Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen

Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke im Gespräch mit Konstantin Wecker: „Wir hören nicht auf zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt“ – Teil 3 Fortsetzung aus GWR 485

| Interview: Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke

Anfang Oktober 2023 trafen sich Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke in einem Dortmunder Hotel mit dem am 1. Juni 1947 in München geborenen Liedermacher, Autor, Schauspieler und Anarchopazifisten Konstantin Wecker zum Gespräch über Utopie, Poesie, Anarchie, Öcalan, Knast, Grenzen, Krieg, Frieden und die „Letzte Generation“.Die 60-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit dem Musiker wurde im Januar 2024 im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt und kann jetzt, inklusive Musik, in der NRWision-Mediathek (8) gehört werden. Die Graswurzelrevolution hat Auszüge aus dem Gespräch redaktionell überarbeitet und in drei Teilen im Dezember 2023 in der GWR 484, im Januar 2024 in der GWR 485 und im Februar 2024 in der GWR 486 veröffentlicht. Hier nun Teil. (GWR-Red.)

Bernd: Ich weiß nicht, ob ich dir die Geschichte schon einmal erzählt habe. Die habe ich im Sommer 2023 auch in der ZDF-Sendung „Sag’s mir“ zum Thema Bundeswehr erzählt, die dir so gut gefallen hat. (9) Leider wurde mein mehrstündiges Streitgespräch mit einem Bundeswehr-Hauptmann für die Sendung auf 22 Minuten gekürzt und auch dieser wichtige „Ossi“-Teil herausgeschnitten. Es geht um die Geschichte von Osman Murat Ülke, genannt Ossi, und um Mehmet Bal. Ossi ist ein gewaltfreier Anarchist, der den Kriegsdienst verweigert hat, was in der Türkei verboten war und ist. Ossi hat seinen Wehrpass öffentlich verbrannt und ist dafür in den Knast gekommen. In der Türkei war es so, dass Kriegsdienstverweigerer drei Monate in den Knast kamen, dann wurden sie wieder herausgelassen, mit der Aufforderung, den Kriegsdienst zu leisten. Wenn du das dann nicht machst, kommst du wieder drei Monate, theoretisch lebenslänglich, ins Gefängnis. Immer wieder.
Als der Graswurzelrevolutionär 1996 das erste Mal für drei Monate in den Knast ging, wurde den anderen Gefangenen gesagt: „Da kommt jetzt ein ganz gefährlicher Terrorist, ein Anarchist, passt bloß auf!“
Ossi wurde in eine Zelle gesperrt, zusammen mit Mehmet Bal, einem Faschisten und Mitglied der „Grauen Wölfe“, der bei einem Banküberfall eine Frau erschossen hatte. Die anderen Gefangenen betrachteten Ossi zunächst total ablehnend, weil er ihnen ja als schlimmer „Anarchist und Terrorist“ vorgestellt wurde, als ein „ganz gefährlicher Mensch“. Die haben sich einen „Anarchisten“ natürlich als Bombenleger und Massenmörder vorgestellt. Dabei entspricht Ossi so gar nicht diesem üblen Klischee. Er ist ein sanfter, warmherziger Typ. Nach drei Monaten wurde er wieder freigelassen und hat dann erneut gesagt: „Ich verweigere den Kriegsdienst.“ Daraufhin kam er wieder in die gleiche Zelle und dann haben er und die anderen Gefangenen lange gestritten und diskutiert. Insgesamt saß Ossi bis 1999 über 700 Tage mit Mehmet Bal in einer Zelle. Mehmet Bal ist dann einige Jahre später entlassen worden. Als Mörder wurde er amnestiert und sollte seinen Kriegsdienst leisten. Daraufhin hat er gesagt: „Ich fasse nie wieder ein Gewehr an! Ich habe schon einen Menschen getötet, ich will nie wieder auf jemanden schießen, schon gar nicht auf Befehl!“
Also, diese zwei Jahre, die er sich die Zelle geteilt und in der er sich angefreundet hat mit dem gewaltfreien Anarchisten, haben aus dem faschistischen Mörder einen Pazifisten und Menschenfreund gemacht. Eine Wahnsinnsgeschichte.

Sevgi und Konstantin: Toll! Tolle Geschichte!

Bernd: Die Beamten, die die beiden in die gleiche Zelle gesperrt hatten, haben sicherlich genau das Gegenteil erwartet. Die haben gehofft, dass die beiden sich als Todfeinde gegenseitig zerfleischen. Aber Ossi ist eine sehr freundliche und empathische Person. Als Menschenfreund hat er es geschafft, die menschliche Seite von Mehmet Bal herauszukitzeln.

