Der neueste Film von Wim Wenders, „Perfect Days“, stellt einen Toilettenputzer vor. Wir sehen modern gestaltete, teils futuristisch anmutende Toilettenhäuser, die frei im doppelten Sinn (barrierefrei und kostenlos) zugänglich sind.
Blicken wir nach Mitteleuropa, so erleben wir eine Architektur der sozialen Kälte und Ausgrenzung. Obgleich aufgrund der privatkapitalistischen Wohnungspolitik immer mehr Menschen auf der Straße leben – oder gerade deshalb –, werden öffentliche Toiletten geschlossen oder nur noch gegen Gebühren zugänglich gemacht und Parkbänke so unbequem wie möglich gestaltet. Stadtpolitik, das manifestiert sich in der Architektur, ist eine Politik nicht für und mit, sondern gegen die Armen. Die Armen und Prekären, dass sind jene, denen seit einiger Zeit verschärft sämtliche Vorurteile entgegenschlagen, die die Mittelklasse den Unterschichten gegenüber artikuliert. Früher sprach man vom „Lumpenproletariat“. Noch heute taugen die „Lumpen“ zum gesteigerten verbalen Ausdruck von Abscheu, siehe „Lumpenpazifismus“. Diesen Schichten misstraut man, verdächtigt sie der Nähe zu Kriminalität, wie sich an der zunehmenden Stadtmöblierung mit Überwachungskameras, Zäunen, elektronischen Zugangssystemen zeigt.
Mickaël Labbé argumentiert aus einer radikaldemokratischen Position heraus. Denn wie die Stadt entwickelt wird, das ist immer auch eine Frage von sozialer Teilhabe. Labbé geht es um eine „Stadt für alle“, um die emanzipatorischen Bewegungen eines „Rechtes auf Stadt“ –, schon in der Einleitung zitiert er Henri Lefebvre, einen frühen Kritiker der fragmentarisierten Stadt.
Neu sind die Versuche, die Stadt von unerwünschten Menschen zu säubern und ein vorzeigbares Image zu kreieren, nicht. Die Innenstädte zumindest der großen und für den Tourismus attraktiven Städte sind seit Jahrzehnten schon primär nicht auf die Bedürfnisse von Einheimischen, sondern auf jene der Tourist*innen zugeschnitten. Entsprechend sollen sie glänzen. Was das Postkartenbild trüben könnte, wird ordnungspolitisch bekämpft. Die Gruppe „InnenStadtAktion“ thematisierte schon in den 1990er Jahren in Hannover kritisch die Verdrängung von Obdachlosen, Drogennutzer*innen, bettelnden Menschen, Punks und Unangepassten aus dem Stadtbild. Doch das Recht auf Stadt wurde nach Labbé in der Geschichte der Städte „noch nie so systematisch und tagtäglich missachtet wie heute“ (S.22).
Ausgrenzung und Überwachung werden nicht unwidersprochen hingenommen. Die Bewegungen der Besetzungen, Occupy und die Asambleas – öffentlichen Versammlungen – in Spanien waren Initiativen für die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes, doch in den letzten Jahren wurden diese sozialen Kämpfe ruhiger, was nicht nur mit der Corona-Pandemie zusammenhängt (Labbés Buch erschien in Frankreich erstmals 2019, noch vor der Pandemie). Labbé nennt auch Protestcamps, namentlich das französische ZAD, merkt jedoch an, dass hier ein „Wir von Außenseitern“ hervorgebracht wird (S.24).
Es geht Labbé zufolge nicht um temporäre, meist mehr symbolische Besetzungen, sondern in der Zielsetzung um eine Umgestaltung der Städte zu Städten, in denen man buchstäblich wieder „Platz nehmen“ kann. Dafür muss man zuerst einmal begreifen, was am Platznehmen hindert. Labbé spricht von „urbanen Pathologien des Sozialen“, und so ist auch der erste Abschnitt seines Buches benannt. Deutlich wird hier, welches Ausmaß an Verachtung den Unerwünschten entgegenschlägt, und wie sie unsichtbar gemacht werden sollen. Allerdings hätte Labbé hier mehr auf das problematische Sicherheitsversprechen eingehen können, mit dem Vertreibung und Überwachung stets begründet werden.
Im zweiten Abschnitt des Buches geht es darum, die Kritik an der privatisierten, gesäuberten, tourismuswirtschaftlich orientieren Stadt praktisch werden zu lassen. Es geht um das Soziale, das „Wir“, das in unseren (!) Straßen und Vierteln der Enteignung (nichts anderes bedeutet die Kommerzialisierung der Städte) entgegengesetzt wird: eine emanzipatorische Transformation, basierend auf Vertrauen und gegenseitiger Hilfe anstelle von Kontrolle und Entmündigung. Offen bleibt dabei jedoch, wie ein vertrauensvoller Umgang gerade in Zeiten zunehmender sozialer Polarisierung erlangt werden kann.
Der letzte Abschnitt begibt sich auf die Suche nach den stadträumlichen Konsequenzen, den Architekturen dieser wieder angeeigneten, für alle Menschen öffentlichen Stadt. Illustriert wird dies u.a. an einem genossenschaftlichen Stadtquartier in Sao Paulo und an Spielplätzen. Gerade dieser durchaus anregende Abschnitt hätte mit vielen weiteren Beispielen ausgebaut werden können, doch vielleicht ist dies dann einmal ein separates Buch.
Der Buchreihe „Flugschrift“, in der dieser Text erschien, wird das Buch allemal gerecht, werden hier doch kurz und bündig viele Impulse für die Entwicklung einer emanzipatorischen Praxis in der Stadtentwicklung aus Perspektive der direkt Betroffenen, der Bewohner*innen und Nutzer*innen, gegeben.
Der Autor lebt lohnarbeitend und schreibend in Bremen. Er ist, nach diversen Jobber-Erfahrungen, im Brotberuf autodidaktischer Buchhändler, Antiquar, Sozialpädagoge und Autor.
Letzte Buchveröffentlichungen: Nur Lumpen werden überleben – Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive (2024); Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine (2021; mit Clemens Heni und Peter Nowak).