Sechseinhalb Jahre danach: Neue Prozesse wegen G20

Vorwurf: Anwesenheit bei Demonstration

| Silke

Und wieder Anklagen wegen Rondenbarg. Die Repression nach dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg findet kein Ende, sondern soll ab dem 18. Januar 2024 in die nächste Runde gehen. In dem Prozess geht es nicht um individuelle Handlungen, die den beschuldigten Gipfelgegner*innen zugeordnet werden, sondern um ihre bloße Anwesenheit bei der Demonstration am 7. Juli 2017 im Hamburger Straßenzug Rondenbarg. Wenn es mit dieser Begründung zu einer Verurteilung kommen sollte, wäre künftig die Teilnahme an jeder Kundgebung mit einem hohen Risiko verbunden und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit noch weiter unterhöhlt.

Der G20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg ging als „Gipfel der Repression“ in die Geschichte ein. (1) Schon monatelang im Vorfeld übertrafen sich die Behörden darin, elementare Rechte und Freiheiten auszuhebeln, willkürliche Maßnahmen wie großflächige Versammlungs- und Campverbote zu erlassen und die Proteste gegen das Treffen der 20 mächtigsten Staats- und Regierungschef*innen zu kriminalisieren. Die Anti-G20-Demonstrationen erlebten unvorstellbar brutale Polizeigewalt und Massenfestnahmen, gefolgt von zahlreichen Prozessen.
Einen Höhepunkt der Repressionsmaßnahmen bildeten die Ereignisse am Rondenbarg: Am frühen Morgen des 7. Juli 2017 brachen vom Protestcamp in Altona mehrere Demonstrationszüge auf, die die Zufahrtswege zum Gipfelgelände blockieren wollten. Eine Gruppe von rund 200 Menschen wurde unterwegs im Straßenzug Rondenbarg von enthemmten Einsatzkräften eingekreist und mit so blutigen Schlagstock- und Wasserwerfereinsätzen attackiert, dass 65 Feuerwehrleute, zwölf Rettungswägen und fünf Notarztfahrzeuge hinzukommen mussten. (2) 14 Betroffene mussten im Krankenhaus behandelt werden, mehrere leiden bis heute unter bleibenden körperlichen Einschränkungen. Besonders schwere Verletzungen entstanden, als die Polizei die Demonstrant*innen gegen ein Geländer drängte, das unter dem Druck brach, sodass mehrere Aktivist*innen mehr als vier Meter in die Tiefe stürzten. Die Videos der martialisch brüllenden Polizist*innen und ihrer unsäglichen Brutalität schockierten ebenso wie der an Menschenverachtung kaum zu übertreffende Kommentar im Polizeivideo: „Die haben sie ja schön platt gemacht, alter Schwede“. (3)
59 Gipfelgegner*innen wurden vor Ort festgenommen und tagelang in der Gefangenensammelstelle festgehalten, zwölf blieben noch wochen- oder monatelang in Untersuchungshaft. Zu ihnen gehörte Fabio aus Italien, der ab Oktober 2017 vor Gericht stand, bis das Verfahren im Februar 2018 platzte. Als Anklagepunkte listete die Staatsanwaltschaft versuchte Körperverletzung, tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamt*innen und schweren Landfriedensbruch auf, obwohl dem italienischen Aktivisten keine individuelle Handlung zugeordnet wurde. Es ging also darum, alle Demonstrant*innen für sämtliche Aktionen einzelner haftbar zu machen – und das ist der Grundsatz der Verfahren im Rondenbarg-Komplex.
Bei den folgenden Ermittlungen führte die Sonderkommission „Schwarzer Block“ nicht nur viele Hausdurchsuchungen durch, sondern leitete eine Öffentlichkeitsfahndung ein. Über Online-Steckbriefe suchte sie unter anderem Gipfelgegner*innen aus der Rondenbarg-Demo, deren Personalien sie nicht schon vor Ort aufgenommen hatte, und rief die Bevölkerung zur Denunziation auf.
Insgesamt 85 Personen erhielten später Anklageschriften. Am 3. Dezember 2020 begann der Prozess gegen die fünf jüngsten Angeklagten nach Jugendstrafrecht. Die Staatsanwaltschaft brachte erneut das Komplettsortiment härtester Vorwürfe in Stellung. Nach zwei Verhandlungsterminen wurde der Prozess abgebrochen, weil er unter den Bedingungen der Corona-Pandemie nicht durchführbar war.
Ab 18. Januar 2024 stehen sechs andere Aktivist*innen wegen der Teilnahme an der Rondenbarg-Demo vor dem Landgericht Hamburg, und wieder bemüht die Staatsanwaltschaft dieselben schwer wiegenden Anklagepunkte: Beschuldigt werden sie des schweren Landfriedensbruchs, des besonders schweren tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamt*innen, versuchter gefährlicher Körperverletzung, der Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung. Bisher sind 25 Prozesstermine angesetzt worden, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Verfahren nach der Sommerpause des Gerichts weitergeführt wird.
Für die Betroffenen, die aus dem ganzen Bundesgebiet kommen, ist das extrem belastend: Zum einen schwebt schon seit Jahren das Damoklesschwert einer möglichen Haftstrafe über ihnen, das jetzt noch greifbarer wirkt. Zum anderen macht die Aussicht auf dutzende Verhandlungstermine in einem monatelangen Prozess jegliche Lebensplanung für das nächste Jahr zunichte: „Für die Angeklagten ist dieser Prozess eine große Herausforderung in vielerlei Hinsicht. Sie müssen ihre Arbeitgeber*innen informieren, Familie und Freund*innen. Sie werden zwischen Hamburg und ihrer Heimatstadt hin- und herpendeln müssen – was für alle weite Strecken sind –, können in diesen Tagen keinen Lohn verdienen und nicht bei sich zu Hause schlafen. Diese Umstellung und die ganze Organisation, die dahinter steckt, sind zeitlich und emotional bereits jetzt eine Belastung“, erklärte eine Sprecherin der Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“ gegenüber der Graswurzelrevolution. Die Solidaritätsinitiative begleitet die Verfahren und unterstützt die Betroffenen gemeinsam mit der Roten Hilfe e. V. und anderen Gruppen.
Zugleich steht bei dem Prozess die Versammlungsfreiheit in ihrer bisherigen Form auf dem Spiel, was die sechs Angeklagten und ihre Unterstützer*in-nen als zentrales Thema der Öffentlichkeitsarbeit zum Prozess betrachten. „Die Staatsanwaltschaft plant damit eine einschneidende Änderung des Demonstrationsrechts. Kommen sie mit der Argumentation durch, dass man für Straftaten verurteilt werden kann ohne Nachweis, dass man diese selbst begangen hat, hat dies gravierende Auswirkungen auf die politische Versammlungsfreiheit für alle. Das müssen wir gemeinsam verhindern“, sagte eine Angeklagte. „Die Solidarität und die umfangreiche Unterstützung, die wir dabei von Freund*innen und Genoss*innen erfahren, hilft uns enorm.“

(1) vgl. G20-Schwerpunkt in GWR 421, September 2017, https://www.graswurzel.net/gwr/category/ausgaben/421-september-
2017/
(2) vgl. Meldung der Feuerwehr Hamburg vom 7.7.2017,
web.archive.org/web/20171201032002/https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/82522/3679470
(3) vgl. u. a. ARD-Nachtmagazin vom 10.8.2017, 
youtube.com/watch?v=EdJKWGVd5jg

Weitere Informationen unter
gemeinschaftlich.noblogs.org
rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de