaftlichen, ja schwärmerischen, tief-ethischen Sprache Ramus‘ bekannt und ließ mich davon begeistern. Geprägt war dieser Stil von semantischer Übertreibung und adjektivisch aufgeladenen Begrifflichkeiten, die inzwischen aus der politischen Mode gekommen sind, aus der zweckrationalistischen Herrschaftssprache gänzlich wegrationalisiert, was ich nach Lektüre des Bandes bedauere, weil sie angesichts der Kriege und Katastrophen der Gegenwart so ermutigend wirkt. Da wird etwa der Parlamentarismus als „gemeinsame Beratungstribüne aller Gesellschaftsmächte“ kritisiert, die nur ein Interesse kennen: „die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsmaschine zwecks Beschirmung ihrer besonderen Ausbeutungs- und Beherrschungsinteressen über die besitzlosen Volksschichten“ (S. 166). Das Parlament als „Beschirmung von Ausbeutungsinteressen“ – das ist das wunderbar formuliert und zutreffend. Oder es wird über Tolstoi, dessen Einfluss auf Ramus in diesen Schriften deutlich wird, in einer Widmung zu einer Gedenkschrift zehn Jahre nach dessen Tod geschwärmt: „Leo Tolstoi, dem in Ewigkeitsflammen strahlenden Licht in der Finsternis der Lebenden“ (S. 191). Auf solche Formulierungen muss man erst einmal kommen!

