Geschichtspolitik als Kulturkampf

Anmerkungen zum Geschichtsverständnis der AfD

| Michael Sturm

Am 6. September 2023 veröffentlichte das Internationale Komitee Buchenwald, Dora und Kommandos (IKBD) eine Erklärung anlässlich der vier Tage später anstehenden Oberbürgermeisterwahl im thüringischen Nordhausen. Das IKBD zeigte sich darin besorgt über die Kandidatur des AfD-Politikers Jörg Prophet, der im ersten Wahlgang 42,1 Prozent der Stimmen erreicht hatte und nun als Favorit in die bevorstehende Stichwahl ging.

„Für das IKBD ist es unvorstellbar, dass die letzten Überlebenden der KZ-Lager und ihre Familien nächsten April 2024 und zum 80. Befreiungstag, 2025, in Nordhausen von einem Bürgermeister aus den Reihen einer Partei begrüßt werden könnten, deren politisches Programm aus Aufrufen zur Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Nationalismus und Revisionismus besteht.“
Die Sorge des IKBD war gut begründet. Jörg Prophet hatte bereits im April 2020, anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Nordhausens am Ende des Zweiten Weltkriegs, eine demokratisch-zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur, in deren Zentrum die kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus steht, als „Schuldkult“ herabgewürdigt. Einige Tage später verwahrte er sich gegen die Deutung des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“. Seine Parteivorsitzende Alice Weidel äußerte sich im ARD-Sommerinterview im September 2023 ähnlich: Den 8. Mai als „Niederlage des eigenen Landes“ zu feiern komme für sie nicht in Frage.
Letztendlich scheiterte Prophet mit seiner Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von Nordhausen. Ob dafür die Warnungen des IKBD vor dessen geschichtsrevisionistische Positionen mitentscheidend gewesen sind, muss offen bleiben. Umgekehrt ist bemerkenswert, dass die AfD, deren Protagonist*innen, aber auch andere Akteur*innen und Strömungen der extremen Rechten den Verweis auf „Geschichte“ häufig als mobilisierungsfähige Ressource nutzen. Damit sind nicht nur die spektakulären geschichtspolitischen Provokationen eines Björn Höcke gemeint, für die dessen berüchtigte Dresdner Rede vom Januar 2017 zum Symbol geworden ist.
Auch darüber hinaus versuchen die AfD und andere Protagonist*innen der extremen Rechten unterschiedlich historisch konotierter Orte gleichsam als Kulisse für ihre gegenwartsbezogenen politischen Vorstöße zu nutzen. Etwa das Kyffhäuser-Denkmal in Thüringen oder das Historische Rathaus in Münster, in dem zuletzt im Januar 2023 der Bezirksverband Münster zum Neujahrsempfang geladen hatte. Zu nennen ist auch das Hambacher Schloss, das erstmals im Mai 2018 Schauplatz des „Neuen Hambacher Festes“ wurde – mit dem die neue Bewegung von rechts sich in die Traditionslinie des Hambacher Festes vom Mai/Juni 1832 zu rücken versuchte.

