Interview

Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen

Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke im Gespräch mit Konstantin Wecker: „Wir hören nicht auf zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt“ – Teil 2 Fortsetzung aus GWR 484

Im Anschluss an ein Konzert in Dortmund trafen sich Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke Anfang Oktober 2023 mit dem Liedermacher, Autor, Schauspieler und Anarchopazifisten Konstantin Wecker zum Gespräch. Die dabei entstandene Radio Graswurzelrevolution-Sendung wird voraussichtlich am 30. Dezember 2023 ausgestrahlt. (7) Wir veröffentlichen in drei Teilen redaktionell überarbeitete Auszüge aus dem Interview. Teil 1 erschien im Dezember 2023 in der GWR 484, Teil 3 erscheint im Februar 2023 in GWR 486. (GWR-Red.)

Sevgi Kosan-Drücke: Der Anarchopazifismus ist Dir total wichtig, aber auch andere Bereiche, zum Beispiel das Klima, die Naturverbundenheit. Da hast Du beim gestrigen Konzert mehrere, auch ältere Lieder von Dir gesungen, auch „Der Baum“.

Konstantin Wecker: Ja, schon in den 1980er Jahren haben wir uns mit diesem Thema beschäftigt. Ich habe die Lieder auch jetzt erst wieder so richtig ausgepackt, weil ich mir gedacht habe:„Mensch ich weiß ja noch Wackersdorf“, Bernd, du kennst das noch und warst dabei?

Bernd Drücke: Ja, ich habe 1989 als junger Anti-Atom-Aktivist zusammen mit Zigtausenden gegen den geplanten Bau der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf demonstriert.

Konstantin: Da war das ja schon ein Thema in der Jugendbewegung. Dann ist es wieder entthematisiert worden. Und jetzt werden die Klimaschützer:innen und die Jugendlichen kriminalisiert. Ich habe mich deutlich für die Klimagerechtigkeitsbewegung ausgesprochen und gegen diese Kriminalisierung.
Wieviel konntet ihr als Nicht-Bayern von dem „Baum“ verstehen? Weil das ist schon ein ziemlich bayrisches Lied.

Sevgi: Das konnten wir trotzdem gut verstehen.

Konstantin: Okay, dann bin ich beruhigt.

Bernd: Du hast dich mit der massiv von Kriminalisierung betroffenen Letzten Generation in einer Videobotschaft solidarisiert und die Kriminalisierung von Klimaaktivist:innen auch beim gestrigen Konzert angesprochen. Das finde ich gut. Die Solidarität ist wichtig. Als gewaltfreier Anarchist habe ich aber auch Kritik an der Letzten Generation. Deren Aktionsformen sind in den sozialen Bewegungen umstritten. Wenn du eine Straße blockierst, werden Menschen, die zur Arbeit fahren wollen, aufgehalten und verärgert. Dabei brauchen wir deren Solidarität. Politisch sinnvoller ist es aus anarchistischer Sicht, wenn gewaltfreie Aktionen zur Aufklärung über Macht- und Herrschaftsverhältnisse beitragen. Ich denke, Direkte Gewaltfreie Aktionen sollten zur Politisierung beitragen und sich deshalb direkt gegen RWE, BP, Autokonzerne und andere große Klimakiller richten, anstatt gegen die Hebamme und den Handwerker von nebenan, die mit dem Auto zur Arbeit fahren. 100 Großkonzerne sind für mehr als 70 Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich. Diese Konzerne gilt es in den Fokus zu nehmen. Die von Massenmedien und Politikern befeuerte Hetze gegen „Klimakleber“ hat zu unfassbarer Gewalt von Autofahrern gegen die gewaltfreien Aktivist:innen und zu einer Repression des Staates gegen Aktive der Letzten Generation mit hohen Haftstraßen geführt. Es ist super, dass Du dich als Prominenter öffentlich solidarisierst.

