memorial

Forscher und Aktivist für den Frieden

– ein Nachruf auf Johann Galtung

| Armin Scholl

Beitraggaltun

Der am 24. Oktober 1930 in Oslo geborene Soziologe, Politologe und Mathematiker Johan Galtung war ab 1969 der erste Professor für Friedens- und Konfliktforschung. 1987 wurde er mit dem alternativen Nobelpreis Right Livelihood Award ausgezeichnet. Am 17. Februar 2024 ist Galtung in Bærum (Norwegen) gestorben. Seine Bedeutung auch für die Graswurzelrevolution (1), die Medien- und Kommunikationswissenschaft beleuchtet Armin Scholl in seinem kritischen Nachruf. (GWR-Red.)

Im Alltag wird Gewalt in erster Linie als körperlich (von Schlägen bis zur Tötung), psychisch (Bedrohung, Mobbing, Stalking) oder sprachlich (Hassrede, Diskriminierung) von einzelnen Personen gegenüber anderen verstanden. Dieses Verständnis ist berechtigt, greift aber zu kurz, denn Gewalt kann auch von gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen. Das können restriktive Gesetze sein, die Minderheiten benachteiligen, Herrschaftsverhältnisse, die bestimmte Bevölkerungsgruppen unterdrücken – kurz: strukturelle Faktoren. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat in den 1960er und 1970er Jahre auf diese Dimension von Gewalt hingewiesen und ihnen den Namen „strukturelle Gewalt“ gegeben. Demnach ist Gewalt bei Kriminalität oder Kriegen eben nicht nur die direkte, von Angesicht zu Angesicht ausgeübte Gewalt. Darunter gehören immer auch die gewaltsamen gesellschaftlichen Verhältnisse, die für Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit sorgen, die Kriminalität oder Kriege überhaupt erst ermöglichen. Mit dieser neuen Ausrichtung der Gewaltforschung wurde die wissenschaftliche und die politische Analyse von Gewalt und Gewaltverhältnissen deutlich erweitert. 1959 gründete Galtung das Peace Research Institute Oslo (PRIO) und fünf Jahre später das wissenschaftliche Journal of Peace Research. (2)
Das ist nicht das einzige Verdienst von Galtung. Er hat sich auch um die Bekämpfung von Gewalt, individuell, also im kleinen Kreis, sowie gesellschaftlich, also im schlimmsten Fall bei Kriegen, verdient gemacht. 1993 gründete er das weltweite Netzwerk Transcend International, das seit 2008 auch den Transcend Media Service, einen wöchentlichen Newsletter für lösungsorientierten Friedensjournalismus, herausgibt. (3)
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Konflikten und Gewalt wandte er methodisch (Trans-cend-Methode) bei zahlreichen Mediationen in Konfliktfällen und Konfliktregionen im Auftrag der Vereinten Nationen an. (4) Weiterhin war Galtung Ideengeber für das Konzept der sozialen Verteidigung, wie der Bund für Soziale Verteidigung in seinem Nachruf (5) würdigt. Denn oft lassen sich gewalttätige Konflikte, insbesondere bei militärischer Überlegenheit einer Seite, nicht allein durch Mediationen lösen.
Schon früh interessierte sich Galtung auch dafür, worüber und wie die Medien berichten. Es ist kein Zufall, dass Gewalt und Kriege Themen sind, über die bevorzugt berichtet wird, wohingegen diejenigen, die Konflikte friedlich lösen, oft keiner Nachricht wert sind. Später hat Galtung aus seiner Studie über die Nachrichtenwerte in der Auslandsberichterstattung von 1965 die praktischen Lehren gezogen und das Konzept des Friedensjournalismus entwickelt. Am herkömmlichen Mainstream-Journalismus kritisiert er, dass die Medien über Kriege nach dem militärischen Gewinn-Verlust-Schema berichten. Außerdem gehen sie oft der Propaganda der Militärs auf den Leim, insbesondere wenn es die Militärs eines „befreundeten“ oder des eigenen Landes sind. Dagegen wird die Propaganda des Gegners professionell als solche entlarvt. Diese Aufdeckung und Kritik an der Propaganda entspricht dann zwar dem professionellen Auftrag von Massenmedien, ist aber einseitig und genau deshalb ideologisch. Fast immer geht es in der Berichterstattung darum, wie und von wem ein Krieg gewonnen werden kann.
Diesem Verständnis stellt Galtung seine Vorstellung eines echten Friedensjournalismus entgegen, wonach Krieg niemals die Lösung eines Konflikts sein kann. Dementsprechend gibt es auch keinen gerechten Krieg, selbst wenn der Aggressor eindeutig feststeht. Friedensjournalismus lässt sich also nicht einbinden und auf die eine oder andere Seite ziehen, sondern nimmt immer zuerst die zivilen Opfer in den Blick. Übrigens sind auch Soldat*innen nicht nur Täter*innen, weil sie töten, sondern gleichermaßen Opfer, weil sie von Regierungen und Militärbefehlshabern in den Krieg geschickt und selbst getötet werden. Zur Aufgabe des Friedensjournalismus gehört auch die Berichterstattung über Konflikte, die noch nicht gewaltsam ausgeartet sind. Dies erfordert eine vorausschauende Sichtweise, denn in einem frühen Stadium eines Konfliktes können friedliche Lösungen noch eher durchdringen als später, wenn die „Fronten“ schon verhärtet sind. Deshalb spricht man auch von „konfliktsensitivem“ Journalismus. (6)
Damit ist Galtungs Konzept auch eine von vielen theoretischen Wurzeln für das Selbstverständnis der Graswurzelrevolution. Sie praktiziert Friedensjournalismus sehr konsequent, versteht Kriege nicht als Mittel zur Lösung von Konflikten, sondern als Teil des Problems. Friedensjournalismus verlangt die konsequente Berichterstattung über friedliche Konfliktlösungen, über aktivistische Gruppierungen, die sich für friedenserhaltende oder friedensschaffende Maßnahmen engagieren. Damit steht der Friedensjournalismus nicht nur an der Seite der Opfer, sondern ist auch lösungsorientiert – und zwar jenseits einer kriegerischen „Lösung“.
Galtungs Forderung nach Friedensjournalismus ist eigentlich an die Mainstream-Medien gerichtet, da sie viel mehr Einfluss haben als die reichweitenschwachen Alternativmedien. Man könnte diese Hoffnung als idealistisch oder realitätsfern abtun, weil die etablierten Medien auch „Kriegsgewinner“ sind; weil die Einschaltquoten, die Klickzahlen, die Verkaufszahlen steigen. Bei den Mainstream-Medien arbeiten aber viele professionelle Journalist*innen mit viel Sachkenntnis, die für vernünftige Argumente offen sind. Trotzdem fallen die Mainstream-Medien immer wieder in das militärische Freund-Feind-Schema zurück, weil sie aus ihren Mechanismen nicht rauskommen. Sie verfallen immer wieder in alte Muster. Friedensjournalistische Ansätze, die zivile Opfer in ihrem Leid porträtieren, die investigativ die Lügen der militärischen Propaganda aufdecken und Kritik an der Regierung üben, bleiben in der Minderzahl. Eine Zeitschrift wie die Graswurzelrevolution hat nicht die finanziellen Mittel und personellen Ressourcen, diese investigative Aufgabe permanent und schon gar nicht weltweit zu leisten. Dennoch finden wir hier nahezu alle Ansprüche realisiert, die Galtungs Friedensjournalismus fordert.