Die Aura historischer Bedeutsamkeit

Im Folgenden soll es darum gehen, die für das Geschichtsverständnis der AfD zentralen Narrative (1), Topoi (2) und Mythen in den Blick nehmen. Meine These lautet, dass es der AfD in ihrer Geschichtspolitik vor allem darum geht, die für ihre Rhetorik zentralen Kategorien „Volk“, „Nation“ und „Kultur“ als exklusive und (ethnisch) homogen gedachte Entitäten zu konstruieren und diese „vorgestellten Gemeinschaften“ (Benedict Anderson) mit scheinbar historischen Argumenten zu legitimieren. Geschichte avanciert hier zum Kulturkampf, indem ein exklusiv gedachtes Gemeinschaftskonzept gegen ein plurales, inklusives Gesellschaftsverständnis in Stellung gebracht wird.
Der Umstand, dass die AfD den Rekurs auf „Geschichte“ in instrumenteller Weise nutzt, um ihre politische Agenda mit der Aura historischer Bedeutsamkeit zu versehen, nach „innen“ eine spezifische, weltanschauliche Gruppenidentität zu festigen und sich nach „außen“ von anderen gesellschaftlichen Spektren abzugrenzen, ist für sich genommen nicht außergewöhnlich. Allenthalben wurden und werden in unterschiedlichen Parteien, Milieus und Szenen Traditionen gestiftet, an denen sich die Vorstellungen von „Gemeinschaft“ herauskristallisieren und reproduzieren sollen. Grundsätzlich stellen Erinnerungs- und Geschichtskulturen immer Konstruktionen dar, die sich nicht an einer „objektiven“ Bedeutung des erinnerten historischen Geschehens festmachen, sondern an den „Kriterien der Gegenwart“ (Michael Kohlstruck) orientiert sind. Mit „Geschichte“ und „Erinnerung“ wird im wörtlichen Sinne „Politik“ gemacht. Allerdings verfügt die AfD bislang über kein geschichtspolitisches Zentrum – zu denken wäre hier etwa an die Desiderius Erasmus-Stiftung, den Parteivorstand oder die Bundestagsfraktion.
Indes sind es meiner Ansicht nach fünf Aspekte, die das Geschichtsverständnis der AfD und der neuen Sozialen Bewegung von Rechts in spezifischer Weise prägen, die jedoch keineswegs neu sind. Vielmehr handelt es sich um ein Bündel von Topoi und Grundpositionen eines Geschichtsbildes, das zu großen Teilen bereits für den Neuen Nationalismus der Zwischenkriegszeit zwischen 1918 und 1933 kennzeichnend gewesen ist:

Semantik des Niedergangs – Kulturpessimismus

Kennzeichnend für die Rhetorik der AfD ist ein ausgeprägter Kulturpessimismus, der sich gegen plurale Gesellschaftsentwürfe wendet, von ständigem Niedergang und der daran geknüpften fundamentale Bedrohung für die Vorstellung vom „Volk“ als exklusive, homogene Gemeinschaft kündet. Diese Semantik des Niedergangs erhält somit eine notorisch existentielle, geschichtsmächtige Dimension. Zugespitzt gesagt: Es geht immer ums Ganze. Um Überleben oder Untergang. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Jongen proklamierte in diesem Sinne im Rahmen einer aktuellen Stunde zur Erinnerungskultur im Deutschen Bundestag im Februar 2018: „Wir kämpfen für eine Alternative zur Abschaffung dieses Landes als staatliche und kulturelle Einheit. […] Es geht also buchstäblich um alles.“ Es geht um scheinbar unversöhnliche Entwicklungen, die nur ein „entweder – oder“ kennen. Als verantwortlich für die von der AfD und ihren Protagonist*innen beschworenen endzeitlichen Szenarien erscheint die in westlichen Gesellschaften, zumal in der Bundesrepublik angeblich grassierende und in zahlreichen Variationen beklagte „Dekadenz“. Das Konzept von Mehrelternfamilien diskreditierte die AfD in Sachsen-Anhalt im Vorfeld der Landtagswahlen im Mai 2021 beispielsweise als „Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz und kognitiver Degeneration“. Das Verdikt der „Dekadenz“, gehört seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu den zentralen Topoi extrem rechter Rhetorik. Unterstellt wird die Preisgabe einer verklärten, gleichsam „überhistorisch“ gedachten „alten“ Ordnung durch angeblich „gleichmacherische“ Gesellschaftsentwürfe.
Die Semantik des Niedergangs ist häufig durch Sprachbilder aufgeladen, die gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen mit Naturkatastrophen, Krankheitsmetaphern oder sonstigen apokalyptischen Szenarien in Verbindung bringen. In diesen Argumentationsmustern zeigt sich zudem, wie sich kulturpessimistische Deutungsrahmen mit verschwörungstheoretischen Annahmen verbinden können, wie etwa den rassistisch bzw. antisemitisch aufgeladenen Dystopien vom „Großen Austausch“ oder vom „Great Reset“.