Konstantin: Wir müssen uns mal überlegen, dass diese Generation, diese jungen Leute, wahrscheinlich mit 50 oder 60 nicht mehr atmen können. Wenn das so weitergeht, wird ihnen die Luft ausgehen.
Es gibt eine schreckliche schwarzbraune Kontinuität seit der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterevolution im Mai 1919. Wieder werden Linke gejagt, Organisationen verboten und Medien von Klimaaktivist:innen gesperrt. Heute sperren sie Webseiten, früher haben sie Publikationen beschlagnahmt. Warum? Weil die Proteste der Letzten Generation die staatlichen Organe stören. Wieder einmal stören Aktivist:innen, die sich in diesem Fall gegen die Zerstörung von Natur und Klima einsetzen, mehr als die tödlichen Profite fossiler Energie- und Autokonzerne oder die menschenverachtende Hetze und die oft tödlichen Angriffe von Nazis und Rassisten. Alles muss sich ändern, und zwar sofort. Denn Zeit haben wir keine mehr. Zu lange haben zu viele Menschen einfach nur zugeschaut und mitgemacht bei der Zerstörung unseres Planeten. Sie haben die Spielregeln der Politiker, Wirtschaftsbosse und Militärs unkritisch anerkannt und sich nicht engagiert für eine gerechtere Gesellschaft weltweit.
Aus eigener Erfahrung weiß ich sehr gut, wie wichtig Solidarität für Menschen ist, die eingesperrt in Knästen sitzen müssen. Deshalb lasst uns den von Repression bedrohten Klimaaktivist:innen viel Kraft, Energie und unsere Solidarität schicken. Die Paragraphen 129 und 129a, mit denen jetzt die Letzte Generation kriminalisiert werden soll, sind Ausdruck eines antidemokratischen, präventiven Gesinnungsstrafrechts. Sie gehören endlich abgeschafft. Ich werde auch in Zukunft nicht aufhören zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt ohne Krieg und Faschismus, von einer grenzenlosen Welt ohne Patriarchat, Rassismus, Unterdrückung, Ausbeutung und die weitere Zerstörung von Natur und Klima.

Sevgi: Dein Lied „Schäm dich, Europa“, das du gestern gespielt hast, macht in diesem Sinne Mut und kritisiert die gegen Geflüchtete gerichtete menschenfeindliche Abschottungspolitik der EU.

Konstantin: Wie viele Geflüchtete werden wir in den nächsten Jahrzehnten haben aus Ländern, wo die Menschen einfach nicht mehr wohnen können? Was haben wir den Tieren alles angetan?
Ich habe mich so gefreut, dass ich dieses Öcalan-Zitat gefunden habe, wo er ja auch so viel über Utopie spricht. Das ist auch interessant, gell? Du musst dir mal vorstellen, seit fast 25 Jahren sitzt Abdullah Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft. Das ist so unfassbar. Ich habe mich zusammen mit der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek eingesetzt für die kurdische Bewegung, weil die Kurd:innen eine wirkliche Gleichberechtigung anstreben. Das wird von den Herrschenden weltweit nicht geliebt. Deshalb werden die Kurd:innen vom Herrn Erdoğan mit NATO-Unterstützung bombardiert. Liest du zur Zeit irgendwas davon in den Medien, irgendwas über diese Gräuel, die da passieren?

