Großspurigkeit und Gewalt

Der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie bietet keinen „Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht“

| Jens Kastner

Geoffroy de Lagasnerie: Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht, Passagen Verlag, Wien 2023, 104 Seiten, 17 Euro, ISBN 978-3-7092-0543-3

Großspurige Buchtitel sind ja an sich nichts Schlechtes. Manifeste und Essays haben auf überschaubarer Seitenzahl schon häufig zur Diskussion angeregt, Debatten losgetreten, intelligent polemisiert und polarisiert. Nicht selten haben interessante Thesen unter vollmundiger Überschrift ihren Weg in die Auseinandersetzung angetreten. „Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht“ ist so ein Titel. Wer sich aber von diesem Buch des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie einen solchen Anstoß erwartet, der gar die titelgebende Ankündigung einlöst, wird enttäuscht werden.
Das hat Gründe. Schon die Ohnmacht, die der Autor den „progressiven Kräfte[n]“ (S. 12) attestiert, wird ziemlich eingleisig mit mangelnder staatspolitischer Regulierung, also mit fehlender Regierungsbeteiligung linker Parteien gleichgesetzt. Der selbstgesetzte Anspruch, „andere Machtnarrative [zu] entwickeln“ (S. 29), wird nicht eingelöst. Das Politische neu zu denken, weil die bisherigen Schilderungen und Theorieansätze immer wieder formelhaft erstarrt sind, auch dagegen spricht erst einmal nichts. Nicht zuletzt dann nicht, wenn auch die traditionellen Formen des politischen Kampfes selbst wie „Streik, Besetzung oder Demonstration“ (S. 23) zu Ritualen verkommen scheinen, die sich von offensiven in defensive, nur mehr reagierende Instrumente verwandelt haben.
Den Vorschlägen, die de Lagasnerie dann aber vorstellt, ergeht es nicht anders als dem Machtnarrativ, sie bleiben eindimensional und oberflächlich. Im Wesentlichen bestehen sie aus drei Elementen: Der Autor plädiert für mehr Gewalt bei direkten Aktionen einerseits und für die Infiltration von bestehenden Institutionen andererseits. Dass beide Strategien sich häufig praktisch und eventuell auch grundsätzlich im Wege stehen, wird gar nicht problematisiert. Gegen Ende des Buches fällt ihm noch eine dritte Strategie ein, die mit den vorherigen bloß die Unausgegorenheit teilt: Nicht allein eine politische Strategie solle es sein, vielmehr solle sich die Linke, wie früher in manch kommunistisch orientierten Arbeiter*innenmilieus, wieder im „alltäglichen Leben“ (S. 80) verankern. Vielleicht müssen wir, meint de Lagasnerie dann, „eine Hegemonie im praktischen, alltäglichen, materiellen Bereich anstreben“ (S. 81).

