Leinemasch bleibt?

Der Widerstand gegen eine Stadtautobahn und das neue Wunder von Hannover

| Gerhard Knapienski

Es war einmal eine überaus weise und vorbildliche Verkehrsplanung. Die Stadt Hannover errichtete in den 1950ern, um einige Jahre schneller als andere während des Zweiten Weltkriegs zerbombte Städte, eine Reihe von Schnellwegen, um den Fernverkehr von der Innenstadt fernzuhalten. Und die Leute kamen von nah und fern und nannten es das Wunder von Hannover.

Nun begab es sich aber, dass am Südschnellweg, der als Hochstraße errichtet worden war und deshalb viele Brücken aufweist, ab 2010 Schäden festgestellt wurden. Zwei der vier Spuren mussten bereits stillgelegt werden. Die Schäden sind derart groß, dass eine Rundumerneuerung nötig ist. Nun hätten Umweltinitiativen dagegen kaum Einwände gehabt. Die Gelegenheit soll jedoch genutzt werden, um den Südschnellweg zu verbreitern und als Stadtautobahn mit 100 km/h statt der bisherigen 80 km/h auszubauen. Dagegen entwickelte sich in den vergangenen Jahren eine Widerstandsbewegung.
Dabei geht es hauptsächlich um den Teil des Südschnellwegs, der durch die Leinemasch führt. Für die Bauarbeiten sollen 13 Hektar Grünfläche samt Bäumen plattgemacht werden. Nach anschließender Wiederaufforstung bleiben vier Hektar dauerhaft als Verlust. Das ist selbstverständlich nicht schön, sollte aber auch im Verhältnis gesehen werden. Dieser Teil der Leinemasch war vormals ein Industriegebiet für Kiesabbau. Ich gehöre zu den Leuten, die in den 1970ern die daraus zurückgebliebenen Kiesteiche illegal zum Baden genutzt haben, und weiß deshalb noch, wie es hier vorher aussah.
Die Stadt hat dann die Trümmerlandschaft in ein Naherholungsgebiet umgewandelt. Die Bäume, die jetzt für die Verbreiterung des Südschnellweges abgeholzt werden sollen, haben vor etwas über 40 Jahren noch nicht existiert.
Die Leinemasch besteht nicht nur aus dieser einen Stelle. Entlang des gesamtes Flusses Leine und ihres Ablegers Ihme erstreckt sich über viele Kilometer hinweg eine Grünfläche. Hinzu kommen Maschsee und Stadtwald Eilenriede, Hannover ist in Sachen Naherholung gut versorgt, selbst wenn der Südschnellweg als winziger Strich in der Landschaft der Leinemasch jetzt von 15 auf 25 Meter verbreitert wird.

In einem Punkt sind diese paar Meter allerdings tatsächlich von etwas höherer Bedeutung. Der Südschnellweg führt direkt zwischen den Kiesteichen hindurch. Der sowieso schon aufdringliche ständige Hintergrundpegel von den Autos rückt jetzt noch näher an unsere Liegewiesen heran. Bei Diskussionen am Teich bin ich darauf gekommen, dass sich das in Zukunft durch die Zunahme von E-Autos ja möglicherweise abmildert…

… und dass es darauf gar nicht ankommt. Wir waren uns dann einig, dass der gesamte Autoverkehr abnehmen muss, egal welche Art von Auto verwendet wird. Auch wenn also der Aspekt des Umweltschutzes in Bezug auf die Rettung der Bäume weniger bedeutend ist, als es von Seiten der Initiativen hoch dramatisiert wird, es bleibt der Punkt, dass die Verkehrswende von der Politik verpasst wurde. Der wesentliche Unterschied für den Umweltschutz wird dann sein, ob statt der jetzigen bis zu 60.000 Autos pro Tag dann womöglich 80.000 den Südschnellweg nutzen.
Mit dem Ausbau des Südschnellwegs wird Autofahren attraktiver gemacht. Wohingegen ich mit dem Fahrrad alle paar Jahre, wenn die Leinemasch wieder einmal durch Hochwasser überflutet ist, kilometerlange Umwege fahren muss. Die Leinemasch ist nebenbei nämlich auch die Verbindung zwischen einigen Stadtteilen. Und wer auf ein Auto verzichten und mit dem Fahrrad die Strecke pendeln möchte, ist in der Verkehrsplanung nicht vorgesehen. Die Umweltinitiativen hätten sogar der Verbreiterung des Südschnellweges zugestimmt, wenn dort wenigstens zusätzliche Spuren fürs Fahrrad hinzugefügt worden wären, damit diese ebenfalls oberhalb der Hochwassergrenze verlaufen.
Die Gelegenheiten für eine vernünftige Lösung wurden verpasst, es gibt also Widerstand. Im Jahr 2022 haben sich ein paar 100 Menschen an Demonstrationen beteiligt. Ein Widerstandscamp wurde errichtet und am Tag X, als ein paar erste Bäume gefällt wurden, hatten sich dort Leute in den Baumkronen niedergelassen. Nach einigen Stunden kamen sie der Bitte der Polizei nach, herunterzuklettern. Das Camp hätte mit Billigung der Stadt bleiben können, wurde aber abgebrochen. Die Basis für den Widerstand war leider nicht breit genug.

