Voraussichtlich Ende 2023 erscheint das von Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Harald Rein in Berlin im Verlag Die Buchmacherei herausgegebene Buch „KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“ (1). Der Sammelband liefert eine Darstellung von 20 Jahren sozialen Widerstands gegen Verarmung. Wir veröffentlichen daraus als Vorabdruck den folgenden Beitrag von Lutz, Aktivist der anarcho-syndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU) Magdeburg. (GWR-Red.)
Ich kann mich noch sehr gut an die erste Montagsdemo in Magdeburg im Sommer 2004 erinnern. Ich bekam einen Anruf eines Genossen, der zufällig von einer Demonstration gegen die Einführung von Hartz IV in der Innenstadt mitbekommen hatte. Wir beschlossen, uns dieser noch anzuschließen und mobilisierten alle verfügbaren GenossInnen.
Als unser Häufchen von sieben bis acht Leuten dann mit unserem Transpi von der letzten Aktion („Gegen Nazis, Staat und Kapital“) zur vielleicht 300 TeilnehmerInnen zählenden Demo stieß, wurde es freudig begrüßt. Unsere Sprechchöre „gegen Niedriglöhne und Zwangsarbeit“ wurden beklatscht und zum Schluss wurden wir vom Orga-Team um Andreas Ehrholdt, selbst Sozialleistungsbezieher und „Nobody“, allerdings mit bewegter politischer Vergangenheit, ausdrücklich eingeladen, in der kommenden Woche wieder dabei zu sein.
Auf dem Nachhauseweg waren wir alle sehr beschwingt, wir dachten, endlich geht’s los, die Menschen sind aufgewacht. Auf der zweiten Demo folgte dann prompt die Ernüchterung. Diesmal waren die Nazis schneller und setzten sich kackfrech an die Spitze der Demonstration, was vom Großteil der inzwischen schon 6.000 Versammelten – sofern sie überhaupt davon mitbekommen hatten – auch ohne Weiteres akzeptiert wurde. Die einzigen, die was dagegen hatten, waren die wenigen anwesenden Linken. Wir versuchten, die Nazis zumindest von der Spitze der Demo zu vertreiben, appellierten an die DemonstrantInnen, sich das nicht bieten zu lassen, stießen dabei aber fast einhellig auf Unverständnis. Mit unseren Sprechchören gegen die Nazis wurden wir nur als Störer angesehen. Bei der Abschlusskundgebung vor dem Bahnhof eskalierte die Situation dann, als Nazis und ein nicht geringer Teil der DemonstrantInnen uns unter unflätigsten Beschimpfungen und Gewaltdrohungen faktisch des Platzes verwiesen hatte.
Auf die folgenden Demos waren wir dann besser vorbereitet, es nahmen auch deutlich mehr Leute aus der radikalen Linken an ihnen teil, die aber nicht wegen der Hartz-IV-Thematik, sondern eher aus Gründen des Antifaschismus motiviert waren. Die Masse der Linken war auch völlig damit ausgelastet, die Nazis von der Demo fernzuhalten. Schließlich gab es irgendwann einen faulen Kompromiss mit dem Orgateam, dass diese mit einem gewissen Abstand von der Demo hinterherlaufen dürften. Den meisten war es letztlich aber völlig egal, wer da an der Demo teilnimmt – Hauptsache möglichst viele. Während die Rechten „Toleranz“ übten, „normal“ gekleidet waren und in die Sprechchöre der DemonstrantInnen – von „Wir sind das Volk“ bis „Hartz weg, Arbeit her“ – einstimmten, wurden die Versuche der Linken, die Rechten fernzuhalten, nur als störend empfunden.
Wir als FAU waren natürlich auch daran interessiert, dass die Faschisten nicht den Protesten ihren Stempel aufdrückten, wollten aber auch eigene inhaltliche Akzente setzen. Wir trugen fortan unser Transpi mit der Parole „Eine andere Gewerkschaft ist möglich“ inmitten der Demos, verteilten Flugblätter, diskutierten mit den Leuten und luden zu Veranstaltungen ein usw.