Galtungs Konzept ist auch eine von vielen theoretischen Wurzeln für das Selbstverständnis der Graswurzelrevolution. Sie praktiziert Friedensjournalismus sehr konsequent, versteht Kriege nicht als Mittel zur Lösung von Konflikten, sondern als Teil des Problems.

Bei so viel Verdiensten für Frieden und Gewaltprävention muss jedoch auch eine Problematik angesprochen werden, die mit Johan Galtung verbunden ist. Er ist im fortgeschrittenen Alter durch einige antisemitische Äußerungen im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinenser*innen negativ aufgefallen. Selbst wenn er sich gegen den Vorwurf gewehrt hat, antisemitisch argumentiert zu haben, sind einige seiner Positionen doch verstörend. (7) Wer sich mit den berühmten Theoretiker*innen des Anarchismus beschäftigt hat, wird nachvollziehen können, dass solche Verstörungen öfter vorkommen. Der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, der im 19. Jahrhundert ein wichtiger Wegbereiter des modernen Anarchismus war, war gleichzeitig auf eine geradezu absurde Weise frauenfeindlich und antisemitisch.
Man sollte also bei aller Bewunderung für die Leistung von Johan Galtung für den Frieden und für den Friedensjournalismus keine unkritische Haltung der Heldenverehrung entwickeln, wofür Nachrufe manchmal etwas anfällig sind. Aber das dürfte im anarchistischen Selbstverständnis sowieso kein Problem sein. Dass Johan Galtung das hohe Alter von 93 Jahren erreichen durfte und dass er wissenschaftlich und politisch viel Positives bewirkt hat, sollte genug Anlass zur Würdigung sein.

(1) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/?s=Johan+Galtung
(2) Mehr Infos dazu in: https://www.prio.org/news/3505
(3) Weitere Informationen finden sich auf der Webseite von Transcend im Nachruf auf Galtung: https://www.transcend.org/tms/2024/02/memorial-prof-johan-galtung-24-oct-1930-17-feb-2024-rip/
(4) Mehr Informationen und Beispiele in: https://www.galtung-institut.de/de/home/johan-galtung/ und in: https://www.peace-ed-campaign.org/remembering-a-voice-for-peace-johan-galtung-1930-2024/
(5) https://www.soziale-verteidigung.de/artikel/johan-galtung-verstorben
(6) Grundlegende Informationen und Weiterführungen unter: https://journalistikon.de/friedensjournalismus/
(7) Beispiele für antisemitische Äußerungen sind nachzulesen im Wikipedia-Artikel über Galtung (https://de.wikipedia.org/wiki/Johan_Galtung) oder in der taz (https://taz.de/Eine-Besichtigung-linker-Scharmuetzel/
!5056306/).

Armin Scholl ist Journalismusforscher und Professor für Kommunikationswissenschaft. Im März 2024 erschien unter dem Titel „Vielfalt, aber kein Durcheinander“ in der GWR 487 (Libertäre Buchseiten) seine Rezension über das Buch „anarchistische gesellschaftsentwürfe“ aus dem Unrast-Verlag.

 

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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