Nachdem am 16. September 2022 die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der islamistischen Sittenpolizei in Teheran ermordet worden ist, gab es im Iran Massenproteste und bis heute gibt es eine große sozialrevolutionäre Bewegung gegen das theokratisch-islamische Staatsterrorregime (vgl. GWR 478). Getragen wird diese „Frau-Leben-Freiheit“-Bewegung vor allem von den mutigen Iranerinnen, die sich im Alltag mit Zivilem Ungehorsam dem Kopftuchzwang und anderen frauenfeindlichen Gesetzen widersetzen und damit Folter und Ermordung riskieren. Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe zwei Zwischenberichte zur aktuellen Situation. (GWR-Red.)
Folgt man westlichen Medienkorrespondent*innen, dann läuft im Iran alles wie immer. Das Regime feiere den Jahrestag der islamischen Republik und zeige militärische Stärke durch Raketentests. Das Land bereite sich auf die Wahlen am 1. März 2024 vor und irgendwo hat man noch einen sogenannten „Reformer“ ausfindig gemacht, der sich darüber beklagt, dass sie keine Kandidaten aufstellen dürfen. Einziges Problem der Machthaber seien die Proteste der Bevölkerung.
Immer wieder wird diese Geschichte aus Sicht der Staatsmacht erzählt. Es werden Staatsmedien zitiert, die angesichts der direkten Beteiligung an Menschenrechtsverbrechen – sie filmten erzwungene Geständnisse von Gefangenen – von der EU sanktioniert sind. Dabei lohnt es sich, den Weg der Menschen im Iran zu verfolgen. Denn seit dem Beginn der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung hat sich qualitativ einiges verändert.
Der Widerstand der Frauen im Alltag
Im November sitzen der Rapper Toomaj Salehi und die Journalistin und Frauenaktivistin Sepideh Rashno in einem Cafe in Isfahan. Es könnte eine alltägliche Szene sein, der Rapper lässig mit Tattoo und Baseballcappy in weißen Turnschuhen, sie mit langen, welligen offenen Haaren. Doch das Bild hat politische Sprengkraft.
Der 33-jährige Rapper wurde gerade aus der Haft entlassen. Viele Monate saß er in Einzelhaft, seine Hände wurden ihm gebrochen. Er kann nur unter Schmerzen wieder gehen. Er sagt, über bestimmte Details der Folter kann er noch nicht öffentlich sprechen. Auch Sepideh Rashno hat Folter erlebt. Sie war im Juli 2022 verhaftet worden. Die damals 28-Jährige hatte ihr Kopftuch nicht korrekt getragen und war von einer Passantin im Bus angegangen worden. Das war noch vor dem Mord an Jina Mahsa Amini, dem Auslöser der seither andauernden „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung. Das erzwungene Geständnis von Sepideh Rashno wurde vom staatlichen Sender IRIB landesweit ausgestrahlt. Tage zuvor war sie wegen interner Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Hier sitzt eine Jugend, die sich nicht mehr sagen lässt, wen sie trifft, wie sie sich zu kleiden hat, wie sie zu leben habe. Eine Jugend, die nicht einmal durch Folter und Gewalt zum Schweigen gebracht werden kann. So jedenfalls die symbolische Kraft. Beide wurden inzwischen erneut verhaftet bzw. zu Jahren im Gefängnis verurteilt.
Auch wenn wir diese öffentlichen Bilder inzwischen ebenfalls seltener sehen, ist der Widerstand der Frauen im Alltag größer denn je. Zwischen dem heutigen Straßenbild, sei es in Teheran oder in den Provinzstädten, und demjenigen vor drei Jahren liegen Welten. Das berichten Iranerinnen und Iraner aus dem Land immer wieder. Viele Frauen tragen kein Kopftuch mehr und zeigen ihre Schulter oder bauchfrei. Sie trotzen dem enormen Druck durch Verkehrsüberwachungskameras, Kontrollen in der Metro oder der wieder patrouillierenden sogenannten Sittenpolizei.