Wir waren in jener Zeit über etliche Wochen permanent in Aktion: Veranstaltungen organisieren, Transpis malen, Flugis entwerfen, Webseite bespielen, Koordinierungstreffen usw. Das Echo war verhalten. Uns gelang es nicht, mit alternativen Angeboten – von Sozialrechtsberatungen, über durchaus praktisch verwertbare Infoveranstaltungen bis hin zu Blockaden des Arbeitsamtes, ein relevantes Echo unter den Protestierenden zu erzielen. Die meisten derjenigen, die auf der Straße waren, beharrten lediglich darauf, dass die Regierung ihrer Aufgabe, für das „Volk“ zu sorgen (darauf zielte auch die Parole „Wir sind das Volk“), gerecht werden solle. Selbstorganisiert eigene Aktivitäten zu unternehmen, lag für die meisten außerhalb ihres Vorstellungshorizontes. Das wurde auch durch die bei den Protesten schließlich immer zahlreicher aufkreuzenden VertreterInnen von PDS und Gewerkschaften bestärkt, die sich als VerfechterInnen der Interessen der kleinen Leute als Alternative zur etablierten Politik anboten.
So gesehen stellten die Proteste, die zwischenzeitlich allein in Magdeburg bis zu 15.000 Menschen auf die Straße trieben, für die Regierenden zwar ein Ärgernis dar, letztlich konnten sie diese aber auf bewährte Weise einfach aussitzen. Ganz ohne Folge blieben sie jedoch nicht. Ab diesem Zeitraum etwa kam es nach meiner Erfahrung erstmals wieder zu politischen Diskussionen mit KollegInnen, plötzlich war es kein Problem mehr, Staat und Kapitalismus zu kritisieren. Zudem hatten wir als Magdeburger FAU zum ersten Mal hautnah die Erfahrung mit spontanen sozialen Massenprotesten gemacht, mussten uns mit den InitiatorInnen, den VertreterInnen der diversen Parteien (nicht zuletzt mit den ewigen Nervensägen von der MLPD) und sogar mit der Teilnahme von Nazis auf den Demos arrangieren. Letztlich gelang es zwar, so etwas wie eine (allerdings ziemlich fragile) linke Hegemonie bei den Demos durchzusetzen. Konkrete Perspektiven über die Demos hinaus eröffneten sich damit aber nicht. Damals gab es im wiederbelebten Magdeburger Sozialforum zwar durchaus Versuche, gemeinsam emanzipatorische Akzente zu setzen, was aber durch die VertreterInnen vor allem der Gewerkschaften, die einen Gutteil der Demoinfrastruktur stellten, gnadenlos abgebügelt wurde. Hier konnten wir hautnah erleben, wie Demokratie funktioniert, wenn die materiellen Ressourcen ungleich verteilt sind.
Letztlich versandeten die Demos, es wurden von Woche zu Woche immer weniger, bis schließlich im Spätherbst nur noch ein winziger Kreis um die durch nichts zu beeindruckenden wackeren Vertreter der MLPD übrigblieben, die sich allmontäglich noch etliche Jahre lang mit einem – zumeist ignorierten – offenen Mikro im Zentrum der Stadt aufstellten. Unsere Lehre aus der Misere war dann, dass wir uns auf etwaige kommende Proteste besser vorbereiten wollten. Zum einen mit kontinuierlicher Beobachtung und Analyse der politischen Situation in der Stadt und natürlich darüber hinaus, zum anderen wollten wir mit kontinuierlichen praktischen Unterstützungsangeboten – von Volxküche (Vokü) bis hin zur Beratung bei Auseinandersetzungen mit dem Amt – uns einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeiten, auf dem wir im Falle eines Falles dann aufbauen könnten. Das ist uns letztlich nicht gelungen, zu groß war zu jener Zeit die Frustration und die Fluktuation unter den zumeist jungen Linken, die es regelmäßig vorzogen, zum oder nach dem Studium, ihr Glück in den Metropolen des Landes zu versuchen, zumal dort eine (vermeintlich?) agilere linke Szene lockte.