Bernd: Du hast recht, in den Massenmedien sind die Verbrechen des NATO-Staates Türkei kein Thema. In der Graswurzelrevolution aber schon (8).
Ich habe das Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Öcalan, das du gestern während des Konzerts erwähnt hast, gelesen. Ich sehe den inhaftierten Vorsitzenden der PKK trotzdem kritisch. Also, ich denke, er hat sich entwickelt vom Stalinisten in den 1970ern, dann zum kurdischen Nationalisten, zum „Apoisten“, schließlich zum Anhänger des Libertären Kommunalismus und Demokratischen Konföderalismus. Was ich bei meiner Reise mit einer Menschenrechtsdelegation 1993 in den kurdischen Kriegsgebieten als problematisch empfunden habe, ist der Personenkult um „Serok Apo“. Auch die Aktionen, die die PKK lange Zeit gemacht hat, von Schutzgelderpressung bis Mord, das fand ich immer schlimm. Sie haben den türkischen Nationalismus damals zum Teil kopiert und waren in den kurdischen Gebieten der Türkei eine Art Staat im Staate. An die Stelle des türkisch-kemalistischen Kults um Atatürk haben sie den Personenkult um Öcalan als „Sonne Kurdistans“ gesetzt. Und heute? Der (gescheiterte) Terroranschlag, verübt von PKK-Leuten am 1. Oktober 2023 in Ankara, bei dem zwei Menschen getötet und weitere verletzt wurden, das ist eine Katastrophe, völlig kontraproduktiv. Das dient dem türkischen Regime jetzt als Vorwand für die aktuellen Bombardierungen in Rojava.
Gut finde ich, dass sich Öcalan im Knast offensichtlich intensiv beschäftigt hat mit den libertär-kommunalistischen Theorien des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin. Also, er hat anarchistische Literatur gelesen. Das ist interessant, wenn jemand, der im Knast sitzt, sich intensiv mit dem Öko-Anarchismus und Libertären Kommunalismus beschäftigt, und das dann auch verinnerlicht.
Der libertäre Kommunalismus möchte als anarchistischer Ansatz die Gesellschaft dezentralisieren und über miteinander vernetzte, möglichst kleine Städte föderal organisieren. Bookchin hatte für seine direktdemokratischen Vorstellungen die Town Meetings aus der US-Revolutionszeit mit ihren Bürgerversammlungen zum Vorbild. Die Prinzipien des „libertären Kommunalismus“ sind Nicht-Hierarchie, Gegenseitige Hilfe, Kooperation, Ökologie, direkte Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Dass öko-anarchistische, feministische und zapatistische Ideen Öcalan zur Entwicklung des „demokratischen Konföderalismus“ inspiriert haben, ist erfreulich. In Rojava, dem de facto autonomen kurdischen Gebiet in Syrien, wird versucht, diese Ideen umzusetzen. Öcalan hat in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ eine „Abkehr vom Dogmatismus“ verkündet. Das fand ich an dem Buch beeindruckend, dass er sich im Grunde von sich selbst distanziert hat, vom Nationalismus und von der autoritär-dogmatischen Politik, die er Jahrzehnte lang als PKK-Chef vertreten hat. Es ist aus anarchistischer Sicht ein Fortschritt, dass Öcalan keinen kurdischen Staat mehr anstrebt, sondern eine basisdemokratische, föderal-kommunalistische, pro-feministische und ökologische Gesellschaft jenseits von Staat, Macht und Gewalt.

Konstantin: Das finde ich am tollsten an ihm. Und ich bin natürlich auch nicht mit allen Aktionen von Kurden einverstanden. Da geht es auch sehr viel um Militär und um Gewalt, gar keine Frage, aber ich bin für die Idee der Kurdinnen zu haben.
Das, was du über Öcalan sagst, diese Entwicklung kann ich ein bisschen nachvollziehen. Im Gegensatz zu dir bin ich ja ein Knasti und ich weiß, was im Knast mit einem passieren kann. Ich habe das auch in meiner Biografie beschrieben. Mit 19 war ich das erste Mal eingesperrt. Ich wünsche niemanden den Knast und bin auch nicht der Meinung, dass man sich freiwillig einsperren lassen muss, um so etwas zu erleben, aber ich habe zum ersten Mal im Leben im Knast eine wirkliche innere Freiheit gespürt. Also, ich habe viel gelernt im Knast, weil ich da vielleicht zum ersten Mal als sehr junger Mann ganz auf mich selbst zurückgeschlagen war. Da konnte ich mich nicht mehr ablenken mit irgendwas. Also, der Knast kann auch sehr heilsam sein. Nochmal, ich fordere nicht den Knast für Menschen, sondern, wenn du drin steckst, dann kann es dir auch helfen.

(7) Radio Graswurzelrevolution ist die Bürgerfunksendung der GWR. Die 55-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Konstantin Wecker wird voraussichtlich am 30. Dezember 2023 ab 20:05 u.a. im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt und ist danach auch online zu hören auf:
https://www.nrwision.de/mediathek/
sendungen/radio-graswurzelrevolution/
Lothar Hill hat für MünsterTube einen Videomitschnitt des Interviews gemacht und u. a. hier dokumentiert: https://www.
youtube.com/watch?v=symLK6R99no
(8) Siehe z.B.: Der vergessene Krieg. Der Bombenterror des Erdoğan-Regimes, Artikel von Michael Wilk, in: GWR 484, Dezember 2023, S. 1, 11)

Fortsetzung folgt im Februar 2024 in der GWR 486