Immer mehr vom Weniger

| Ewart Reder

Ein Gespenst geht um im Supermarkt. Die Packungen werden leerer. Die Preisschilder bleiben, der Inhalt schwindet – eine Spezialausgabe der Teuerung, englisch „shrinkflation“. Die Wahrheitsdrohne fliegt die Warengänge hinunter, ihr wird schwindelig von so viel gelogener Kontinuität. Einem Sozialrentner, nennen wir ihn Rudi, folgt sie durch den fernen Osten von Frankfurt am Main.
Mit dem Brot fing es an. Es kostet das Gleiche, wiegt aber nur noch fünfhundert Gramm. Ein Drittel fehlt. An schlechten Tagen, wenn Rudis Geld nur für Brot reicht, isst er ein ganzes auf. Früher kam er drei Tage mit einem aus. Die Nudelpackung enthält jetzt vierhundert Gramm, die Fleischpackung bei ALDI dreihundert. Zweimal satt von einer, wie an seltenen Wochenenden, wird Rudi nicht mehr. Viele Artikel kosten mehr und enthalten weniger, wie die einzige Fertigpizza, die Rudi sich leisten kann … leisten konnte. Und dann ist da noch die Frühstücks-RAMA. Teurer geworden, weniger drin und statt Margarine zu einem Viertel streichfähiges Wasser. „Margarine“ darf sie nicht mehr heißen, „Streichfett“ klingt auch nicht schlecht. „Skimpflation“ sagen die Amis: schlechtere Qualität zum gleichen Preis. Die Dreisteten schreiben „verbesserte Rezeptur“ und schlagen gleich noch mal drauf.
Rudi kommt mit seinem Einkauf nach Hause. Am Ende des Geldes noch so viel Monat! Er räumt alles in den Kühlschrank und wundert sich: Der sieht voll aus, obwohl ein Drittel weniger drin ist als früher. Rudi schließt die Tür und lehnt sich auf den Kühlschrank. Dabei verliert er das Gleichgewicht, kippt vornüber, kann sich gerade noch aufstützen und weiß: Der Kühlschrank ist kleiner geworden. Shrinkflation hat in seinen vier Wänden Einzug gehalten. Panisch läuft Rudi zur Wohnungstür, kann nicht glauben, wie schnell er sie erreicht. Beim Hinausstürzen stößt er sich den Kopf am Türbalken. Als er draußen steht, hat er ein größeres Puppenhaus vor sich. In dem wohnt er.
Um sich zu beruhigen, läuft Rudi in den benachbarten Park und steuert seine Lieblingsbank an. Er braucht seine Lesebrille, um die Bank zwischen Bonsaibäumchen zu identifizieren und sich auf sie zu zwängen. Statt drei haben auf ihr nur noch zwei Personen Platz. Und es gibt nur eine Person, sie heißt Herbert, die sich trotz dieser Enge neben ihn setzen würde. Die Person kommt und setzt sich. Hallo Herbert. Hallo Rudi. Es entspinnt sich die übliche Nachbarschaftskonversation, aber komisch, Herbert ist nach „den Ausländern, den Flüchtlingen und der Scheißampel“ schon fertig, kommt gar nicht mehr zu „den Schlampen, den Lesben und den Transen“, über die er sonst noch ein jeweils eigenes Weilchen herzieht. Schon ist er weg. Auch in Herbert, denkt Rudi, ist nicht mehr das Gleiche drin.
Beim Nachdenken über Herberts Ausführungen gewinnt Rudi den Eindruck, dass das ganze Land geschrumpft sein muss. Und meldet das nicht die Tagesschau schon seit Wochen? Die Flüchtlinge passen in Deutschland nicht mehr rein. Es kommen aber viel weniger Flüchtlinge als noch 2015/2016, weiß Rudi. Die logische Konsequenz will erst mal verarbeitet sein: Das Heimatland geht ein wie ein zu heiß gewaschener Pullover. Rudi schaut besorgt nach seinen Schuhen: Stehen sie noch sicher? Muss er bald einbeinig hier sitzen? Seine Gedanken drehen sich weiter. Wenn so viele Flüchtlinge kommen, bedeutet das: Deren Länder schrumpfen auch, können ihre Einwohnerinnen und Einwohner nicht mehr fassen und geben sie an Deutschland ab, das fälschlicherweise noch als groß gilt. Bald werden die Norddeutschen in die Nord- und Ostsee kippen, weil die Flüchtlinge sie von Süden dort hineindrücken. Die Tagesschau und heute haben seit Wochen nur diese Botschaft, wird Rudi klar. Was sie noch nicht haben, ist eine Regierung, zu der sie als Staatsrundfunk passen würden. Aber das kann sich bald ändern.
Er steht auf und nimmt die Parade der Landtagswahlplakate ab. Auch hier das gleiche Bild. Die Tafeln so groß wie immer, manche noch größer als vor fünf Jahren. Nur steht fast nichts mehr drauf. „Freiheit fährt FDP“, liest Rudi und rätselt, was gemeint sein könnte. „Wir bringen Hessen wieder auf Kurs“, steht auf den blauen Kartons. Die zwei werden sich einig, mutmaßt Rudi. Einer hat das Fahrzeug, der andere die Richtung. „Steuerfrei ins Eigenheim“, heißt es auf der nächsten Pappe. Rudi interessiert sich: Welche Partei hat so schlechte Aussichten, dass sie eine praktisch verschwundene Splittergruppe anspricht? Die Antwort lautet CDU. Rudi erinnert sich an eine Nachricht aus Thüringen: Richtig, mit der AFD zusammen kann diese Partei ihre Politik durchsetzen, zum Beispiel die Abschaffung der Grunderwerbssteuer. Im Gegenzug verschwindet, nach einer AFD-Forderung, auch die Erbschaftssteuer. Rudi ahnt, dass die Inflation eine goldene Rückseite hat.
Da denkt er lieber an seine Frankfurter Eintracht. Auf Beruhigung und Erhebung hofft er bei dem Gedanken – und zweifelt plötzlich: Wo vorn der stolze Adler drauf ist, ist da denn noch das Gleiche drin? Der Kader wurde vergrößert, Shrinkflation ist es also nicht. Wenn Rudi an die letzten Eintrachtspiele denkt, die er gesehen hat, ist es allerdings das andere: Skimpflation. Die Qualität der Kolo Muani, Kamada, Ndicka ist weg. Überall dasselbe Elend! Will Rudi schon verzweifeln, doch dann fallen ihm die Spielzeiten ein, als die Superstars neu zur Eintracht kamen. Keiner kannte sie damals. Viele lästerten über die No-names, trauten ihnen nichts zu. Und erlebten in kürzester Zeit, dass Qualität sich entwickeln kann. Wenn sie in Menschen steckt und nicht in Supermarktpackungen, präzisiert Rudi seine Erkenntnis.