Exklusiver Volksbegriff

Die Schlüsselkategorie im Geschichtsverständnis der AfD bildet jedoch, wie bereits erwähnt, das (in seiner Existenz ständig bedrohte) Volk, das in spersonifizierender Rhetorik als Kollektivsubjekt mit gleichsam einheitlichen Wahrnehmungen, Interessen und Feinbildern erscheint. Die Vorstellung vom Volk als „Organismus“ firmiert bis heute als zentraler Topos im Ensemble extrem rechter Grundpositionen.
Bemerkenswert ist indessen, dass die grundlegende Frage, wer nun eigentlich zum „Volk“ gehören solle, in erster Linie damit beantwortet wird, wer dieser immer wieder beschworenen Gemeinschaft nicht zuzurechnen sei. Auf diesen Mechanismus, das „Eigene“ durch die Abgrenzung zum „Anderen“ zu bestimmen, hat auch der britische Kulturtheoretiker Stuart Hall mit Blick auf Großbritannien durch seine Feststellung hingewiesen, dass „die [weißen] Engländer nicht deshalb rassistisch“ seien, weil sie „die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind.“ Dabei erweisen sich die Zuschreibungen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit als weitgehend unveränderbar und somit gleichsam als überhistorisch. Zugehörigkeit wurzelt demnach im Mythischen.

Monolithisches Kulturverständnis

Geradezu konstitutiv für einen derart exklusiven Volksbegriff ist ein monolithisches Verständnis von „Kultur“. Um gegenüber den vermeintlich existentiellen Herausforderungen bestehen zu können, proklamiert die AfD eine „deutsche Leitkultur“, die dem „Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit“ dienen soll. Diese sei vorwiegend durch Sprache, aber auch durch einen über alle historischen Zäsuren hinweg bestehenden „Kernbestand“ an „Wertehaltungen“ geprägt. „Kultur“, die dem „Volk“ also ihren unverwechselbaren und gleichsam überhistorischen Charakter verleihen soll, bildet somit eine weitere Schlüsselkategorie für das Geschichtsverständnis der AfD. Von „Kultur“, etwa von „deutscher“ oder „abendländischer“, wird zumeist nur im Singular gesprochen. Die Beobachtung, dass „Kulturen“ durch ständigen Wandel, Hybridisierungen, inter- und transnationale Einflüsse geprägt sind und somit vor allem als Prozesse, mithin also als etwas „Unfertiges“ verstanden werden können, stößt hingegen auf entschiedene Ablehnung.

Der Verweis auf „Kultur“ vollzieht sich somit im Rahmen eines konsequenten „Freund-Feind“-Denkens und spielt nicht zuletzt für die Gegnerbestimmung eine zentrale Rolle. Ähnlich wie der Volksbegriff ist demnach auch das Kulturverständnis in erster Linie „exklusiv“ geprägt. Gleichzeitig soll Kultur, folgt man den entsprechenden programmatischen Ausführungen der AfD, vollständig in den Dienst nationaler Identitätsstiftung gestellt werden. Im Wahlprogramm der AfD zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 heißt es etwa, „dass die vornehmste Aufgabe der Kunst darin bestehe, kulturelle Identität zu pflegen“. Mit Blick auf die Paradigmen einer künftigen nationalen Erinnerungskultur postuliert das Grundsatzprogramm der AfD: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven und identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“

In verschiedenen weiteren programmatischen Verlautbarungen forderte die AfD wiederum im Geschichtsunterricht einen deutlichen Schwerpunkt auf das 19. Jahrhundert zu legen. In diesem Zusammenhang erscheinen zwei Aspekte bemerkenswert: Zum einen sticht ins Auge, dass die Rekurse der AfD auf „Geschichte“ sich vorwiegend auf jene Epochen deutscher Geschichte richten, die eben nicht demokratisch verfasst waren – etwa auf das Wilhelminische Kaiserreich und die in jenen Jahren errichteten Denkmäler. Seit einiger Zeit widmet sich die AfD auch dem deutschen Kolonialismus, dessen „zukunftsweisende Errungenschaften“ sie, wie es in einem Antrag im Deutschen Bundestag mit dem Titel „Deutsche Identität verteidigen – Kulturpolitik grundsätzlich neu ausrichten“ vom Januar 2023 heißt, stärker gewürdigt sehen möchte. Aktuelle Restitutionsforderungen (3), die Forderung nach Rückgabe von kolonialen Objekten an die legitimen Voreigentümer*innen oder deren Rechtsnachfolger*innen werden entschieden zurückgewiesen. Verklärende Perspektiven richten sich nicht zuletzt auf „Preußen“, dessen vermeintliche „Tugenden“ in Veröffentlichungen der AfD zu idealisierten Leitbildern avancieren.