Generalstreik und direkte Aktion

Zu Beginn (S. 9-67) stellt Herausgeber Gerhard Senft den historisch-politischen Kontext dar, in dem diese Schriften eine Wirkung zur Entstehung der syndikalistischen Arbeiter*innenbewegung in Deutschland und in der österreich-ungarischen Monarchie entfalteten. Wir werden erinnert an das Deutschland nach der Jahrhundertwende, die Zeit der ersten anarchistischen Gewerkschaftsorganisation, die syndikalistische „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, für deren Zeitschrift „Die freie Generation“ Ramus schrieb. Im Zuge der damals stattfindenden Konzentration des Proletariats in den Industriestandorten spricht Ramus erstmals von seiner Hoffnung auf eine, die freiheitlich-sozialistische Revolution einleitende „Massenminorität“. Sie kennzeichnet seinen eigenen Übergang vom individualistischen Anarchismus, den die Biografin Ilse Schepperle noch in den Mittelpunkt ihrer Ramus-Monographie stellt (3), hin zum kommunistischen Anarchismus, in dem sich Ramus nun explizit verortet. Ramus kannte in London Kropotkin und lernte in dessen Londoner Kreis 1903 seine spätere Ehefrau, die russische Anarchistin Sonja Friedmann, kennen.
Ramus zu seinem strategischen Strömungswandel innerhalb des Anarchismus:
„Individueller Heroismus allein erstürmt keine Welt, der individuelle Heroismus verliert auch jede weiter reichende Bedeutung, wenn hinter ihm sich keine bereits einigermaßen geistig gefestigte Massenminorität befindet, die fest verbunden ist im Gefühl gleichen idealistischen Strebens.“ (S. 89f.) Und: „Überdies sind wir der theoretischen Meinung, dass es Minoritäten sein werden, die die Umwandlung des Gesellschaftssystems in eine kommunistisch-anarchistische Gesellschaft durchführen werden.“ (S. 101) Es sind allerdings Minoritäten, die quer liegen zu den heutigen Ideologien von identitären Minderheiten, außer dem Frauenrecht auf Verhütung und dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Arbeiterfrauen.
In der Schrift „Generalstreik und direkte Aktion im proletarischen Klassenkampfe“, 1910 erschienen im anarchosyndikalistischen Fritz-Kater-Verlag in Berlin, führte Ramus dazu weiter aus: „Wie es auf allen Gebieten des sozialen Lebens der Fall ist, so ist es auch auf produktivem Gebiet: Es ist eine Minderheit, die wirklich die zusammenlaufenden Fäden des gesamten technisch-produktiven Getriebes in Händen hält. Wir wissen ja ganz genau, dass es nur ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz des ganzen Proletariats ist, der in technischer und geistiger Hinsicht tatsächlich unentbehrlich ist.“ (S. 130)
So setzt Ramus den Generalstreik ab vom damaligen „Massenstreik“ nur einer möglichst großen Zahl, anstatt die – wie wir heute sagen würden – wesentliche Infrastruktur für das Funktionieren einer staatlich-kapitalistischen Gesellschaft anzugreifen: „Somit sehen wir, wie irrig es ist, ihm (dem Generalstreik; L.M.) die Voraussetzung zu unterstellen, ein Generalstreik bedeute den Streik sämtlicher existierender Arbeiter eines existierenden Landes.“
Es geht Ramus dagegen darum, die Streikaktion sämtlicher organisierter Arbeiter*innen „eines oder mehrerer Industriezweige oder der ganzen Industrie herbeizuführen, gegen deren Unternehmertum sich der Kampf richtet“. (S. 131)
Wenn heute eine solch wichtige industrielle Infrastruktur nicht mehr von innen lahmgelegt werden kann, so bietet sich der soziale Angriff auf die Infrastruktur von außen an. Insofern können auch die Anti-AKW-Bewegung der Jahre 1974-2010 oder die Bewegung gegen den Kohleabbau heute als revolutionäre Massenminorität in Ramus‘ Sinne begriffen werden.
Der Generalstreik ist so nach Ramus „direkte Aktion“ inmitten einer Gesellschaft der „Zwischenträger und Zwischenfaktoren, die sich zwischen den einzelnen Menschen aufpflanzen und ihre direkten Beziehungen auseinanderreißen“ (S. 145), etwa durch die Zwischenträger der parlamentarischen und parteipolitischen Repräsentant*innen. Und: „Diesen indirekten Kampf will die direkte Aktion durch den direkt geführten ersetzen.“ (S. 146) Kampfmittel für den Generalstreik als direkte Aktion sind nach Ramus: „Boykott, Sabotage und passive Resistenz“ (S. 149). Ramus nennt konkrete Beispiele:
„Wenn z.B. die organisierten Proletarier einen Achtstundentag erringen wollen, gibt es für sie als Taktik nur den Generalstreik und die direkten Aktionsmittel.“ So ergaben sich etwa konkrete Erfolge der böhmischen Bergarbeiter: „Die Arbeiter legten, nachdem die achte Arbeitsstunde vorüber war, pünktlich und gemeinsam die Arbeitswerkzeuge nieder und erklärten einfach, erst am nächsten Tage wieder ihren neuen – Achtstundentag beginnen zu wollen. Eine andere Aktionsform gaben die Bauarbeiter von Mantua der passiven Resistenz: Sie weigerten sich, am Bau eines Gefängnisses zu arbeiten; Ähnliches taten die Buchdrucker in Budapest, als sie im Winter 1906 das Aufsetzen von arbeiterfeindlichen Artikeln zu leisten verweigerten.“ (S.152)

