Der Soziologe Andreas Kemper hat in seinem im November 2023 in der Graswurzelrevolution Nr. 483 erschienenen Artikel „Proprietarismus: Eine neue Form von Faschismus? Es gibt keinen ‘Anarchokapitalismus’ oder Recht’libertaris-mus’ ” (1) klar gestellt, dass Kapitalismus und Herrschaftsfreiheit sich ausschließen und der Begriff „Anarchokapitalismus“ somit etwas bezeichnet, was es nicht geben kann. Kemper: „Ein Oximoron – ein Widerspruch in sich.” Nun ist in Argentinien tatsächlich der sich selbst als „Anarchokapitalist” und „Libertärer” bezeichnende, extrem rechte Javier Milei zum Präsidenten gewählt worden. (GWR-Red.)
Der Mann mit der Motorsäge ist am Ziel. Seit dem 10. Dezember 2023 ist Javier Milei neuer Präsident Argentiniens. Der häufig auch als „der Verrückte“ bezeichnete Milei setzte sich in der Stichwahl mit über 55% der Stimmen überraschend deutlich gegen den bisherigen Wirtschaftsminister der peronistischen Regierung, Sergio Massa, durch. Für Argentinien beginnt mit dem Wahlsieg des Rechtsextremisten ein neues Zeitalter, denn seine Partei ist in der nächsten Legislaturperiode erstmals im Parlament vertreten und Milei selbst stilisiert sich als apolitische und neue Figur, die nicht zu der „Kaste der korrupten Politiker“ gehört.
Wie lässt sich die Figur Milei einordnen, der im Wahlkampf damit geprahlt hat, mit einer Motorsäge alles kaputt zu machen, teilweise krudeste Thesen über den Verkauf von Organen oder Kindern verbreitet hat und dadurch aufgefallen ist, dass er Stimmen hörte oder mit seinem toten Hund kommunizierte? Er selbst bezeichnet sich als Anarcho-Kapitalisten, der gerade in Wirtschaftsfragen nicht nur liberal sondern libertär sei. Regiert im nächsten Jahr in Argentinien also ein Anarchist? Mit Sicherheit nicht, denn entscheidend ist das zweite Konzept in seiner Selbsteinschätzung: Milei möchte zwar den Staat abschaffen, aber stattdessen soll das Geld die Macht übernehmen. Das einzige „anarchistische“ dabei ist, dass der neue Präsident im Wahlkampf sehr viel radikaler als bisher gewohnt den Rückzug des Staates aus allen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen gefordert hat. Alle staatlichen Firmen sollen privatisiert werden, die Außenpolitik nur über private Kanäle verlaufen und der Staat dient eigentlich nur noch dazu, innere und äußere Sicherheit zu garantieren und ein Mindestmaß an gesetzlichen Regeln für die wirtschaftlichen Beziehungen bereitzustellen. Das ist letztlich das Rezept von Milton Friedmann, dem Vordenker des modernen Neoliberalismus, dessen Maßnahmen schon die Pinochetdiktatur in Chile in den 1980ern in die Krise geführt haben, und die ja auch in Argentinien unter der Regierung Menem in den 1990ern in dem kompletten Zusammenbruch von 2001 geendet haben. Genau diese Maßnahmen sollen jetzt erneut die angebliche Lösung für Argentiniens Probleme bringen.
Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der deutliche Wahlsieg Mileis erklären?
Der wichtigste Grund ist sicherlich in der wirtschaftlichen Dauerkrise des Landes zu finden. Eine Inflation von 140 % und eine sich dauernd verschlechternde soziale Lage auch für viele Menschen aus der Mittelschicht führten zu großem Unmut gegenüber der aktuellen Regierung. Dieser Regierung um den Präsidenten Alberto Fernández, der im Wahlkampf aufgrund seines schlechten Rufes fast unsichtbar blieb, gelang es nicht, die soziale Situation der Menschen zu verbessern. Die Ausgangslage war zwar durch die hohe Verschuldung Argentiniens beim Internationalen Währungsfonds, die Fernández neoliberaler Vorgänger Mauricio Macri zu verantworten hatte, der langen Pandemie und den Folgen des Ukrainekrieges äußerst schlecht, doch die peronistische Regierung fiel weniger durch konstruktive Ideen, sondern in erster Linie durch Korruptionsfälle auf.