Die Bezugnahmen auf das „Hambacher Fest“ 1832 und die Revolution von 1848, mit der sich die AfD in die Tradition demokratischer Bewegungen zu stellen versucht, ist indessen weniger durch eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen historischen Geschehnissen geprägt, als vielmehr durch das Bemühen die damaligen Konfliktlinien und -konstellationen zu reaktualisieren und in die Gegenwart zu projizieren. Während sich die Protagonist*innen der AfD und ihres Umfeldes im Rahmen etwa des „Neuen Hambacher Festes“ als Wiedergänger*innen der gegen die Obrigkeit aufbegehrenden Demokrat*innen und Revolutionär*innen stilisieren, erscheint in dieser Erzählung das rhetorisch heftig attackierte politische, kulturelle und gesellschaftliche „Establishment“ der Gegenwart als Ausdruck einer illegitimen autokratischen Herrschaft, die umstandslos in die Tradition der restaurativen, reaktionären und repressiven Regime des 19. Jahrhunderts gerückt wird.
In ähnlicher Weise versucht die AfD sich die „Friedliche Revolution“ vom Herbst 1989 geschichtspolitisch anzueignen. Mit dem Slogan „Vollende die Wende“ stilisiert sich die Partei zur einzigen und legitimen Sachwalterin der Bürger*innen- und Protestbewegung, die sich vor über 30 Jahren in der DDR formierte und das realsozialistische Gesellschaftssystem schließlich zu Fall brachte.
Die Bundesrepublik firmiert für der AfD allerdings kaum als geschichtspolitischer Orientierungspunkt. Vielfach erscheint sie, zumal im publizistischen Umfeld der AfD – etwa im Compact-Magazin oder in der Secession – als Negativfolie, geprägt durch „Verwestlichung“ und „Dekadenz“, vor der sich der „Osten“ Deutschlands, umso heller abhebt, scheint hier das eigentliche Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang doch gleichsam überwintert zu haben.

Zum anderen ist auffällig, dass das ansonsten so emphatisch beschworene „Volk“ in den historischen Verlautbarungen der AfD eigentümlich blass bleibt. Gesellschaftliche Bewegungen, die Wahrnehmungen, Deutungsmuster und historischen Erfahrungen der „Vielen“ finden kaum Beachtung. Das „Volk“ tritt tatsächlich meist nur im Kollektiv gleichsam als „Schicksalsgemeinschaft“ auf, aus der lediglich einzelne historische Figuren herausragen.

Männlich-martialisches Geschichtsbild

Dies verweist wiederum auf den vierten Aspekt des Geschichtsverständnisses der AfD – nämlich dessen männlich-martialische Ausrichtung. Denn folgt man den historischen Betrachtungen, die Repräsentant*innen der AfD in ihren geschichtspolitischen Verlautbarungen anstellen, sind es vor allem Männer, die „Geschichte“ machen. Dies gilt zumal für das immer wieder beschworene 1871 entstandene Deutsche Kaiserreich, das vor allem als das Werk Bismarcks betrachtet wird. Diese Perspektive auf „Geschichte“ fügt sich in die Verklärung des 19. Jahrhunderts, richtete sich der Fokus der sich damals formierenden modernen Geschichtswissenschaft, wie auch der Geschichts- und Erinnerungskultur auf eben jenes Wirken der „großen“ Männer.
Frauen als historische Akteurinnen? Fehlanzeige. Doch das Geschichtsverständnis der AfD ist nicht nur männlich konnotiert, sondern auch martialisch aufgeladen. Am deutlichsten rekurriert Höcke auf die geschichtsmächtige Bedeutung kriegerischer Männlichkeit. In diesem Sinne gilt die Verachtung Höckes auch den „unmännlichen“, scheinbar „verweichlichten“ Protagonisten der „Altparteien“. Auch diese rhetorische Diskreditierungsstrategie ist nicht neu. Bereits in der Weimarer Republik wurden Politiker*innen der demokratischen Parteien von ihren extrem rechten Gegnern mit ähnlichen Zuschreibungen, die ihnen „Verweichlichung“, „Verweiblichung“ und „Dekadenz“ attestierten, diffamiert.