Die Bergpredigt als Manifest der Gewaltlosigkeit und des Antimilitarismus

Der zweite große Text dieser Sammlung ist diejenige Schrift Ramus‘, die am direktesten auf das Erbe Tolstois rekurriert, „Bauer, Pfarrer, Christus“ (S. 191-269), 1921 erschienen im Wiener Verlag Erkenntnis und Befreiung. Der Text betont angesichts des Gemetzels des Ersten Weltkriegs die unmittelbare Notwendigkeit einer Ethik des Antimilitarismus und der Gewaltlosigkeit, wie sie heute angesichts des Gemetzels im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch wieder nötig wäre. Er ist angelegt als Dreiergespräch zwischen einem anfangs schwankenden Bauern, einem permanent verlogenen und heuchelnden Pfaffen und einem „Fremden“, der in Wirklichkeit Christus verkörpert, wie er nach Tolstoi und Ramus eigentlich gesehen werden sollte. Es ist gleichzeitig Ramus‘ Interpretation der Bergpredigt des Neuen Testaments. Im Mittelpunkt steht eine Befürwortung des Prinzips des Antimilitarismus und der Gewaltlosigkeit, das ebenfalls in weiten Strecken als aktueller Kommentar zum Ukrainekrieg gelesen werden kann. Auf Einwände des Pfarrers nämlich, aber Christus rede doch auch dem Schwert – und damit der Selbstverteidigung des im Krieg Angegriffenen – das Wort, wird die Ideologie der legitimen kollektiven „Selbstverteidigung“ mit einer logischen Tiefe angegriffen, die allen bewaffneten Strategien den eigenen Boden entzieht. Christus/Ramus führt also alle Kriege auf die Anwendung des Prinzips der Selbstverteidigung zurück:
„Kriege sind nur möglich, weil jede Seite behauptet, in Selbstverteidigung zu handeln. Und um dieser Einbildung willen zerfleischen sich die Völker gegenseitig. Sie wollen sich schützen – und vernichten sich in Wirklichkeit, zum ausschließlichen Vorteil ihrer Herrscher. Darum hat Christus mit weisheitshohem (welch ein Adjektiv!; L.M.) Verständnis und mit Recht die sogenannte Selbstverteidigung verboten (etwa, als Judas mit den „Staatspolizisten“ kommt, um ihn zu verhaften und ein Apostel sein Schwert zieht, um ihn zu verteidigen, und Christus das ablehnt; L.M.). Denn nie lässt sich im Kriege feststellen, wo die Selbstverteidigung aufhört, der Angriff beginnt oder umgekehrt.“ (S. 256)
Ramus entwickelt hier aus dem Tolstoischen Prinzip des „Nicht-Widerstehens“ die Kampfmittel der gewaltfreien Aktion: „(…) ich meine und predige bloß dies: unter allen Umständen die Gebote der Bergpredigt höher zu stellen als alles andere und selbst als das Leben!“ Wenn der Bauer einwendet, würde dann nicht der Staat oder ein Kriegsteilnehmer solche Menschen einfach niederschießen, meint Christus/Ramus als Antwort, der Staat bzw. Krieger werde durch „sein Wüten gegen die Friedliebenden sehr bald allen die Augen öffnen.“ (S. 257) In dieser entscheidenden Sekunde besteht die Hoffnung, dass der Soldat das Morden verweigert und ihm die Einsicht kommt: „Solange ich mich nicht zum Kriege verwenden lasse, werde ich auch weder angegriffen noch angefallen“ (S. 259). Schließlich äußert Ramus/Christus gegenüber dem Bauern eine Hoffnung, die zwar etwa beim Streik der deutschen Rüstungsarbeiter 1918 schon einmal eingetreten ist, aber historisch seither viel zu selten wiederholt wird: „(…) die Arbeiter werden euch verstehen, sie werden die unnütze und böse Arbeit, die sie in den Städten leisten, die Arbeit für die Munitions- und Luxusindustrie (…) einstellen (…), sodass jedes Dorf sozusagen in den wichtigsten Lebensgegenständen sich selbst erhaltende und deckende, selbständige Gemeinschaft werde. (S. 268).
Diese umfassende Utopie vom gewaltfrei-anarchistischen Kampfmittel hin zur gewaltfrei-anarchistischen Gesellschaft wurde dann im Programm von Ramus‘ Organisation, „Was ist und will der Bund herrschaftsloser Sozialisten“ von 1922 niedergeschrieben (S. 285-298). Nicht von ungefähr haben wir in unseren Zusammenhängen der FöGA genau dieses Programm von 1922 im Graswurzelkalender 1989 erneut abgedruckt. (4)

(1): Vgl.: „Ein neuer Blick auf den Anarchismus in Österreich. Ein Gespräch von Andreas Gautsch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Senft“, in: Graswurzelrevolution Nr. 480, Sommer 2023, S. 18.
(2): Vgl.: „Die Verwerflichkeit der Staatsjustiz“, Rezension von Bd. 2 der Gesammelten Schriften, in: GWR 472, Okt. 2022, Libertäre Buchseiten, S. 2.
(3): Vgl. Ilse Schepperle: Pierre Ramus. Marxismuskritik und Sozialismuskonzeption, Tuduv-Verlag, München 1987.
(4): In: Graswurzelkalender 1989, S. 281-291.