Roya Heshmati, 34 Jahre, ist eine dieser starken Frauen. Der Name „Roya“, das bedeutet „Traum“. Sie postete in Sozialen Netzwerken vor etwa einem Jahr ein Bild von sich mit offenen Haaren. Dafür wurde sie zu 74 Peitschenhieben verurteilt. Als sie am Eingang zur Staatsanwaltschaft steht, will ihr Anwalt sie vom Betreten abbringen. „Roya, bitte denken Sie noch einmal darüber nach. Die Narben der Peitschenhiebe werden noch lange Spuren hinterlassen.“ Sie nimmt ihr Kopftuch ab und betritt das Gebäude des 1. Zweig der Strafvollstreckungsbehörde. Die Aufforderung den Hijab anzulegen wird mehrfach wiederholt. Sie antwortet: „Ich bin hergekommen, um dafür ausgepeitscht zu werden. Ich werde es nicht tragen.“
Im Keller öffnet sich eine Eisentür. Ein Bett mit Handschellen. In der Mitte des Raumes ein eisernes Gerät mit rostigen Eisenbändern. Ein Tisch mit verschiedenartigen Peitschen bestückt. Zwei Frauen fesseln sie, legen ihr das Kopftuch über und ein Richter vollstreckt.
Sie lässt sich die Schmerzen nicht anmerken. Während der Hiebe singt sie leise flüsternd: „Im Namen der Frau, im Namen des Lebens. Wir zerreißen die Kleider der Sklaverei, unsere schwarze Nacht wird in der Dämmerung verschwinden, alle Peitschen werden abgeschafft.“ Es handelt sich um den persischen Text zum chilenischen Revolutionssong „El Pueblo Unido“. Das Lied wurde durch Studierende der Kunsthochschule in Teheran neu vertont und von den Studierenden der Sharif-Universität gesungen.
Die Frauenrechtsaktivistin Narges Mohammadi hat die Berichte von Folter und Vergewaltigungen in iranischen Gefängnissen öffentlich gemacht. Für ihre Arbeit erhielt sie 2023 den Friedensnobelpreis. Sie sitzt weiterhin in Haft und gehört zu denjenigen Frauen, die aus dem Gefängnis heraus politisch aktiv sind. Ihre Gefängniszelle im Evin-Gefängnis von Teheran teilte sie sich mit der inhaftierten Kölnerin Nahid Taghavi. Gegen die massenhaften Hinrichtungen in iranischen Gefängnissen gehen derzeit 60 Frauen im Frauentrakt des Evin-Gefängnisses jeden Dienstag in den Hungerstreik. Viele Aktivist*innen landesweit schlossen sich dem an.
Gerade zum Weltfrauentag am 8. März sollten wir uns ihrem Kampf anschließen. Dieser Kampf der Frauen im Iran für eine freie Gesellschaft hat historische Bedeutung. Am 8. März 1979, kurz nach der Ausrufung der Islamischen Republik, kamen 100.000 Frauen gegen das neue Regime auf die Straße. Dieser Kampf für Freiheit, Selbstbestimmung, für Meinungsfreiheit und Demokratie, den die Frauen anführen ist ein Knackpunkt des Islamischen Regimes. Die systematische Unterdrückung und Gehirnwäsche im Iran zieht sich durch alle Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Universität. Schon ihr Ende kann ohne Zweifel das Ende des Islamischen Regimes geführt von alten, greisen Männern einläuten. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen in wirtschaftlichen und sozialen Fragen.
Arbeitskämpfe und Wahlboykott
Die Arbeiter im Stahlwerk „Nationalstahl“ von Ahwaz protestieren weiter. Im Dezember hatten sie bei einem zehntägigen Streik, bei dem sie sogar ihren Manager vom Hof jagten, eine Tarifvereinbarung durchsetzen können und dem Druck und den Drohungen der Sicherheitskräfte und Geheimdienste gegen Arbeiteraktivisten Widerstand geleistet. Am 24. Januar 2024 traten sie erneut eine Woche in den Streik, um gegen Verzögerungen bei der Umsetzung anzugehen. Im Februar setzten sie ihren Protest fort. Sie riefen: „Hoch auf den Arbeiter, Nieder mit dem Unterdrücker! Stellen sie unsere Geduld und Ausdauer nicht auf die Probe. Wir sind gehärteter Stahl“.