Entsorgung der NS-Vergangenheit?

Doch so wortreich und pathetisch das 19. Jahrhundert verklärt und für ein „positives Identitätsgefühl“ herangezogen wird, so schweigsam gibt sich die Partei, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem historischen Nationalsozialismus geht, stehen dessen Vernichtungspolitik doch jener von AfD-Vertreter*innen immer wieder reklamierten unbefangenen „Nationalidentität“ entgegen. Obgleich sich im Umfeld der AfD ein teilweise bizarres Spektrum von Geschichtsrevisionist*innen unterschiedlicher Schattierungen tummelt, vermeiden es die führenden Parteifunktionär*innen die präzedenzlosen nationalsozialistischen Verbrechen zu beschönigen oder sogar zu leugnen. Es sind vor allem fünf rhetorische Muster, die den Umgang mit dem Nationalsozialismus prägen.

Erstens: Das Bemühen, den Nationalsozialismus überhaupt nicht zu erwähnen. Es finden sich in den Verlautbarungen der AfD zahlreiche Floskeln, in denen von „den 12 Jahren“ oder von „jenen 12 dunklen Jahren“ die Rede ist. Der Begriff des Nationalsozialismus wird kaum direkt in den Mund genommen. Erst Recht unerwähnt bleiben die präzedenzlosen Verbrechen.

Zweitens: Wird der Nationalsozialismus sogar gänzlich aus der deutschen Geschichte ausgegliedert. Der Nationalsozialismus sei, behauptete Alexander Gauland in einem Interview im August 2017, „etwas zutiefst antideutsches“. Diese Setzung wiederum ermöglicht es dann sogar, die Deutschen zu Opfern des Nationalsozialismus zu stilisieren. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn hat diese Selbstviktimisierungsversuche als „Wunsch nach kollektiver Unschuld“, als „Phantasma des eigenen Opferstatus“ beschrieben.

Drittens: Der Nationalsozialismus wird rhetorisch aus dem extrem nationalistischen und rechtsextremen politischen Spektrum ausgegliedert und dem linken politischen Spektrum zugeschlagen. So sprach etwa Marc Jongen in einem Redebeitrag im Februar 2019, dass der „Sozialismus in all seinen Spielarten“ unendliches Leid über die Menschheit gebracht habe.

Viertens: Der Islam wird als Wiedergänger des Nationalsozialismus diffamiert, während sich die AfD gleichzeitig als konsequent anti-antisemitische politische Kraft stilisiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang indessen, dass sich Vertreter*innen jüdischer Einrichtungen, Verbände und Organisationen, die auf die völkischen und rassistischen Tendenzen innerhalb der Partei und ihres Umfelds ebenso hinweisen, wie auf die bisweilen manifest antisemitischen Verlautbarungen einiger ihrer Vertreter*innen, nicht selten den Zorn und die Polemik der Rechtspopulist*innen zuziehen. So etwa Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die in einer Ansprache im Bayerischen Landtag anlässlich des Holocaustgedenktags im Januar 2019 die AfD kritisiert hatte und daraufhin aus den Reihen der AfD als „willige Vollstreckerin“ des politischen Establishments diffamiert wurde – in Anlehnung an den vom amerikanischen Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen geprägten Terminus, mit dem er die breite Beteiligung der Deutschen an der Shoah begrifflich zu fassen versuchte.

Fünftens: Münden diese rhetorischen Muster allesamt in das Postulat einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit und deren Bewältigung zu ziehen. Insgesamt lässt sich also feststellen: Die geschichtspolitischen Vorstöße der AfD konzentrieren sich vor allem darauf, die kritischen Erinnerungskulturen, die sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entwickelt haben, zu attackieren. (4) Nicht die Faktizität des Nationalsozialismus steht somit in Frage, sondern die gesellschaftliche, politische und pädagogische Auseinandersetzung damit, die häufig als „Schuldkult“ denunziert wird.
Deutlich wird vor allem auch, dass das schwammige Postulat einer identifikationsfähigen „erweiterten Geschichtsbetrachtung“, das die AfD in ihrem Grundsatzprogramm an die Stelle einer angeblichen Verengung der deutschen Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus setzen möchte, mit unterschiedlichen Assoziationen und Deutungsmustern gefüllt wird, die jedoch allesamt auf eine mehr oder weniger entschlossen forcierte Entsorgung der NS-Vergangenheit hinauslaufen.