Die Krise ist in Argentinien deutlich zu sehen: Viel mehr Menschen als noch vor zwei Jahren schlafen auf der Straße, der inoffizielle Dollarkurs schießt fast täglich in die Höhe und das in argentinischen Pesos gezahlte Gehalt reicht oft nicht mehr bis zum Monatsende. Diese Situation wusste Milei insbesondere in den sozialen Medien geschickt auszunutzen. Inhaltlich machte er dabei wenige Vorschläge, entscheidend war die Wut, die in seinen Beschimpfungen und kruden Thesen zum Ausdruck kam, und mit der sich eine große Zahl gerade jüngerer Männer gut identifizieren konnte. Wenn die politische „Kaste“ sowieso korrupt ist, es kaum noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt, dann wählt man eben einen politischen Outsider, der zumindest die gleiche Wut hat und es allen mal zeigen wird. Das klingt als Erklärung für den Wahlerfolg banal, ist aber angesichts des weltweiten Aufkommens von Rechtsextremisten nicht zu vernachlässigen, auch nicht in Deutschland, wo die AfD ebenfalls die abgehängten, von der Demokratie enttäuschten Wähler:innen einsammelt.
Ein zweiter wichtiger Grund für den Wahlerfolg Mileis ist aber das Bündnis, dass er mit der Partei von Mauricio Macri, dessen Kandidatin bei der ersten Wahlrunde mit 25% auf den dritten Platz gekommen ist, eingegangen ist. Der Multimillionär Macri, der zwischen 2015 und 2019 schon Präsident Argentiniens war, ist einer der großen Gewinner des zweiten Wahlgangs. Das Bündnis zwischen Milei und Macri führte dazu, dass fast alle Stimmen dieser rechtsliberalen Partei auf Milei fielen und dass der neue Präsident jetzt stark abhängig von der Partei Macris ist, denn eine eigene Mehrheit im Parlament oder Senat hat Milei nicht. Nur mit den Stimmen der Konservativen kann er überhaupt damit rechnen, einige seiner Wahlversprechen durchzusetzen. Dabei zeigte sich wieder eine bei den lateinamerikanischen rechten Parteien ausgeprägte Tendenz, im Zweifelsfall auch einen rechtsextremen Politiker zu unterstützen, wenn es um die Macht geht. Schon bei der letzten Präsidentschaftswahl in Chile hat sich die angeblich „demokratische“ Rechte problemlos dem extremistischen Kandidaten Kast zugewandt, als dieser in die Stichwahl eingezogen ist. Auch das ist eine Tendenz, die es für Europa zumindest zu bedenken gilt.
Wie wird es in Argentinien jetzt weitergehen?
Die erste Woche nach der Wahl hat vor allem gezeigt, dass der Wahlkampf etwas anderes als das Regieren ist. Mileis Mannschaft besitzt keine Erfahrung in der Politik, er musste schon mehrmals Ministerkandidat:innen kurzfristig ändern und widerspricht sich fast täglich. Da er im Parlament auf die Stimmen anderer Parteien angewiesen ist, ist zu erwarten, dass die ersten Maßnahmen etwas moderater ausfallen als angekündigt. Schon im zweiten Wahlgang gab er sich im Ton gemäßigter und machte deutlich, dass eine Privatisierung des Erziehungs- und Gesundheitswesens erst einmal nicht auf der Agenda stehe. Gleichzeitig hält er aber an einer „Dollarisierung“ der argentinischen Wirtschaft fest, um die Inflation einzudämmen. Zudem hat er schon die Privatisierung der staatlichen Ölgesellschaft und sämtlicher staatlicher Medien angekündigt. Letztlich ist es noch schwierig vorauszusagen, wie viele von den teilweise absurden Versprechen wirklich umgesetzt werden können. Entscheidend sind vielmehr zwei andere Punkte.