Im Jahr 2023 dann ein neuer Anlauf, diesmal mit Unterstützung von außerhalb. Am 1. Oktober gab es eine Großdemonstration mit 4.000 bis 6.000 Menschen, also ungefähr das Zehnfache von dem, was Hannover ein Jahr vorher allein aufzubieten hatte. Neben Fridays For Future, Extinction Rebellion, Greenpeace, einem Team Biber, Anti-AKW-Leuten und den Omas gegen Rechts auch Autonome, MLPD, die Linke und ein trotzkistischer Block. Immerhin treffe ich auch ein paar Leute, die mich aus früheren Zeiten von der Graswurzelrevolution her noch kennen.

Bei der Demo höre ich aus dem trotzkistischen Block: „Hoch die internationale Solidarität!“ Einverstanden. Das habe ich bei den Ukraine-Demos vermisst, wo stattdessen unverhohlen Sympathie mit dem Angreifer Russland zum Ausdruck gebracht wurde. Und es wird gerufen: „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten, wer war mit dabei, die Grüne Partei.“ Nein, Verrat ist die falsche Kategorie, es liegt daran, dass sich durch Wählen wenig bis gar nichts verändern lässt, egal ob die Leute, die den langen Marsch durch die Institutionen antreten, dafür Niedertracht oder Idealismus mitbringen.
Manchmal gibt es dabei einen winzigen Spielraum, den wir nutzen können. In Hannover sind wir mit dem Grünen Oberbürgermeister Belit Onay gut versorgt. Die Letzte Generation hat vor diesem Hintergrund ein Bündnis mit der Stadt abgeschlossen, auf Klebeaktionen wird in Hannover seitdem verzichtet. Was nichts daran ändert, dass außerparlamentarische Bewegungen weiter Druck machen müssen.

In den 1980ern hatte ich in der Friedensbewegung von Hannover eine Aktion „3 Minuten für den Frieden“ vorgeschlagen, die daraufhin von der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden (SodZDL) und anderen Gruppen einige Male durchgeführt wurde. Ein paar Leute blockieren an einer Kreuzung den Verkehr, Transparente werden hochgehalten und Flugblätter verteilt, nach drei Minuten wird die Aktion beendet. Die „Belästigung“ ist von vornherein begrenzt, es besteht kein Anlass für hochkochende Emotionen, nicht einmal die Polizei muss in die Sache mit hineingezogen werden.