Vielstimmige Erinnerung

Doch wie können emanzipatorische Erinnerungskulturen und -praktiken diesen extrem rechten geschichtspolitischen Vorstößen kritisch begegnen?
Das IKBD postuliert in der eingangs bereits zitierten Erklärung kämpferisch: „Wir, ehemalige KZ-Häftlinge, haben den Nationalsozialismus erlebt. Das IKBD, zusammen mit engagierten Menschen, wird den Weg zum Faschismus weiter versperren, und den Kampf gegen die Verachtung von den Schwächsten und gegen jede Verherrlichung des III. Reiches weiterführen.“
Wie kann aber die Forderung des „Nie wieder!“, die ja besonders von den Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung immer wieder in die Öffentlichkeit getragen wurde und wird, mit Inhalt gefüllt werden?
Denn nicht nur rechtspopulistisches Getöse, extrem rechte Verschwörungsnarrative und die ständig wiederkehrenden Versuche, den Nationalsozialismus zu verklären oder zu verharmlosen stellen eine Herausforderung dar, sondern auch die Feststellung, dass das Bekenntnis zu den nationalsozialistischen Verbrechen gleichsam zur Staatsraison der „Berliner Republik“ geworden ist, daraus jedoch keineswegs eine fortwährende kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte resultieren muss. Der Journalist Walter Grasskamp verwies bereits vor Jahren auf eine gewisse „Behaglichkeit des Gedenkens“, die für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik kennzeichnend sei. (5) Mit anderen Worten: Die erinnerungskulturelle Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus droht zunehmend zu verflachen und in ritualisierten Formeln eingehegt zu werden. Eine andere Herausforderung besteht in den Versuchen, erinnerungskulturelle Meistererzählungen zu schaffen, die ein demokratisches Narrativ in den Mittelpunkt rücken und eine direkte Linie vom „Hambacher Fest“ 1832 zur „Berliner Republik“ und deren politischer Kultur zu ziehen, die es nun gegen extrem rechte Vorstöße zu verteidigen gelte. In diesem Zusammenhang ist allerdings kritisch anzumerken, dass die unterschiedlichen Implikationen, die beispielsweise das „Hambacher Fest“ hatte, zugunsten einer Geschichtsteleologie (6) zugespitzt werden, die ihre scheinbare Vollendung in der Bundesrepublik der Gegenwart findet. Daran anknüpfend ist das damit einhergehende Narrativ von der Bundesrepublik als demokratischer „Erfolgsstory“ kritisch zu hinterfragen. Nach wie vor ringen marginalisierte Gruppen und Akteur*innen um politische und soziale Rechte. Rassismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind strukturell und im Alltag breit verankert. Die Kämpfe um Partizipation und gleichberechtigte Anerkennung, die die Geschichte der Bundesrepublik von Beginn an kennzeichneten, die aber häufig kaum wahrgenommen wurden und werden, finden in einer historischen Meistererzählung, die um gleichsam kanonisierte Orte der „Demokratiegeschichte“ kreist – wie etwa das Hambacher Schloss oder die Frankfurter Paulskirche – keinen Niederschlag. Im historischen Bewusstsein der Dominanzgesellschaft sind etwa die Proteste jüdischer Displaced Persons während der späten 1940er und frühen 1950er Jahre gegen den im Nachkriegsdeutschland weiterhin virulenten Antisemitismus weitgehend unbekannt, ebenso wie die Streiks und Arbeitskämpfe migrantischer Arbeiter*innen am Beginn der 1970er Jahre (7).
Mehr noch: Eine historische Meistererzählung, die in dieser Weise „Demokratiegeschichte“ als Erfolgsgeschichte in den Mittelpunkt rückt, trägt absichtlich oder unabsichtlich dazu bei, diese vielschichtigen Kämpfe um Anerkennung weiter zu marginalisieren.
Emanzipatorische Erinnerungskulturen und Ansätze der (historisch-)politischen Bildung sollten sich daher weniger der Konstruktion von „Gegenmythen“ zu extrem rechten Mythen widmen, sondern dazu beitragen, jene weitgehend verkannte oder ignorierte Vielstimmigkeit sicht- und hörbar zu machen. Sie sollten Fragen nach den uneingelösten Hoffnungen und Versprechen stellen, die sich an den Begriff der „Demokratie“ knüpfen. Das Konzept der „Vielstimmigkeit“ macht darauf aufmerksam, dass „Geschichte“ und auch Erinnerungskulturen nicht an sich existieren, sondern „gemacht“ werden, mithin also Konstrukte darstellen, die sich nicht zuletzt an aktuellen Zielen und Interessen orientieren. Wer schreibt Geschichte und mit welchen Zielen? Welche Stimmen und Erfahrungen werden gehört und welche nicht? Gibt es die eine „Demokratiegeschichte“ oder gibt es nicht eine Vielzahl von Kämpfen um Anerkennung, Partizipation und somit auch „Demokratie“, die sich eben nicht in eine große Erzählung fügen lassen. „Vielstimmigkeit“ in den Fokus zu rücken, bedeutet demnach auch, nach Machtverhältnissen und daran geknüpfte Deutungsmacht zu fragen. Freilich lässt sich mit dem Verweis auf „Vielstimmigkeit“ nicht die Verherrlichung oder die Leugnung beispielsweise der nationalsozialistischen Verbrechen rechtfertigen. „Vielstimmigkeit“ bedeutet nicht, beliebig jede Meinung – und sei sie noch so absurd, verschwörungsideologisch aufgeladen oder die Opfer des NS-Terrors verhöhnend – nebeneinander zu stellen und sie auf diese Weise zu legitimieren. Derartige geschichtsrevisionistische Vorstöße orientieren sich zumeist auch nicht an Empirie oder überprüfbaren Quellen, sondern dienen ausschließlich der Polemik.
„Vielstimmigkeit“ bedeutet auch die Offenheit für den Austausch von Perspektiven, mithin die Herstellung von vielschichtigen Sichtweisen. Ein Verständnis von Geschichte also, dass den hermetischen Narrativen der extremen Rechten, die auf vermeintliche Eindeutigkeiten, Homogenität und Exklusivität abzielen, diametral entgegensteht.

