Schon bemerkt? Der internationale Anarchismus befindet sich seit dem Kongress zum 150 Gründungsjubiläum der anarchistischen „Antiautoritären Internationale“ in St. Imier (vgl. GWR 481) in einer seiner vielleicht größten Krisen seit Bestehen der modernen anarchistischen Bewegung, also seit 183 Jahren! Grund dafür ist das gewaltsame und unterdrückerische Auftreten eines pro-militärischen „Anarchismus“-Flügels und seiner freiwilligen Knechtschaft, der Ein- und Unterordnung in die Armee des ukrainischen Staates.
St. Imier, Juli 2023: Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Anarchie-Kongresses zum Thema Ukrainekrieg sind 150 Besucher*innen gekommen. Veranstalter war u.a. die Gruppe „Solidarity Collectives“, die einen Pro-Kriegs-Stand mit entsprechendem Märtyrer-Merchandising aufgebaut hatte.
Eine antimilitaristisch-anarchistische Transperson will zu Beginn ein Plakat „Gegen jeden Krieg. Blockieren, boykottieren, desertieren, sabotieren“ aufhängen sowie einen eigenen antimilitaristischen Stand daneben aufbauen. Doch, so heißt es in dem Bericht der Gruppe um die Transgenderperson: Da „stürmte ein aggressiver Jungmann vom Merchandisingstand herbei und forderte die Transgenderperson auf, das Plakat abzunehmen und zu verschwinden. Allen Ernstes glaubte der aggressive Jungmann, eigenmächtig Anarchist*innen des Raumes verweisen zu können.“ (1) Schlimmer noch: Der Jungmann schrie, riss das Plakat ab und bedrohte die Transgenderperson körperlich. Diese „rief laut und für alle hörbar in den Saal, dass sie angegriffen werde“ und Hilfe brauche. Doch was passierte? Die Leute auf dem Podium kamen nicht nur nicht zu Hilfe, sondern: „Eine Frau vom Podium von ABC (Anarchist Black Cross) Dresden deutete den Vorfall sogar um und forderte auf, die ‚Störung‘ zu unterlassen.“ (2) ABC sollte vom Selbstverständnis eigentlich eine anarchistische Organisation für anarchistische Gefangene sein, agierte hier aber als Unterstützerin für Militarisierung.
Auch andere Menschen von „Solidarity Collectives“ griffen die Transperson an und beschimpften sie. „Einer der Angreifer trug ein T-Shirt von ‚Solidarity Collectives‘ mit einer Kalashnikow“ und riss die Plakate vom Tisch. Bevor die Veranstaltung losging, sagte man/frau vom Podium aus: „Hier wird heute nicht über Antimilitarismus geredet. Über Antimilitarismus reden, wäre Zensur.“ (3) Und das auf einem anarchistischen Kongress!
In einem Papier der Gruppe um die Transperson steht als Konsequenz solcher Ereignisse in St. Imier, die leider kein Einzelfall waren (4), zu dieser in Wahrheit gerade autoritären Zensur des Antimilitarismus zu lesen, das sei ein „identitärer Konformismus zugunsten der politischen Linie von ABC Dresden“. (5) Und sogar, ich kann es nicht fassen: „Dass sich einzelne Frauen des Podiums im späteren Verlauf zum Teil als feministisch darstellten, aber keine Anstalten machten, den militarisierten Mann von ‚Solidarity Collectives‘ zurechtzuweisen, obwohl toxische Männlichkeit eines der Probleme ist, mit dem sich Feministinnen in der Regel herumschlagen müssen, spricht Bände über das taktische Einsetzen des Feminismus zur Begründung der eigenen Militarisierung im Ukrainekonflikt.“ (6)
Die Veranstaltenden, „Solidarity Collectives“ und ABC Dresden, haben auf der Veranstaltung sogar Geld gesammelt „für Waffen und militärische Ausrüstung von ‚Comrades‘ in der Ukraine“. (7) Am Ende von St. Imier hatten sie so 3.000 Euro gesammelt!
Die Gruppe um die Transperson kommentierte das wie folgt: „Die Bellizst*innen auf allen Seiten kotzen und widern uns an. (…) Vielleicht, weil wir andere Mittel gegen Krieg zur Hand haben, als den Militarismus und die Militarisierung der männlichen Psyche – denn es sind vorwiegend Männer, die gerade in den Schützengräben als ‚Anarchisten‘ liegen. Und es sind auch viele Frauen, die diese lautstark unterstützen. Die ‚Propaganda der Tat‘ ist für diese Menschen gerade, nationalistische, staatliche Landesverteidigung zu propagieren und umzusetzen. Anarchisten haben aus unserer Sicht nichts in Uniformen zu suchen, nicht als Soldaten, nicht an der Waffe eines Militärs. (…) Boris von ‚ABC Belarus/Dresden‘ kommentierte einen (Wort-)Beitrag: ‚Zwischen Krieg und sozialer Revolution unterscheiden‘ mit dem Satz: ‚Geh doch nach Russland!‘ Auf dem Niveau lässt sich nicht mehr reden. (‚Geh doch nach drüben‘, hieß das in den 80ern gegen westdeutsche Linke).“ (8)
Doch ja, es geht noch schlimmer: Wie aus Medienberichten bekannt ist, will die US-Regierung Streubomben an die ukrainische Armee liefern. Schon im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der durch Streumunition getöteten oder verletzten Menschen verachtfacht. Das ist vor allem auf den Einsatz von Streumunition durch Russland zurückzuführen. (9) Nun also auch durch die ukrainische Armee. Doch nicht genug damit: „Die US-Regierung wird erstmals panzerbrechende Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine liefern“ (10), wie es Großbritannien schon getan hat. Für den Einsatz von Uranmunition in Kriegsgebieten gibt es einschlägige Erfahrungen: „Bei den Jugoslawien-Kriegen und im Irak-Krieg erhöhten sich die Krebsraten bei der Bevölkerung um ein Vielfaches. Von den Hunderttausenden US-Soldaten, die im Irak kämpften, entwickelten 15 bis 20 Prozent als Veteranen das sogenannte Golfkriegssyndrom (Muskelschmerzen, Lähmungen, Depressionen) und etwa 25.000 verstarben.“ (11) Zu den Streubomben fand Mitte September 2023 ein „Treffen der Convention on Cluster Munition statt, die von 112 Staaten unterzeichnet bzw. ratifiziert wurde. Das Übereinkommen verbietet die Verwendung von Streumunition.“ (12)
Führen diese Fakten etwa „Solidarity Collectives“ oder „ABC Dresden“ nun dazu, wenigstens eine Grenzlinie zu ziehen, in ihrer Willkür innezuhalten und endlich ihre Schützengräben in der ukrainischen Armee zu verlassen? Nein, und damit sind sie als angebliche „Anarchisten“ aus meiner Sicht schlimmer als 112 Nationalstaaten! „Sorry, aber so krass muss das mal ausgesprochen werden.“ (13) Solche Positionierungen haben mit Anarchismus nichts zu tun und müssen von uns antimilitaristischen Anarchist*innen bekämpft werden. Und sie werden von den kriegstreiberischen linken oder ehemals linken Zeitungen wie taz oder der Schweizer Wochenzeitung (WOZ) auch noch unterstützt. Die Gruppe um die Transperson bezieht sich hier positiv auf den Anarchismus „in seinen gewaltfreien bis bewaffneten sozialrevolutionären Ausprägungen“ (14), deren Detailunterschiede (Militarisierung der Milizen im spanischen Bürgerkrieg oder Kritik an der Gewalt der Machno-Armee (15)) etwa zwischen der vormals „autonomen“ und unserer „gewaltfrei-anarchistischen“ Position inzwischen einem weit wichtigeren strategischen Bündnis zur Rettung des Anarchismus aus seiner manifesten Krise angesichts des militärischen „Anarchismus“ gewichen ist: „Wer Staat, Militär und Krieg und somit Herrschaft das Wort redet, ist alles mögliche, aber kein*e Anarchist*in mehr.“ (16)
(1): Zit. nach Anonym (Gruppe um Transgenderperson): „Im Schützengraben mit ‚Solidarity Collectives‘“, in: indymedia, 6. September 2023, vgl. GWR-Website: https://www.graswurzel.net/gwr/2023/09/ueber-militarisierung-ukrainesolidaritaet-und-luegengebaeude/ .
(2): Ebenda, a.a.O.
(3): Ebenda, a.a.O.
(4): Siehe Gerald Grüneklee: „Anarchie-Kongress und Ukraine-Krieg“, in: GWR 481, Sept. 2023, S. 15.
(5): Zit. nach Anonym, Anm. 1, ebenda, a.a.O.
(6): Ebenda, a.a.O.
(7): Ebenda, a.a.O.
(8): Ebenda, a.a.O.
(9): Zit. nach David Goeßmann: „Ukraine-Eskalation: Nach Streubomben nun auch Uran-Munition aus den USA“, in: Telepolis, Online-Zeitung, 6. Sept. 2023.
(10): Goeßmann, ebenda, a.a.O.
(11): Goeßmann, ebenda, a.a.O.
(12): Goeßmann, ebenda, a.a.O.
(13): Zit. nach Anonym, Anm. 1, ebenda, a.a.O.
(14): Ebenda, a.a.O.
(15): Zur Guerilla-Gewalt der Machno-Armee siehe die genau belegte Studie von Felix Schnell: „Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933“, Hamburger Edition, Hamburg 2012; sowie: N.O. Fear: „Machnos Gewalt und die Kritik von Anna Saksaganskaja, in: GWR 426, Feb. 2018, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2018/02/machnos-gewalt-und-die-kritik-von-anna-saksaganskaja/ .
(16): Zit. nach Anonym, Anm. 1, ebenda, a.a.O.