In Decken gehüllt sitzen wir im WG-Durchgangszimmer vor dem Fernseher. Es ist Anfang Januar und mit Ski-Mützen maskierte Gestalten laufen durch die Tagesthemen und verkünden, sie kämpften für den Sozialismus. Wir können es kaum fassen! Die Sandinistas waren vier Jahre zuvor abgewählt worden, mit dem Mauerfall waren sozialistische Modelle zusammengebrochen, mit denen wir als Anarchist*innen ohnehin nichts zu tun haben wollten, und jetzt dies: Im südlichsten Bundesstaat Mexikos, hieß es, sei eine neue Aufstandsbewegung aktiv.
Mexiko hat Bundesstaaten? Wir wussten von nichts. Aber dann war es passiert und sollte mein Leben in den kommenden dreißig Jahren – erst mehr, dann weniger – beeinflussen. Der Sozialismus verschwand zwar relativ schnell aus dem zapatistischen Vokabular, Würde, Demokratie, Gerechtigkeit, u.a. ersetzten ihn und reichten aus, um großen Einfluss auf die bestehende, radikale Linke in den Metropolen auszuüben. An2ders als in anderen Teilen der Welt, wurde der (Neo-)Zapatismus in Deutschland, Italien und Spanien vor allem als sozialrevolutionäre Bewegung wahrgenommen und rezipiert, weniger allein als Aufstand Indigener, die um ihre Rechte kämpfen. Somit war er anschlussfähig für autonome und anarchistische Strömungen, die zwar in ihren Lebenswelten keinerlei Kontakt zu ländlichen Gemeinden und wenig Bezug zur Subsistenzwirtschaft hatten, dafür aber ebenfalls eine Politik der basisdemokratischen Organisierung, der Anti-Avantgarde und des „sozialistischen Beginnens“ (Gustav Landauer) vertraten und eben praktizierten – in Infoläden, auf Bauwagenplätzen, in autonomen Zentren und in Wohn-, Arbeits- und Zeitschriftenprojekten. Die Wissenslücken wurden bald geschlossen, schon Ende 1994 erschien der erste dicke Sammelband mit Texten zum Zapatismus im Verlag Libertäre Assoziation (heute Assoziation A): ¡Ya Basta!, herausgegeben von den Topitas, wurde zu einem Bestseller auf dem Infoladen-Büchertisch. Und als ebenfalls gegen Jahresende das neue Album der Postpunk-Band Die Goldenen Zitronen erschien („Das bißchen Totschlag“, Sub Up Records), war da schon ein Song zur EZLN drauf.
Nächste Station: Hoffnung
(in den 1990ern)
Im Jahr 1994 trugen radikale Linke noch selbstverständlich Pali-Tücher in allen erdenklichen Farben, ohne dass damit eine explizite Haltung zum Nahost-Konflikt verbunden gewesen wäre. Wir freuten uns über das Ende der Apartheid in Südafrika, das nun nicht mehr boykottiert werden musste, gewöhnten uns an fünfstellige Postleitzahlen, die es seit einem Jahr in der BRD gab und daran, dass die BRD plötzlich nicht mehr BRD, sondern Deutschland hieß. Helmut Kohl wurde im Herbst schon wieder zum Kanzler gewählt (das letzte Mal, aber es fühlte sich nicht so an). Das Wort Email hätten wir für falsch geschriebene Emaille gehalten, ein Material, aus dem Omas Tassen waren. Dass die zapatistische Bewegung von Beginn an auch per Internet kommunizierte, als wir alle noch keine Mailadressen hatten, hätte allein schon den Beinamen „Diskursguerilla“ gerechtfertigt, den die damalige Mexiko-Korrespondentin der taz, Anne Huffschmid, für die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional ; Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) erfand.
