Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Viele schon lange existierende Probleme harren noch immer einer Lösung, neue sind dazugekommen. Manche liegen in der Politik begründet, andere im Wirtschaftssystem. Es knirscht. Da macht der Mensch sich natürlich Gedanken.Manche erinnern an die „gute alte Zeit“, in der es zumindest noch den Zivildienst gab. Da haben doch die Kriegsdienstverweigerer auch so schön die Alten im Rollstuhl mit der Schnabeltasse gefüttert. Und das habe nicht nur den Alten gefallen, auch für die Zivildienstleistenden sei das ein wahrer Segen gewesen.
So einfach ist das. Ist es aber eben gerade nicht, denn anstatt Entscheidungen zu hinterfragen, die die Probleme hervorbringen, werden die Jugendlichen dafür verantwortlich gemacht. Es fehle ihnen an „Gemeinsinn“. Da hat man dann auch schon die Lösung parat: soziales Pflichtjahr, Bürgerjahr oder auch eine soziale Pflichtzeit, je nach Autor:in.
Die Frage, ob der Staat für die Menschen da ist oder ob die Menschen Untertanen des Staates sind, wird mit dem Argument, dass die Jugendlichen „auch mal ´was für die Gesellschaft leisten sollen“ in reaktionärer Weise beantwortet. Der Staat ordnet an, der Bürger, die Bürgerin hat zu dienen.
Viele sind dafür
Die damalige Militärdienstpflicht galt nur für Männer. Das hat der Feminismus um Alice Schwarzer kritisiert und damit Erfolg gehabt. Nun dürfen auch Frauen „gleichberechtigt“ Kriegsdienst leisten. Und auch von einer neuen Dienstpflicht sind sie sicher nicht ausgeschlossen.
Im Kern kommt die Debatte aber von alten weisen (!) Männern, die es aus ihrer subjektiven Sicht „gut mit der Jugend meinen“. Es ist unverkennbar, dass dabei die traditionellen Rechten noch immer die positiven Auswirkungen des Reichsarbeitsdienstes vor Augen haben. Harte Arbeit habe noch nie geschadet. „Nicht alles am Faschismus war schlecht, siehe Autobahnen und Reichsarbeitsdienst.“ Dann aber haben sich immer mehr aus dem mittleren politischen Spektrum angeschlossen und inzwischen kommen auch immer mehr Stimmen von links, die zwar im Prinzip das Gleiche fordern, aber eben mit Abfederung, damit es nicht mehr so aussieht.
Von der Idee einer allgemeinen Dienstpflicht sprach erstmalig der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU), 1993, bei einer Kommandeurstagung der Bundeswehr. (Freitag – 10.3.22) Das war kurz nach der „Wende“, denn da wusste man nicht wohin mit den vielen Soldaten. Dann war es wieder ein Bundespräsident, Horst Köhler (CDU), der 2006 beim Besuch einer Schule in Berlin-Neukölln befand, dass in der Schule das Soziale zu kurz komme. Er setzte sich dann nicht folgerichtig dafür ein, es in den Lehrplan zu integrieren, sondern plädierte für eine soziale Pflichtzeit. Auch er war damals noch ein einsamer Rufer. Mit der Aussetzung des Militärdienstes endete auch der Zivildienst, da war es dann die Parteikollegin, die damalige CDU-Generalsekretärin, spätere Militärministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich 2010 erneut für die Idee einsetzte, die dann ebenfalls versackte. Nun ist es wiederum ein Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier (SPD): „Aus Sorge um die Demokratie habe ich eine soziale Pflichtzeit vorgeschlagen.“ Was Zwangsarbeit mit Demokratie zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht; aber er will ja auch nur eine Debatte darüber, wie er sagt. Wer es glaubt, ist selber schuld. „Was mich besonders freut, ist, dass die Debatte über meinen Vorschlag deutlich Schwung aufgenommen hat … Das stimmt mich optimistisch. Ich bleibe an der Sache dran.“ (SZ – 13.1.24)
In der Tat gibt es inzwischen viele Befürworter einer Dienstpflicht. Z. B. Olaf Scholz, Bundeskanzler, SPD, der, wie üblich, keine klare Stellung bezieht, sondern nur das Problem benennt: „Die Aussetzung der Wehrpflicht hat auch bei den sozialen Trägern große Lücken gerissen, weil der Zivildienst gleich mit abgeschafft wurde.“ Als ehemaliger Zivildienstleistender weiß er natürlich um die „große Lücke“, die er damals im Altersheim hinterlassen hat. Da stellt sich die Frage, wenn es ihn so besorgt, warum er nicht Altenpfleger geworden ist, oder wenn er diese Lücke durch sein politisches Engagement schließen wollte, warum er es dann nicht getan hat und sie noch immer existiert?
Prominente, und solche die es gerne werden wollen, tun sich als Befürworter hervor, bekommen breiten Raum in den Medien – und alle meinen es gut mit der Jugend: Bernhard Schlink (Schriftsteller), Juli Zeh (Schriftstellerin), Ulrich Wickert, Fernsehjournalist (†), Heribert Prantl (Jurist, Süddeutsche Zeitung), Michael Schöllhorn, Vorstand des Rüstungskonzerns Airbus (für „ein Bürgerjahr“, „bei dem auch die Wehrpflicht eine Möglichkeit wäre“) … – und immer wieder PolitikerInnen: SPD-Fraktions-Vize Dirk Weise („mindestens drei Monate“), CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann („für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr“), die Wehrbeauftragte Eva Högl, SPD (für „verpflichtendes Dienstjahr“), Militärminister Boris Pistorius, SPD (hält die Diskussion „für wertvoll“).