Konstantin: Da siehst du wieder, dass es in uns allen wohnt. Es funktioniert, es ist in allen da, ach, das ist toll! Da bekomme ich eine Gänsehaut bei der Geschichte.

Bernd: Die Geschichte ist stark, ja, aber leider gab es kein richtiges Happyend. Mehmet Bal ist dann als Kriegsdienstverweigerer in der Haft so gefoltert worden, dass er danach für untauglich erklärt werden musste. Also, er musste seinen Kriegsdienst nicht leisten, weil die Folter bei ihm erhebliche bleibende Schäden hinterlassen hat.

Konstantin: Was ist das für ein unglaublicher Mut, so zu etwas zu stehen?! Wenn mir manchmal Leute sagen, ich sei mutig, dann muss ich ja in Demut versinken vor so jemanden. So zu seiner Einstellung, zu seiner Idee, zu seinem Herzen zu stehen! Unglaublich. Ich kriege eine Gänsehaut.

Bernd: Ja, eine bewegende Geschichte. Im „Ja! Anarchismus“-Buch (10) findest Du ein Interview mit Ossi, da kannst Du mehr dazu nachlesen.

Konstantin: Das ist schön. Unglaublich. So wie Du es jetzt wieder erzählst, das sollte man immer wieder erzählen.
Ich merke, dass mich auch ein Teil meines Publikums verlassen hat. Das merke ich auch an Briefen, ich bekomme die unglaublichsten Hassmails: „Stell dich mit deiner Gitarre vor einen russischen Panzer…“, „Gitarre“ wohlgemerkt, die haben sehr viel Ahnung von mir, „… und lass deine verkommenen Söhne von den Russen vergewaltigen!“
Das ist eines der vielen Beispiele, aber das kommt nicht von meinem Publikum, das kommt von ganz woanders her. Aber ich merke, dass viele auch im Publikum sagen: „Ja, Frieden ist ja ganz gut, aber in der Ukraine geht es halt nicht mehr.“
Wie auch immer, ich muss dir sagen, es ist mir ehrlich gesagt gar nicht wichtig. Ich finde es schade, gar keine Frage, aber ich erinnere mich dann an eine Geschichte. Anfang der 1980er, ich war bekannt als Sänger des „Willy“ (11), als linker, politischer Sänger. Dann kam ich 1981 mit meiner Platte „Liebesflug“ heraus. Ich folgte damals einfach meiner Poesie. Auch heute finde ich, dass da wunderschöne Titel drauf sind. Da ist übrigens auch „Schafft Huren, Diebe, Ketzer her“ (12) drauf. Dann wurde ich überall verrissen: „Der linke Sänger des Willy knödelt jetzt von Liebe.“
Damals gab es ja noch kein Internet, mein Publikum hat mir damals Briefe geschrieben: „Ich zerstampfe deine Schallplatten und zerreiße deine Bücher!“ Sie sind zum Teil aufgestanden, im Konzert gegangen. Es war mir eigentlich egal, weil ich wusste, ich muss mir folgen. Wenn ich am Schluss nur noch zehn Leute gehabt hätte, dann hätte ich ja zehn Leute im Publikum gehabt. Aber ich musste mir folgen. Das ist nicht annähernd so mutig wie das Beispiel, das du erzählt hast. Aber es war ein gewisser Mut im felsenfest Stehen zu meiner Poesie und zu dem, was aus meinem Innersten heraus will und heraus muss. Das habe ich mir bis heute bewahrt. Auch wenn mich mein ganzes Publikum verlassen würde, wegen meines Pazifismus, dann wäre ich halt Künstler ohne Publikum. So ist es nun einmal. Vor allem in der Kunst dürfen wir die Idee nicht aufgeben, sie muss weiter getragen werden, diese Idee eines wirklich friedlichen Miteinanders, eines gewaltfreien Widerstandes.
Ich habe übrigens bei den letzten Malen, wo ich „Wenn unsere Brüder kommen“ (13) gesungen habe, den Text des Stückes etwas geändert: „…dann wollen wir sie umarmen“. Ursprünglich hieß es: „…dann wollen wir uns nicht wehren“. Und jetzt singe ich: „…dann wollen wir sie umarmen, gewaltfrei uns erwehren“, weil ich für Widerstand bin, ja, aber für gewaltfreien Widerstand. Und da gibt es ja ganze Bücher drüber und wunderbare Geschichten über den gewaltfreien Widerstand, auch in der Nazizeit übrigens.