Der lauwarme Herbst 2022
Die Proteste im eher lauwarmen Herbst 2022 trafen uns dann wieder mehr oder weniger unvorbereitet. Zudem unterschieden sie sich dann doch deutlich von denen 2004. Das betrifft weniger die TeilnehmerInnen, das waren damals wie heute dem Anschein nach eher ArbeiterInnen und die untere Mittelschicht (2022 war vermutlich der Anteil von kleinen Selbständigen höher). Allerdings hatte sich der Wind im Lande – dank „Flüchtlingskrise“ und Corona-Protesten – gedreht, die Hegemonie der Rechten vor allem in den abgehängten Teilen Ostdeutschland war nicht mehr zu übersehen. Auf der anderen Seite war die radikale Linke dank ausufernder Identitätspolitik und einer Abschirmung in ihrer eigenen Blase inzwischen dermaßen weit vom Leben der meisten arbeitenden Menschen im Lande entfernt, so dass sie in sämtlichen sozialen Protesten nur noch die Gefahr des Faschismus lauern sah. Das war nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber sowohl die Proteste gegen die Corona-Politik der Regierung, als auch die gegen die allgemeine Teuerung und den Ukraine-Krieg waren zumindest im Anfang in ihrer Mehrzahl einfach von bis dato zumeist mehr oder weniger unpolitischen Menschen getragen, die sich in ihrer beruflichen oder sozialen Existenz insgesamt, wie auch ihrer körperlichen Unversehrtheit bedroht sahen.
Ihr Unmut, dem sie auf ihren Demo-Schildern Ausdruck verliehen (für Frieden, soziale Sicherheit, für ein funktionierendes Gesundheitssystem, gegen die politische Kaste in Berlin, Misstrauen gegenüber politischen Parteien usw.), galt bis dahin im linken Kanon als durchaus selbstverständlich. Natürlich gab es auch Versuche, die Schuldigen für die Misere z.B. bei den Flüchtlingen zu suchen, aber diese Meinungen waren zumindest anfangs noch in der Minderzahl. Auch dieses Mal waren rechte Gruppierungen wieder schneller. Sie infiltrierten erfolgreich die Demos und versuchten gemeinsam mit Hooligans der Fanszene diese im Geplänkel mit der Polizei durchaus erfolgreich zu radikalisieren. Viel zu spät haben wir dann bei den Corona-Protesten Anfang 2022 gemeinsam mit einigen wenigen anderen Magdeburger Linken, die den Bezug zur Klasse noch nicht verloren hatten, versucht, auf einer solchen Demo mit eigenen Transparenten und Flugblättern zu intervenieren. Das ist dann ebenfalls schiefgelaufen, allerdings in erster Linie, weil wir just auf der ersten Demo auftauchten, in der es ernsthaftere Auseinandersetzungen mit der Polizei gab und sich eine ziemlich heftige Dynamik entwickelte, in der wir nicht gemeinsam mit Nazihools gegen die Polizei anrennen wollten. Im Gefolge radikalisierten sich die Demos zunehmend, die Dominanz der Nazis wurde stärker, während die Beteiligung an den Demos zu bröckeln begann, so dass wir auf weitere Interventionen verzichteten.