Alle drei Vorschläge ließen sich diskutieren, es sei hier aus Platzgründen vor allem auf die Gewaltfrage eingegangen und die Infiltration von Institutionen und Alltag vernachlässigt.
De Lagasneries unkritischer Aufruf zur Gewalt als politisches Mittel ist so überraschend wie ärgerlich. Er empfiehlt sie nicht bloß als Taktik, um aus der „politischen Ökonomie des Scheiterns“ (S. 17) auszubrechen, son
dern auch als eigentlich politische Aktion, die im Gegensatz zu der aus seiner Sicht lediglich theatralen Pseudopolitik von Demonstrationen, Happenings, Streiks und anderen Praktiken steht, die im Modus des „als ob“ verblieben. Dabei bezieht er sich auf den Philosophen Günter Anders, der 1987 ein Plädoyer gegen die spaßorientierten Happenings einerseits und die leidensorientierte Selbstaufopferung (Hungerstreiks etc.) andererseits für die Anwendung von Gewalt gegen die Herrschenden schrieb. Zu viel der Freude auf Demos und Aktionen diene vor allem dem eigenen, kollektiven Wohlbefinden und schade den Gegner*innen ebenso wenig wie die totale Hingabe an den Kampf, die den Maßstab für Erfolg mehr am eigenen Leid als am Schaden der anderen Seite ausrichte.
Die Gefährdung der gesamten Menschheit ist sicherlich ein Aspekt der Zeitdiagnose von Günther Anders, der aus der Ära der atomaren Bedrohung des Kalten Krieges in die Gegenwart der Klimakatastrophe übertragbar ist. Ob die politische Reaktion, die Anders angesichts dieser Gefahr präferierte, aus vergleichbar guten Gründen übernommen werden kann, ist allerdings fraglich. Geoffroy de Lagasnerie macht sich aber erst gar nicht die Mühe, sich diese Frage zu stellen. Er setzt Gewalt mit politischer Effektivität gleich, ja, verengt sogar den Politikbegriff selbst auf gewaltsame Praxis, wenn er schreibt, politisches Handeln bedeute, „denjenigen Leid zuzufügen, die für unser Leid verantwortlich sind“ (S. 20). Von der leider in der Wirklichkeit häufig anzutreffenden Unklarheit eines klaren Grenzverlaufs zwischen „denen“ und „uns“ mal abgesehen, blendet diese Verengung auch jahrzehntelange Diskussionen über das Für und Wider emanzipatorisch intendierter Gewalt aus: Gegen Gewalt als politisches Mittel sprachen zumindest mal die stets als Reaktion erfolgte Aufrüstung des Staates und die in Gang gesetzte Repressionsspirale (in der soziale Bewegungen meist den Kürzeren gezogen haben – von den enormen Opfern gar nicht erst zu reden), die Abschreckung potenzieller Verbündeter, die Gefährdung (mehr oder weniger) Unbeteiligter, die ethische und soziale Verrohung der Akteur*innen selbst usw.
Wenn de Lagasnerie später im Text doch die Repressionsspirale erwähnt und die Gefahr sieht, die politische Arbeit nur noch auf die Polizeigewalt zu fixieren und „unsere eigentlichen Ziele aus den Augen [zu] verlieren“ (S. 55), bleibt das eine Warnung ohne Konsequenzen.

Für jemanden, der wie de Lagasnerie die rituellen Formen des Politischen bekämpfen möchte, ist diese Gewaltverherrlichung schon erstaunlich. Denn sie gehört wohl zu den ritualisiertesten Gesten von Radikalität, die sich denken lassen: In ihrer dualistischen Logik durchziehen sie die linken Debatten von den russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts über den Antikolonialismus des späten Frantz Fanon bis hin zur insurrektionalistischen Strömung im Anarchismus der Gegenwart. Dass Gewaltfreiheit immer noch so bedenkenlos mit Passivität und politischer Ineffektivität gleichgesetzt wird, dürfte Rosa Parks und Martin Luther King jr. vermutlich im Grabe rotieren lassen. Dem Antikolonialismus in Indien um M. K. Gandhi, der Anti-AKW-Bewegung und vielen anderen gewaltfreien Kämpfen wird es auch nicht ansatzweise gerecht.
Den Nutzen des Marschs durch die Institutionen versucht de Lagasnerie einerseits am Beispiel der Neoliberalen zu verdeutlichen, die die politischen Institutionen mehr verändert hätten als diese die Neoliberalen. Dabei blendet er aus, dass neoliberale Strategien nie eine befreiende, soziale Gleichheit erstrebende Perspektive hatten und deshalb auch ganz anders zu bestehenden Institutionensettings im Verhältnis stehen, als linke Akteur*innen und Konzepte. Andererseits nennt er die LGBTIQ-Bewegungen (1) als institutionell relativ erfolgreiche Mobilisierungen, ohne auch nur anzudiskutieren, dass gerade sie auf Gewalt als Mittel kaum in nennenswertem Maße zurückgegriffen haben.
Die nie geleisteten Vermittlungen zwischen den verschiedenen Vorschlägen machen de Lagasneries Buch neben dem verschlissenen Umgang mit Grundsatzfragen und dem meist ahistorischen Zugang zu einem äußerst schwachen Text.

(1) LGBTIQ*. International gebräuchliche Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter*, Queer (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer).