In einer Aussendung vom 9. Oktober 2023 kommentiert die Palästina Solidarität Österreich die am 7. Oktober verübten Terroranschläge der islamistischen Hamas auf Israel mit den um Verständnis heischenden Worten, dass „sich ein Volk nicht dauerhaft durch eine Politik der Apartheid, des siedlerkolonialistischen Land- und Wasserraubes, durch brutale militärische Besatzung und ethnische Säuberung […] unterdrücken lässt“. Die Hamas wird nur einmal kurz erwähnt, sie gilt der Palästina Solidarität Österreich offenbar ganz selbstverständlich als legitime Vertreterin des palästinensischen „Volkes“. Ihre antisemitische, patriarchale und islamistische Ausrichtung wird keines Wortes gewürdigt. Während die Palästina Solidarität Österreich Islamismus und Antisemitismus bloß verschweigt und in antiimperialistischer Manier von einem aufständischen „Volk“ phantasiert, wird die in Wien aktive Antiimperialistische Koordination (AIK) deutlicher: Auf ihrer Homepage schreibt die dem iranischen Staatsterror-Regime nahestehende Splittergruppe am Tag des Massakers an 1.400 feiernden Menschen, an Kindern in Kibbuzim und überhaupt willkürlich ermordeten Jüdinnen und Juden: „Die Antiimperialistische Koordination begrüßt das starke Signal des palästinensischen Widerstandes, das seine Kraft und seine Einigkeit in ganz Palästina unter Beweis stellt.“
So widerlich offen wird der bestialische Mord an Hunderten von Jüdinnen und Juden selten bejubelt. Aber ein merkwürdiges Verständnis ist auch weit über skurrile österreichische Politgruppen in der internationalen Linken verbreitet: Die renommierte Philosophin Judith Butler etwa hatte die Hamas vor Jahren schon in der linken Tradition des Antiimperialismus gesehen und möchte nun – in einem in Der Freitag am 13.10.2023 veröffentlichten Artikel – die von ihr ausdrücklich abgelehnte Gewalt „kontextualisieren“ und in Zusammenhang mit der „Befreiung von kolonialer Herrschaft und durchdringender militärischer Gewalt“ verstanden wissen. Israel taucht auch in Butlers theoretischen Werken verschiedentlich als Kolonialmacht auf. Ebenso werten auch tonangebende Theoretiker der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika, wie etwa Ramón Grosfoguel und Walter Mignolo, den israelischen Staat als Kolonialmacht, ohne auf die Shoah als zentrales Moment seiner Entstehungsgeschichte überhaupt einzugehen. Jüdinnen und Juden werden in deren Interpretation zu „Weißen“, die mit ihrem kolonialen Projekt die indigene Bevölkerung unterdrücken. Als hätte es einen jüdischen Kolumbus gegeben und als hätten Jüdinnen und Juden nicht schon seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des heutigen Israel gelebt.
Neben Kolonialismus als Vorwurf ist „Apartheid“ als Kennzeichnung Israels unter Linken beliebt: Auch dafür werden Geschichte und aktuelle Rechtsstaatlichkeit ausgeblendet und so getan, als bestünde eine gesetzlich garantierte und durchgesetzte „Rassentrennung“ in Israel. Diskursmächtige Akteur*innen wie Angela Davis, Ikone der Schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung, lassen seit Jahren keine Gelegenheit aus, um die „Apartheid“ in Israel zu kritisieren. Zuletzt warb der linke Promedia Verlag in einer Aussendung vom 18.10.2023 mit dem Betreff „Palästina-Israel: Lesestoff zu den Hintergründen des Konflikts“ für seine Bücher mit Titeln wie „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“.
Beide Bezeichnungen sind nicht nur irreführend und falsch, sondern auch für eine linke Kritik an der Siedlungspolitik der israelischen Rechten absolut überflüssig. Sie sind dennoch zentral für das Verständnis der Hamas-Versteherei. Denn letztlich ist es doch erklärungsbedürftig, warum so viele Linke Sympathien für eine Organisation hegen, die laut ihrer Gründungscharta von 1988 nicht nur Israel auslöschen, sondern das „Banner des Dschihad“ (Artikel 3) hochhalten möchte, um das Land von der Unreinheit zu befreien. Eine säkulare Gesellschaft und einen säkularen Staat lehnt die Hamas ab, ihr Programm strotzt vor antisemitischen Motiven. Frauen möchte die Hamas vor „Verwestlichung“ schützen und verhindern, dass sie durch Medien und Zionismus dem „Islam entfremdet“ werden (Artikel 17). Queere Partys von Butler-Anhänger*innen dürften unter der Herrschaft der Hamas wohl ebenso wenig stattfinden wie jegliche linke Basisarbeit. Wenn nicht blanker Antisemitismus der Grund für die Eingemeindung der Hamas in die Widerstandserzählungen der Linken ist, dann wohl vor allem die Fehleinschätzung von Israel als Apartheidstaat und Kolonialmacht. Es bedürfte sicherlich genauerer Analyse, warum und inwiefern die Gründung des Staates Israel nicht mit der Kolonisierung der Amerikas, Afrikas und Asiens gleichzusetzen und warum und inwiefern sich Israel heute grundlegend von Südafrika bis 1994, das gemeinhin mit dem Begriff Apartheid verbunden wird, unterscheidet. Aber auch ohne diese analytische Leistung an dieser Stelle erbringen zu können, reicht allein der Hinweis auf die Shoah und den Vernichtungsantisemitismus der Nazis, um den Unterschied ums Ganze zu markieren: Israel ist auch und vor allem ein Effekt dieses Menschheitsverbrechens und sein Existenzrecht sollte deshalb aus antifaschistischer Sicht – unabhängig von seiner jeweiligen Regierung – unbedingt verteidigt werden.
Auch wenn die Aufrufe der Bundesinnenministerin an die Muslime in Deutschland, sich von der Hamas zu distanzieren, Unmut auslösen mögen, weil sie ein Näheverhältnis unterstellen, wie in den 1970er Jahren die Forderung an Linke, sich von der RAF zu distanzieren: Letztlich besteht jede politische Haltung aus Nähebekundung und Distanznahme und angesichts der vielen verharmlosenden bis zustimmenden Kommentare seitens der Linken kann eine Distanzierung von der Hamas nicht nur nicht schaden, sondern auch Klarheit darüber schaffen, welche Version einer befreiten Gesellschaft wir vertreten. Braucht sie politische und soziale Gleichheit aller Bürger*innen „ohne Unterschied von Religion, Rasse oder Geschlecht“, wie sie in der israelischen Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948 festgeschrieben ist, oder kann ihre Entwicklung ernsthaft unter dem „Banner des Dschihad“ in Betracht gezogen werden?
Beschämend an den Reaktionen auf den Terror waren und sind nicht nur die Verharmlosung des Islamismus und sein Zurechtbiegen in eine antiimperialistische Befreiungsgeschichte. Beschämend ist auch, dass das regelrechte Abschlachten von Menschen überhaupt als ein „starkes Signal“ des Widerstands und der Befreiung gesehen und propagiert werden kann.