Wer hat sich jetzt das mit dem Festkleben ausgedacht? Eine unnötige Eskalation. Und, wozu zusätzliche Staus auslösen, durch die wir Menschen gegen uns aufbringen? Es würde doch wesentlich effektiver sein, die Staus, die im Berufsverkehr ganz von selbst sowieso immer entstehen, mit Transparenten zu begleiten, die für eine Verkehrswende werben.
An einer engen Stelle will plötzlich ein Krankenwagen an der Demo vorbei. Innerhalb von Sekunden wird eine Rettungsgasse gebildet. Das hätte jemand aufnehmen sollen, um es als Lehrfilm zu verwenden.
Bei der Kundgebung stach für mich vor allem ein Redebeitrag heraus. Ein Straßenbahnfahrer hat von seinen Arbeitsbedingungen erzählt. Die Wartezeit an den Wendepunkten gilt beispielsweise als Pause. Da durch zunehmende Staus nicht nur der Stress während der Fahrt zunimmt, sondern die Bahn auch immer später am Ziel ankommt, werden diese Pausen immer kürzer. Oft müssen zwei Schichten mit wenigen Stunden Abstand nacheinander abgeleistet werden. Die Zwischenzeit wird nicht bezahlt, lässt sich aber auch nicht sinnvoll zur Erholung oder Freizeitgestaltung ausnutzen. Ich hatte mal einen ähnlichen Job, zum Glück nur für ein halbes Jahr.
Dann höre ich, wie jemand Walter Benjamin und Karl Marx in einem einzigen Satz unterbringt. Offensichtlich ein Redner aus dem trotzkistischen Block. Während ich in meinem Umfeld versuche, den Begriff Fossilkleber für Leute wie Lindner und Söder zu etablieren, wird von der Tribüne aus der Begriff des Fossilkapitalismus verbreitet. Und das von einem Fossilkommunisten. Dass die Rohstoffe für E-Autos aus Kurdistan und Mexiko stammen, wird dann von ihm behauptet. Schon klar, früher hat die militante Linke sich in einer Reihe mit Vietcong und PLO gesehen, heute sind die entsprechenden Vorbilder YPG/PKK und Zapatistas.
Ich kenne das so, dass Stoffe wie das Lithium für die Batterien der E-Autos vor allem aus Chile stammen. Und dann gibt es da Länder in Afrika, die Exklusivverträge über den Lithium-Abbau mit China geschlossen haben. So etwas wie Umweltschutz ist dabei nicht vorgesehen. In Chile und Mexiko wird der Lithium-Abbau jetzt verstaatlicht. Verbessern sich zumindest dort die Bedingungen dadurch? Wäre wichtig genug, nützt aber alles nichts, wenn die Leute auf Menschenrechte und Umweltschutz pfeifen und die billigeren E-Autos aus China kaufen.
Quer durch alle Fraktionen der Kundgebung wird immer wieder die Verbindung zu Lützerath und anderen magischen Orten des Widerstandes der vergangenen Jahre gezogen. Kommt also die Schlacht um die Leinemasch auf uns zu? Nein Danke, darauf würde ich gerne verzichten.
Während der vergangenen Jahre der Pandemie gab es immer wieder gemeinsame Demonstrationen von Eso-Hippies und Nazis. Mir fällt auf, dass die gemeinsamen Demonstrationen von Öko-Hippies und Autonomen plus alten und neuen autoritär-kommunistischen Kaderorganisationen nicht viel besser sind. Dadurch, dass diese Verbindung einige Jahrzehnte weiter zurückreicht, haben sich lediglich bereits derart viele Menschen daran gewöhnt, dass sie es für normal halten. Junge Leute erleben nur noch den Mix aus gewaltfreien und militanten Aktionen wie im Hambacher Forst und nehmen sich das als Vorbild.
Auch wenn ich hier überwiegend negative Eindrücke schildere, die Gesamtsituation der Verbindung von alter und junger Umweltbewegung bei der Demo am 1. Oktober habe ich als sehr positiv empfunden. Ebenso, dass es Gruppen wie Extinction Rebellion und Fridays For Future gibt, die sich zur Gewaltfreiheit bekennen. Und das Recht, „Fehler“ zu begehen, wie meine Generation auch, gestehe ich ihnen ausdrücklich zu.

„People try to put us down, just because we get around.
Why don’t you all FFFade away….“

Einige Zeit dachte ich, Fridays For Future könnte eine neue Bewegung werden, die von all den früheren Fraktionierungen und Gegensätzen unbelastet ist, aber die haben sich in Hannover selbst disqualifiziert. Fridays For Future Hannover hatte 2022 die Sängerin Ronja Maltzahn eingeladen, bei einer Demo aufzutreten, und sie dann kurzfristig wieder ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt und das sei eine kulturelle Aneignung. Ihr wurde angeboten, dass sie doch kommen könne, wenn sie sich die Haare abschneidet. Ich als langhaariger Hippie hatte etliche ähnliche Situationen, Jobs, die ich hätte haben können, wenn ich bereit gewesen wäre, mir die langen Haare abzuschneiden.