Bernd: Du meinst den gewaltfreien Widerstand der Frauen in der Rosenstraße, die größte spontane Protestdemonstration in der Nazizeit. Im Februar und März 1943 verlangten „arische“ Ehefrauen aus „Mischehen“ und andere Angehörige von verhafteten Juden in Berlin, diese freizulassen.

Konstantin: Ja. Diese Idee des gewaltfreien Widerstands darf nicht sterben und als Künstler möchte ich sie weiter in die Welt hinaustragen.

Sevgi Kosan-Drücke: Du hast gestern auch „Schäm dich, Europa“ gespielt. Das ist auch ein sehr klares, aktuelles Statement zur verschärften Flüchtlingspolitik der EU. Die Medien sind voll mit Meinungsmache in Richtung „Das Boot ist voll! Wir schaffen es nicht mehr!“ Es wird gegen die Geflüchteten gehetzt. Wie engagierst du dich? Was machst du da?

Konstantin: Ich habe mich immer schon engagiert. Meine Frau war auch oft in Griechenland und ich bin den Organisationen, die sich für Geflüchtete einsetzen, sehr verbunden. Ich persönlich bin ja dauernd auf Tournee. Aber ich bin nicht nur mit dem Herzen, auch tatkräftig bei vielen Organisationen dabei, die sich für Geflüchtete einsetzen. Übrigens unterstütze ich auch Connection e.V., den antimilitaristischen Verein aus Offenbach, der sich für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer einsetzt und oft auch in der Graswurzelrevolution schreibt. Das finde ich ganz wichtig, sich für Desertierende weltweit einzusetzen. Ich habe beim Konzert gestern auch deutlich gesagt: „Ich habe einen Traum. Wir öffnen die Grenzen und lassen alle herein, jeden herein.“ Also, ich bin da sehr viel radikaler, weil ich der Meinung bin, wir brauchen und, wenn du an den Klimawandel denkst, wir dürfen keine Grenzen mehr haben. Es geht nicht mehr. Und eines müssen wir als alte Anarchos schon auch immer wieder betonen, wir müssen immer wieder darüber reden, mit welcher Gewalt die Think Tanks gegen unsere Ideen arbeiten. Die neoliberalen Think Tanks, die uns immer einreden, das sei Demokratie und, ach, wir leben ja in einem demokratischen Land, wie schön. Und insgeheim uns eigentlich dadurch verschweigen, dass wir beherrscht werden von ein paar Milliardären. Das muss schon immer wieder auch thematisiert werden.

Bernd: Stimmt. Die weltweit 2.153 Milliardäre besitzen laut einer Oxfam-Studie so viel wie 60 Prozent der Weltbevölkerung. 100 Konzerne, darunter RWE, sind für 70% der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Das wird selten thematisiert. Diese Hauptverursacher der Klimakatastrophe werden nicht angegangen.

Konstantin: Wie beim Krieg. Karl Kraus ist doch wunderbar: „Als zum erstenmal das Wort ‚Friede‘ ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrieen auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben am Krieg verdient! Wir haben den Krieg verdient!“
Es ist doch unglaublich.

Bernd: Ja, bei Rheinmetall knallen seit dem 24. Februar 2022 bestimmt jeden Tag die Sektkorken.

Konstantin: Die beste Umsatzzahl aller Zeiten.

Sevgi und Bernd: Herzlichen Dank für das schöne Gespräch!

((8)) Die 60-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Konstantin Wecker kann, inklusive Musik, gehört werden auf: https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-konstantin-wecker-musiker-aus-muenchen-240117/
((9)) Brauchen wir eine starke Bundeswehr? Anarchopazifist trifft Bundeswehr-Offizier, ZDF-Sendung „Sag’s mir“ vom 19.7.2023 mit den Gästen: Dr. Bernd Drücke, Soziologe, GWR-Redakteur und Peter Schmid, Bundeswehr-Offizier, https://www.zdf.de/kultur/sags-mir/bundeswehr-sam-100.html ; https://www.youtube.com/watch?v=Y_CecAiBVss
((10)) Siehe: Otkökü – Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Interview mit dem Totalen Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, aus: Bernd Drücke (Hg.), Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Unrast Verlag 2018, S. 251 ff.
((11)) Siehe: www.wecker.de ; https://www.youtube.com//@Weckerswelt
((12)) „Schafft Huren, Diebe, Ketzer her“, Songtext von Konstantin Wecker auf: https://wecker.de/portfolio-item/schafft-huren-diebe-ketzer-her
((14)) Konstantin Wecker: Wenn unsere Brüder kommen auf: https://www.youtube.com/watch?v=xH7pCp8MlcM