Inhaltlich machte Milei wenige Vorschläge, entscheidend war die Wut, die in seinen Beschimpfungen und kruden Thesen zum Ausdruck kam, und mit der sich eine große Zahl gerade jüngerer Männer gut identifizieren konnte. Wenn die politische „Kaste“ sowieso korrupt ist, es kaum noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt, dann wählt man eben einen politischen Outsider, der zumindest die gleiche Wut hat und es allen mal zeigen wird.
Zum einen werden die „libertären“ wirtschaftlichen Maßnahmen zu einer noch größeren Ungleichheit in der argentinischen Gesellschaft führen. Die Idee, alles dem Markt zu überlassen, begünstigt immer diejenigen mit den besseren Ausgangsbedingungen. Die Reichen werden also reicher werden und die Armen ärmer. Das wird, gerade angesichts der traditionell starken zivilgesellschaftlichen Ak-teur:innen in Argentinien, sehr wahrscheinlich bald zu starken Protesten führen, auch bei denjenigen, die Milei jetzt gewählt haben in der Hoffnung, dass endlich alles anders wird. Für diesen Fall hat der neue Präsident schon angekündigt, dass er mit „harter Hand“ gegen die Demonstrierenden vorgehen wird. Es ist also zu befürchten, dass die Gewalt auf den Straßen in Argentinien zunimmt und sich die Gesellschaft weiter polarisiert. Schon jetzt gibt es auch zivile Organisationen, die im Namen des neuen Präsidenten gewaltsame Drohungen gegen linke, feministische oder LGBTQ+-Gruppierungen aussprechen.
Zum zweiten kam am 10. Dezember auch eine neue Vizepräsidentin an die Macht. Monica Villaruel ist Tochter eines Generals aus der Militärdiktatur und bekannt für ihren negationistischen Diskurs. Sie stellt den Staatsterrorismus der letzten Diktatur in Frage oder relativiert ihn mit dem Hinweis auf die Verbrechen der linken Guerillagruppen aus den 1970ern, die von ihr, ganz im Sinne der Theorie der „zwei Dämonen“, mit den Menschenrechtsverletzungen der Diktatur gleichgesetzt werden. Das ist deshalb besorgniserregend, weil es in Argentinien – im Gegensatz zu Chile zum Beispiel – lange einen breiten gesellschaftlichen Konsens gegeben hatte, die letzte Militärdiktatur klar zu verurteilen. Doch auch dieses relativ eindeutige Narrativ über die Vergangenheit scheint nicht mehr zu gelten, der Diskurs in Argentinien rückt mit der neuen Regierung weiter nach rechts. Auch hier reiht sich das Land in eine Tendenz ein, die es leider weltweit zu beobachten gibt.
Aufgrund der zwei genannten Punkte lässt sich deshalb zumindest so viel voraussagen, dass der Wahlsieg Mileis für Argentinien – und gerade auch für die ärmere Bevölkerung, von der viele ihn gewählt haben – kaum Gutes verspricht. Es ist unwahrscheinlich, dass er tatsächlich alle seine Maßnahmen durchsetzen wird können. Die Beziehungen mit China oder Brasilien werden wohl eher nicht beendet, auch die von vielen Akademiker:innen befürchtete Einstellung der Wissenschaftsförderung wird so schnell nicht kommen, doch die Privatisierungen werden die Ungleichheit weiter fördern, der Unmut der Bevölkerung wird wachsen und die diskursive Gewalt in den Medien und die tatsächliche Gewalt auf den Straßen ansteigen. Die Gefahr besteht meines Erachtens also in erster Linie darin, dass Milei, ähnlich wie Trump und Bolsonaro, ein noch stärker polarisiertes Land hinterlassen wird, in dem die Gewalt zunimmt und der Diskurs weiter nach rechts verschoben wird. Eine Mischung, die die Bereitschaft für noch autoritärere Lösungen in der Zukunft zumindest nicht kleiner macht.
(1) Jetzt auch online auf: https://www.graswurzel.net/gwr/2023/10/proprietarismus/
Stephan Ruderer ist Professor für Lateinamerikanische Geschichte in Santiago de Chile. Zum 50. Jahrestag des Putsches in Chile erschien im September 2023 in der GWR 481 sein Artikel „Schwierige Erinnerung”, https://www.graswurzel.net/gwr/ 2023/09/schwierige-erinnerung/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.