(1) Als Narrativ wird eine sinnstiftende Erzählung bezeichnet, die Einfluss auf die Art hat, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen Nationalstaat oder ein bestimmtes Kulturareal bezogen und unterliegt dem zeitlichen Wandel.
(2) Unter einem Topos (Plural Topoi, altgriechisch für „Ort, Thema, Gemeinplatz“) versteht man einen Gemeinplatz, eine stereotype Redewendung, ein vorgeprägtes Sprachbild (Metapher), ein Beispiel oder Motiv
(3) Unter Restitution von Kulturgütern versteht man die Rückerstattung geraubter, unrechtmäßig enteigneter, erpresster oder zwangsverkaufter Kulturgüter an die legitimen Voreigentümer*innen oder deren Rechtsnachfolger*innen.
(4) Vgl. Wildt, Volk, S. 118.
(5) Vgl. Walter Grasskamp: Die Behaglichkeit des Gedenkens, in: Die Zeit vom 18.11.1994.
(6) Teleologie ist die Lehre von der Zweckmäßigkeit und dem Zweckbestimmtsein alles menschlichen wie auch geschichtlichen und natürlichen Handelns und Geschehens. Teleologisch bedeutet auf ein Ziel oder einen Zweck bezogen, einen Zweck unterstellend.
(7) Zu den „wilden“ Streiks 1973 siehe die Artikel von Torsten Bewernitz in der GWR 482 (Oktober 2023) und von Mag Wompel auf Seite 13 f. dieser GWR.

Der Historiker Michael Sturm ist pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschichtsort Villa ten Hompel und Mitarbeiter der Mobilen Beratung im Regierungsbezirk Münster – gegen Rechtsextremismus, für Demokratie (Mobim). Im Dezember 2015 erschien in der GWR 395 sein Artikel „‘Dann knackt er jeden Schädel’ Eine Geschichte des Polizeischlagstocks“.