Die Solidarität basierte nie auf gleichen Lebensbedingungen oder ähnlichen Erfahrungen, sie speiste sich aus politischen Bezugnahmen und einer relativen Begeisterung für paradoxe Politiken, für gewaltfreie Guerillataktiken, universalistische Identitätspolitik und lokal verwurzelte Globalisierungskritik
Diskurs war auch so ein Wort, dass sich aus der postmodernen Philosophie erst so langsam in unserem Alltagswortschatz breit machte. Nach den zwei Wochen Krieg inklusive Besetzung einiger Kleinstädte und Ländereien ging von den Zapatistas kein Schuss mehr aus, dafür aber umso mehr Wortgewalt: Kommuniqués aus dem Lakandonischen Urwald. Dorthin fuhr ich dann erst einige Jahre später, zunächst nahmen wir im Sommer 1997 mit einigen Genossinnen und Genossen neben rund 5.000 anderen Leuten am 2. Intergalaktischen Treffen im Spanischen Staat teil (das erste hatte 1996 in Chiapas stattgefunden). Ich schrieb anschließend einen Bericht für die graswurzelrevolution (vgl. GWR 221, September 1997) darüber – gespeichert auf Diskette, die dann per Post an die Redaktion ging. Dort zwischen Madrid, Katalonien und Andalusien lernten wir einige der Leute kennen, mit denen wir ein paar Jahre später unter dem Label „globalisierungskritische Bewegung“ für eine gerechte Welt demonstrierten. Eine Haltung gegen das, was die Zapatistas als „Neoliberalismus“ benannt und in linken Diskussionen verankert hatten – Deregulierung der Arbeitsmärkte, Liberalisierung des Außenhandels, Privatisierung staatlicher Betriebe, allgemeine Prekarisierung – verband unsere unterschiedlichen Kämpfe. Dazu liefen ständig die Manu Chao-Alben „Clandestino“ (1998) und „Próxima Estación: Esperanza“ (2001).
Globalisierungskritik und Würde (in den 2000ern)
Als die Zapatistas 2001 dazu aufriefen, sich an der Unterstützungskampagne für die Durchsetzung indigener Rechte und Autonomie zu beteiligen, ließen wir uns nicht lange bitten und flogen nach Mexiko, um zwei Wochen lang jeden Tag zwölf Stunden im Bus zu sitzen und die Kommandantur auf ihrer Tour („Marsch für die Würde“) durch zwölf Bundesstaaten zu begleiten. Mit dabei waren rund 2.000 andere Unterstützer*innen aus Westeuropa, Nord- und Südamerika, darunter 300 Tute Bianche aus Italien. Die Anteilnahme der mexikanischen Bevölkerung war enorm, das war so beeindruckend wie undenkbar für eine Bewegung mit vergleichbaren Zielen im deutschsprachigen Raum.
Die transnationale Mobilisierung war stets integraler Bestandteil des zapatistischen Projekts, auch wenn es sich spätestens nach 2001 mehr und mehr auf die autonomen Gemeinden in Chiapas zu konzentrieren schien. In einer Gemeinde namens Olga Isabel saß ich dann gemeinsam mit einem Genossen vor einer Hütte und zählte Panzer der mexikanischen Bundesarmee, die regelmäßig durch die zapatistisch kontrollierten Gemeinden fuhren. Da waren die Nuller Jahre schon länger im Gange und ich war als Menschenrechtsbeobachter in Chiapas, die Panzerzahlen wurden dann der Junta de Buen Gobierno, dem „Rat der guten Regierung“, überbracht, die sich damit ein Bild von der Bedrohung ihres Projekts machen konnte. Von San Cristóbal de las Casas aus verschickten wir dann unsere Berichte aus einem der Internet-Cafés, die es damals überall gab und von denen aus wir vor der Erfindung des Smartphones unsere transnationalistischen Ansprüche umsetzten.
Partys, T-Shirts, Kaffee und die veränderte Solidarität (bis heute)
Zwei Mal habe ich auch mit Zapatist*innen Fußball gespielt, das erste Mal in besagter Gemeinde und zuletzt im Wiener Augarten vor zwei Jahren, als eine große Delegation der Bewegung auf Europa-Reise war (die GWR berichtete). Während wir in den 1990ern während des Studiums ständig Soli-Partys veranstalteten, waren es jetzt, längst ohne Kollektiv und neben dem Job und allem anderen, immerhin ein paar Hundert Soli-T-Shirts, die ich zur Mitfinanzierung der Reise organisieren konnte. Die Soli-Arbeit hat sich also im Laufe der Jahre verschoben und beschränkt sich neben dem gelegentlichen Verfassen von Artikeln im Wesentlichen auf die vielen Tassen Espresso, die ich täglich trinke und deren Bohnen ich über Aroma Zaptista aus Hamburg aus den zapatistischen Gebieten beziehe. Die früher sehr geschätzte Split-LP der Punkbands Petrograd und Daddy Longleg mit zapatistischen Slogan „!Todo para todos!“ (Alles für alle!) als Titel (Falling Down Records, 2002), habe ich schon ewig nicht mehr gehört, mein Plattenspieler ist gar nicht mehr angeschlossen und auf Spotify gibt es sie nicht.