Bei einer Demonstration durch die Stadt Ahwaz riefen sie: „Wir sehen keine Gerechtigkeit, also gehen wir nicht zur Wahl.“
Boykottaufrufe gab es auch bei vergangenen Wahlen. Allerdings sind die Stimmen reformistischer Kräfte nahezu verstummt. Tatsächlich zeigt eine Anfang Februar 2024 veröffentlichte Umfrage des niederländischen Gamaan-Institutes, dass ein Großteil der iranischen Bevölkerung an den Parlamentswahlen nicht teilnehmen wird. 77 Prozent der aus allen Landesteilen stammenden 60.000 Befragten gaben an, nicht teilnehmen zu wollen. Nur 15 Prozent wollten sicher wählen gehen. Seit einer Umfrage im Juli 2023 haben sich damit noch einmal 9 Prozentanteile der Unentschlossenen inzwischen dagegen entschieden. 39 Prozent sind derart uninteressiert, dass sie den Wahltermin nicht einmal kennen. Auf die Frage: „Wenn heute ein freies Referendum stattfände: Islamische Republik – Ja oder Nein!“, antworteten 75 Prozent, dass sie mit Nein stimmen würden. 9 Prozent blieben unentschlossen.
Die Stahlarbeiter in Ahwaz sind mit ihren Streiks nicht alleine. Es protestieren Arbeiter in der Öl- und Gasindustrie, bei Stahlproduzenten etwa in Isfahan und Autozulieferern wie IranTire. Die Pensionäre in den Bereichen Telekommunikation, Verwaltung und Ölindustrie protestieren seit über einem Jahr täglich unter anderem gegen den Griff des Staates in die Kassen der Pensionsfonds. Es protestieren Ärztinnen und Ärzte, Praxis- und Apothekenpersonal und Krankenpfleger*innen, die Studierenden gegen Kürzungen der Sozialleistungen, Miet- und Essenspreiserhöhungen. Bus- und Taxifahrer streiken ebenso immer wieder, wie Lehrer*innen und die Bauern der Provinz Isfahan. Im Dezember streikten die Goldhändler landesweit gegen Steuererhöhungen. Städtische Angestellte in Teheran streikten gegen Steuererhöhungen und Lohnkürzungen. „Komm runter, Bürgermeister!“, riefen sie empört vor dem Hauptgebäude.
Im Kern dieser Auseinandersetzungen geht es um die Umwälzungen der Lasten eines bankrotten Regimes auf die Bevölkerung im Land. Mit der revolutionären Bewegung im Iran muss das Regime immer mehr Geld für den Repressionsapparat, Revolutionsgarden und Propaganda ausgeben. Für das Haushaltsjahr 2024/25 soll der Etat des staatlichen Rundfunks IRIB auf umgerechnet 5,3 Mrd. Euro verdreifacht werden. Man befinde sich in einem „Medienkrieg“, meinten Parlamentsvertreter. Die Schieflage im Staatshaushalt wird durch die Druckmaschinen der iranischen Zentralbank ausgeglichen. Dies heizt die Inflation an, welche schon zwei Jahre in Folge bei etwa 50 Prozent liegt. Die Devisenreserven des Iran sind inzwischen laut IWF auf 21 Mrd. US-Dollar zusammengeschrumpft.
Soziale Bewegungen im Iran
Im Iran treffen viele Bewegungen zusammen. Auch die Umweltbewegung macht sich lautstark bemerkbar. Im Dezember 2023 protestierten mehrere Tage lang Tausende in der kleinen, konservativen Stadt Ardakan in der Provinz Yazd gegen Umwelt- und Luftverschmutzung und auch die Bewohner*innen von Arak versammeln sich aktuell wieder gegen den winterlichen Smog. Im Nordiran kämpfen die Menschen seit Jahren für den Erhalt des Urmia-Sees. Die Hitze und Trockenheit hat dieses Jahr selbst für iranische Verhältnisse ein Rekordniveau erreicht. Viele Umweltaktivist*innen sitzen im Gefängnis.
Die Fußballfans der Teheraner Traditionsvereine Persepolis und Esteghlal protestierten vor dem Sportministerium gegen unfähiges, staatlich eingesetztes Management. Die Opfer von Korruptionsskandalen versammeln sich wöchentlich, um die Rückzahlung ihrer Investitionen zu verlangen.
Alle diese Proteste, auch die weithin sichtbare Frauenbewegung, haben verbindende Elemente, weshalb sie dem islamischen Regime jederzeit gefährlich werden können. Das Wissen um die allgemeine Ablehnung des Regimes eint sie.