Bei den Teuerungsprotesten im Spätsommer/Herbst 2022 hat es auch wieder zu lange gedauert, bis wir handlungsfähig waren. In Magdeburg gab es jeden Montag zwei getrennte Kundgebungen – eine von der AfD organisierte auf dem Domplatz mit bis zu 3.000 TeilnehmerInnen und eine auf dem Alten Markt mit mehreren Hundert QuerdenkerInnen, die sich dann zu einem gemeinsamen Demonstrationszug durch die Innenstadt vereinigten. Wir hatten das Geschehen eine Weile lang beobachtet und uns dann entschlossen, eigene Montags-Kundgebungen gemeinsam mit dem neu gegründeten „Sozialkombinat Ost“ durchzuführen. Die Idee war, denjenigen, die weder mit Verschwörungstheorien, noch mit der AfD was am Hut hatten, ein alternatives Podium anzubieten. Im Vorfeld hatten wir tausende Flyer vor allem in den Stadtteilen verteilt, wo wir die größte Betroffenheit vermuten. Die Reaktionen der PassantInnen waren durchaus ermutigend, so dass wir gespannt auf unsere erste Kundgebung – vor dem lokalen Büro der Grünen – waren. Aber auch dieses Mal sollten wir enttäuscht werden. Zwar konnten wir relativ große Teile der linken Szene mobilisieren, die Beteiligung von „NormalbürgerInnen“ blieb fast völlig aus, grob geschätzt fanden kaum 20 Menschen, die erkennbar nicht der Szene angehörten, zu uns. Wir ließen uns aber nicht entmutigen, jedoch war die Resonanz bei den folgenden Kundgebungen von Mal zu Mal geringer, so dass wir auch dieses Experiment als gescheitert aufgaben.
Was also bleibt?
Zum einen wäre durchaus positiv festzustellen, dass heutzutage breitere Bevölkerungskreise politisch in Bewegung geraten sind, die politische Klasse und den Staat kritisieren, den „Mainstream-Medien“ nicht einfach mehr glauben und anfangen, sich ihre eigene Meinung zu bilden und diese in die Öffentlichkeit bringen. Alles Dinge, von denen die radikale Linke lange geträumt hatte. Dass diese inhaltlich eine ganz andere Richtung einschlugen, als erhofft, hat meines Erachtens mehrere Ursachen. Zunächst einmal wäre hier das Versagen der Linken insgesamt zu nennen, deren Lebenswelt sich meilenweit von den Realitäten großer Bevölkerungskreise entfernt hat und die sich kulturell in Abgrenzung zu den „besorgten Bürgern“ auf der Straße (vulgo: zum „Pöbel“) definiert. Sie hat die soziale Frage – trotz vieler theoretischer Diskussionen zur „neuen Klassenpolitik“ – aus ihrem Handlungshorizont verdrängt. Spontane Demonstrationen werden tendenziell als rechts eingestuft und allenfalls mit Blockaden oder Gegendemonstrationen beantwortet. Dass Menschen, die sich politisieren, immer von den kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen und deren Ideologien vorgeprägt sind, ist kaum anders zu erwarten. Das sollte jedoch Anlass sein, sich mit diesen auseinanderzusetzen, sich mit protestierenden Menschen zu solidarisieren und in diesem Prozess eigene Positionen einzubringen. Ähnlich wie es heute vor allem von rechts praktiziert wird. Die Rechten haben es freilich auch leichter, sie haben vermeintlich einfachere Lösungen in petto – während die Linke oft nur viele „Antis“ anzubieten hat, ohne konkret sagen zu können, wie eine lebenswerte nicht-kapitalistische Perspektive heute aussehen könnte. Das hat seine Ursache auch in der allgemeinen politischen Großwetterlage, die eher an Dystopien, als an sozialistische Utopien denken lässt.
Um dem Ganzen hier noch eine – ok, aktuell ziemlich illusorische – positive Wendung zu geben: 2004 stand die Forderung nach einer anderen Regierungspolitik im Mittelpunkt, 2022 die nach dem Rücktritt der Regierung – der nächste Schritt wäre dann ja der Ruf nach der Abschaffung jeglicher Regierung. Und dann kämen wir ins Spiel …
(1) Anne Seeck, Peter Nowak, Gerhard Hanloser, Harald Rein (Hg.)KlassenLos – Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten, Die Buchmacherei, voraussichtlich November 2023, 256 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-9825440-4-5, https://diebuchmacherei.de/produkt/klassenlos-sozialer-widerstand-von-hartz-iv-bis-zu-den-teuerungsprotesten