Fridays For Future Hannover hat sich dann anschließend „entschuldigt“, dabei wurde nicht etwa die Entscheidung zurückgenommen, sondern lediglich der Tonfall bedauert: „In Anbetracht der Tatsache, das Frauen in dieser sexistischen Gesellschaft häufig aufgrund ihres Aussehens zurechtgewiesen werden und sich nicht frei so kleiden und zeigen können wie sie wollen, war die Nachricht grenzüberschreitend formuliert.“ Bravo, zum Rassismus, dass Weiße keine Dreadlocks tragen dürfen, kommt zusätzlich noch der Sexismus hinzu, dass es bei Männern letztlich als zulässig angesehen wird, wenn sie aufgrund ihres Aussehens zurechtgewiesen werden und sich nicht zeigen dürfen, wie sie wollen. Diejenigen, vor die sich Fridays For Future Hannover da so tapfer stellt, haben ihre Reggae-Musik inklusive Rastalocken übrigens erfolgreich über die ganze Welt verbreitet und einige von denen haben dadurch ziemlich viel Geld verdient.
Dreadlocks sind heutzutage zum einen Ausdruck, sich der internationalen Subkultur des Reggae anzuschließen, oder zum anderen kultureller Austausch. Meine Tochter beispielsweise hat sich bei einem Aufenthalt in Nordafrika mit Einheimischen angefreundet und die haben ihr dann Dreadlocks geflochten.
Weiße Bands, die Blues spielen, Jazz oder Rock’n’Roll. Fridays For Future Hannover hätte viel zu tun, um das alles zu verbieten. Statt für die Zukunft stehen sie leider für ein Spießertum aus dem letzten Jahrhundert.
Eine illustre Versammlung also, in der viele fragwürdige Ideologien vertreten sind. Als ich die Kundgebung verlasse, erhalte ich einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Unter einer Brücke hat sich eine Gruppe von Extinction Rebellion versammelt, weil es dort für die Parolen, die sie rufen, so einen schönen Nachhall gibt.
Mehrere Polizeifahrzeuge kommen heran. Außerdem ein paar Trupps Autonome mit aufgesetzten Sturmhauben. Nachdem sie feststellen, dass es dort für sie nichts zu holen gibt, ziehen sie nach und nach wieder ab. Bei zukünftigen ernsthafteren Auseinandersetzungen sind das die Ausgangspunkte für eine Eskalation.
Wie schon gesagt, viele sehen in der Leinemasch ihr nächstes Lützerath. Allerdings bestehen da ein paar Hindernisse. Entlang des Südschnellwegs gibt es kaum zusammenhängende Baumgruppen. Wenig Gelegenheit, um sich in den Baumkronen zu verschanzen. Und im Boden wurde Bauschutt aus dem Zweiten Weltkrieg vergraben. Unter einer dünnen Erdschicht trifft der Spaten sofort auf Steine und Beton. Also auch keine Möglichkeit, einen Untergrund aus Tunneln anzulegen.
Nun, ich bin kein Prophet und weiß daher nicht, wie die unterschiedlichen Fraktionen mit diesen Herausforderungen umgehen werden. Ich fürchte, es bestehen trotzdem noch zu viele Möglichkeiten, die Auseinandersetzung zu einer Schlacht um die Leinemasch aufzuschaukeln. Zunächst einmal ist wieder Ruhe, weitere Rodungen wird es frühestens 2024 geben.
Zwischendurch arbeitet die Stadt in Zusammenarbeit mit Umweltinitiativen an einem weiteren Ausbau von Radwegen und Nahverkehr. Wenn unsere motorisierten Mitmenschen u.a. durch den wachsenden Frust wegen der Staus an der Superbaustelle in der Südstadt motiviert werden, umzusteigen, dann könnte das auch wieder ein Vorbild für andere Städte sein, gewissermaßen als das neue Wunder von Hannover.

PS: Ich war bei der Demo übrigens mit einer alten Freundin vom Kommunistischen Bund. Wir haben dann zusammen darüber Witze gemacht, dass wir von unserer politischen Einstellung her eigentlich Feinde sind, aber eben trotzdem gute Freunde. Sie hat dann darauf hingewiesen, dass statt des Trotzkisten jemand von der Graswurzelrevolution dort hätte reden müssen, denn wir hätten dieses Thema ja schon damals vertreten, in den 70ern. Vermutlich hat das mit dazu beigetragen, dass ich dann diesen Demo-Bericht geschrieben habe. Ich hatte das Gefühl, dass es die Graswurzelbewegung, was immer davon noch übrig ist, wissen sollte, wie hier die Lage vor Ort ist, weil überregional das eventuell zu sehr als Nachfolge von Lützrath aufgebaut wird.