Trotz der Repressionen trauen sich mehr Menschen ihren Protest öffentlich zu äußern oder im Alltag die strikten islamischen Gesetze zu brechen. Es fehlt nicht an Gemeinsamkeiten, eher an Organisierung und Strategie. Vielfach macht sich Enttäuschung breit. Laut Gamaan glaubt nur ein Drittel der Befragten noch, dass die Proteste auch etwas bringen.
Dabei gibt es Ansätze, die Solidarität und Zusammenarbeit zu stärken, und unter dem Radar neue Netzwerke zu schaffen. Wichtige Persönlichkeiten aus der Kultur besuchten die Familien von Politischen Gefangenen und Opfern der bei Protesten verübten Polizeigewalt.
Der sunnitische Prediger von Zahedan, Mulavi Abdulhamid, forderte öffentlich die Einhaltung der Menschenrechte, Gerechtigkeit für die iranische Nation, Meinungs- und Redefreiheit etwa für Journalist*innen und die Freiheit aller Politischen Gefangenen. Die weiterhin aktiven Menschen in Belutschistan solidarisieren sich mit den Kurd*innen. Der im Januar 2024 unter Folter ermordete 18-Jährige Belutsche Sepehr Shirani hatte auf Instagram ein Bild von der Großdemo in Zahedan veröffentlicht. Er schrieb: „Wenn die Belutschen und Kurden Separatisten wären, dann würden sie gegen den Iran kämpfen und nicht für den Iran!“
Es ist ein Verdienst dieser revolutionären Bewegung, dass Grenzen zwischen den Bevölkerungsteilen überwunden wurden.
Die Situation der politischen Gefangenen und von Hinrichtung bedrohten Menschen in den Gefängnissen ist dagegen niederschmetternd. Obwohl es in der Geschichte der islamischen Republik einmalig ist, wie der Widerstand in den Gefängnissen und sogar massive Proteste gegen Hinrichtungen vor den Gefängnissen stattfinden, konnte die derzeitige Hinrichtungswelle zwar verzögert, aber nicht verhindert werden. Ein besonderes Signal setzten gerade die Kurd*innen. Nach der Hinrichtung von vier Gefangenen Ende Januar führten sie erfolgreich einen eintägigen Streik im Einzelhandel durch, bei dem in mindestens 15 Städten sämtliche Geschäfte und Bazare geschlossen blieben. Die Abschreckungsstrategie des islamischen Regimes kann so durchbrochen werden.
Das gilt auch für Europa und die Bundesregierung. Es fehlt weiterhin an konsequentem Handeln. Das Europäische Parlament hat im November 2023 seinen Beschluss bekräftigt, dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste gesetzt werden müssen. Die EU-Kommission und Staatsregierungen ignorieren diesen Beschluss jedoch. Zwar fand im November eine Großrazzia im Islamischen Zentrum in Hamburg statt. Seither herrscht aber Stille. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich gegenüber der Presseöffentlichkeit überhaupt noch nicht zum Iran geäußert und auch der Außenministerin Annalena Baerbock kommen außer gelegentlichen Tweets kaum Kritik am Regime über die Lippen. Stattdessen treffen sich die Vertreter*innen europäischer Regierungen und der UN regelmäßig mit Regimevertretern. Iran übernahm bei der UN den Vorsitz des Menschenrechtsforums. Handshakes gab es auch beim UN-Flüchtlingsforum in Genf. Die sanktionierte staatliche Nachrichtenagentur IRIB konnte live von Palästina-Protesten in Berlin berichten und iranische Firmennetzwerke unter anderem in Düsseldorf teilweise mit Verbindungen zu iranischen Geheimdienstmitarbeitern und dem Mykonos-Attentat können weiterhin in Deutschland ihre Geschäfte machen und staatliche iranische Gelder verschieben.
Enttäuschung breitet sich daher auch in der iranischen Community in Deutschland über das Handeln der Bundesrepublik aus. Dabei ist das größte Problem, dass dem islamischen Regime weiterhin Legitimität zugesprochen wird, während die Opposition inner- und außerhalb des Landes wenig Gehör findet oder Unterstützung erhält. Das muss nicht so bleiben. Ein Zurück zum Zustand vor der #IranRevolution kann es weder im Iran, noch hier geben. Wir können uns von den mutigen Iranerinnen und Iranern dabei etwas abschauen und Verbindungen schaffen zwischen Menschen, die bisher nicht zusammenarbeiteten und ihre Perspektive stärken.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.