Die Solidarität, wie rudimentär auch immer, basierte nie auf gleichen Lebensbedingungen oder ähnlichen Erfahrungen. Sie speiste sich aus politischen Bezugnahmen und einer relativen Begeisterung für paradoxe Politiken, für die die Zapatistas meiner Ansicht nach stehen: gewaltfreie Guerillataktiken, universalistische Identitätspolitik („Alles für alle“ plus „Nie mehr ein Mexiko ohne uns“) und lokal verwurzelte Globalisierungskritik.
Dass es sich lohnt, daran zu arbeiten, „die Welt zu verändern, ohne die Macht zu ergreifen“, wie der Politikwissenschaftler John Holloway das zapatistische Politikverständnis auf den Punkt brachte, war uns als Anarchist*innen nicht gerade neu. (Bei Veranstaltungen mit Holloway waren in der Hochphase der globalisierungskritischen Bewegung und kurz danach mehrere Hundert Zuhörer*innen die Regel.) Neu war aber schon, die Welt einmal nicht nur aus der privilegierten Mittelschichtsperspektive wahrzunehmen, in der ich bis dato meine Sichtweisen geschärft hatte. So fing ja alles an: „Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf“, hieß es im allerersten Kommuniqué 1994.
Wer nicht in den 90ern autonom-anarchistisch orientiert war, eine „Studiengruppe Mexiko“ gegründet, Soli-Partys veranstaltet und in Chiapas immer nur Tortillas mit Bohnen und Reis gegessen hatte, konnte sich um die Jahrtausendwende dann schnell für andere linke Großprojekte begeistern: Staatsprojekte wie in Bolivien unter der MAS (Movimiento al Socialismo) oder in Venezuela während der Präsidentschaft von Hugo Chávez, die für viele Linke attraktiver als die zapatistische Basisdemokratie wurden und die Zapatistas etwas an globalem Einfluss verlieren ließen. Als mit dem Arabischen Frühling und den Occupy-Protesten um 2011ff. noch einmal emanzipatorische Politiken eine kleine Hochkonjunktur feiern konnten, spielte der Zapatismus weit weniger eine Rolle als noch zehn Jahre zuvor. Der globale Aufstieg der Ultrarechten in den letzten Jahren wirft zudem die Frage der Bündnispolitiken neu und vielleicht auch anders auf, als sie sich für die auf relativ homogene (indigene und bäuerliche) Milieus gründende Bewegung der Zapatistas stellt.
Trotz alledem ist es bis heute faszinierend, wie es Menschen, die in Hütten mit Lehmboden fünf oder mehr Stunden von der nächsten asphaltierten Straße entfernt leben, gelang, dermaßen einflussreich für die globale, metropolitane Linke werden zu können. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von der Nutzung des Begriffs Neoliberalismus als verbindende Klammer, die verschiedenste Kämpfe zu umfassen vermochte, über die Symbol- und Geschichtspolitiken (Masken, Zapata und die uneingelösten Versprechen der Revolution, u.v.m.) bis hin zu der Offenheit der aktuellen Forderungen (von Würde bis Ökologie) und der undogmatischen Art und Weise, die Kämpfe zu führen und zu vermitteln. Auch das Schwinden der globalen Begeisterung für eine kollektive, ökologische und antikapitalistische Lebensperspektive hat diverse Ursachen. Die letzten dreißig Jahre haben mir zumindest das vermittelt: Wir bleiben dran! Auch wenn immer wieder völlig unklar ist, wie sich dieses Wir konkret umsetzt und gestaltet. Fragend schreiten wir voran.
P.S.: Weil der mexikanische Revolutionär Emiliano Zapata (1879–1919), nach dem die Zapatistas sich benannt haben, ein bisschen nach dem spanischen Wort für moderne Fußbekleidung klingt (zapato), nutzte ich ein Pseudonym namens
Emil Schuh
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.