Zu den moderateren, wenngleich entschiedenen Verfechtern gehört Arnd Pollmann, Professor für Ethik und Sozialphilosophie aus Berlin. (Freitag, 26.1.24) Er sieht wie „Neukölln“ vermüllt wird und ist angewidert. „Appelle an den Gemeinsinn helfen da wenig.“ Zugleich werden heutzutage „zivile Pflichten, etwa in Bezug auf Pflegenotstände oder Landesverteidigung … abgelehnt.“ Es ist schon arg, dass Jugendliche „wenig Lust verspüren, auf ‚Chillen’ zu verzichten“. Wie „das unbeliebte Zahlen von Steuern, für das solidarische Gesundheitssystem oder die Landesverteidigung: persönlich oft eine Zumutung, aber leider vernünftig.“
Er sieht für die Idee keine allzu große Bereitschaft, darum: „Ein ganzes Jahr muss es nicht sein.“ Bezahlt werden sollte die Dienstpflicht „wie ein Job, nicht wie ein Praktikum“. Das Wort „Pflicht“ gefällt ihm nicht, er will es gerne vermeiden, will mit „positiven Anreizen“ werben, wie „Boni bei der Aus- und Weiterbildung, bei der Studienplatzsuche, Rentenansprüchen, Kulturgutscheine“. So „kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein“ und zu „einer stilistischen Transformation bürgerlicher Umgangsformen – vor allem zu mehr Takt und Rücksicht – führen“. Da ist er wieder, der bekannte Erziehungsgedanke – und dann wird hoffentlich auch Neukölln wieder sauber.
Wenige dagegen und unentschieden
Nun, es gibt zwar nicht viele, aber doch ein paar GegnerInnen einer Dienstpflicht. Der bekannteste Gegner ist einer, von dem ich es wirklich nicht erwartet hatte: Dieter Hackler, CDU, ehemals Bundesbeauftragter für den Zivildienst. (Evangelische Verantwortung, Hg. Ev. Arbeitskreis der CDU/CSU Nr. 7+8 1922)
Frank-Walter Steinmeier (SPD): „Aus Sorge um die Demokratie habe ich eine soziale Pflichtzeit vorgeschlagen.“ Was Zwangsarbeit mit Demokratie zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht
Seine Argumentation ist erstmal die übliche: Er ist in „Sorge um die fehlenden und nachlassenden Bindekräfte und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft“. Er sieht rückblickend, dass die meisten Zivildienstleistenden „ihren Dienst als Lernort und damit als hilfreich für ihre persönliche Entwicklung wahrgenommen und gleichzeitig sehr viel für konkrete Bürgerinnen und Bürger und für unsere Gesellschaft geleistet“ haben. Auch er hat das Aussetzen der Militärdienstpflicht „sehr bedauert“. Aber er weiß auch aus der Praxis: „Fast die Hälfte der Dienstzeit wurde (zuletzt) mit Anleitung, Ausbildung und Qualifizierung gefüllt, dazu kam der Urlaubsanspruch, sodass die verbleibende effektive Dienstzeit in keinem sinnvollen Verhältnis zum personellen Aufwand gestanden hat.“ „Bei 800.000 Frauen und Männern, die in einem Jahrgang der Dienstpflicht unterliegen, sind wir leicht bei 50.000 Stellen für die Ausbildung und Begleitung. Personal, das in den sozialen Einrichtungen gegenwärtig nicht zur Verfügung steht und für das es auch keine Finanzierung gibt.“ Deswegen würde eine Dienstpflicht von den Wohlfahrtsverbänden „vorsichtig formuliert, nicht befürwortet“. So wie die Bundeswehr die Feldjäger hat, so schreibt er, wäre auch die Zusammenarbeit mit der Polizei nötig, „wenn jemand sich dem Dienst entziehen sollte“. Da weist er auf einen wichtigen Punkt hin. „100.000 Dienstpflichtige kosten nach seiner Berechnung „1 Milliarde Euro pro Jahr“. 800.000 würden keine Steuern bezahlen, diese Einnahmen würden dem Staat entgehen, er hätte enorme Ausgaben und dem Arbeitsmarkt würden dringend gebrauchte Arbeitskräfte entzogen. Schön, dass das mal jemand von der finanziellen Seite her betrachtet.
Keine offene Unterstützung gibt es von der FDP – sie stört sich an dem damit verbundenen Zeitaufwand, der die Karriere stört. Marco Buschmann, FDP, Bundesjustizminister: Das wäre eine „Enteignung von Lebenszeit“ und passe „auch volkswirtschaftlich nicht in eine Zeit des Arbeitskräftemangels“.
Bettina Stark-Watzinger, FDP, Bildungsministerin: Sie wäre „ein staatlicher Eingriff in den Lebenslauf“. „Ein Pflichtdienst wird nicht besser, wenn man aus einem Jahr drei Monate macht.“ Junge Leute waren „die Hauptleidtragenden der Pandemie und brauchen „deshalb nicht noch eine Pflichtzeit oben drauf.“
Und der Chef: Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht darin „Freiheitsentzug“, „Volkserziehung“ und „Verschwendung von Lebenszeit“. Er weiß es noch von seinem Zivildienst.
Die Grünen stört dagegen vor allem der Begriff „Pflicht“. So z. B. Lisa Paus, Bundesfamilienministerin, und Annalena Baerbock, Außenministerin: Es sei „absolut richtig“, „dass der Verteidigungsminister intensiv darüber nachdenkt, wie wir … die … nötige Zahl von Soldatinnen und Soldaten garantieren können“. „Die Wehrpflicht … nur für Männer, das wäre heute nicht mehr möglich.“ Die Zivildienstlücke „klafft in der Pflege, in Kitas, in vielen anderen sozialen Bereichen“. „Wie können wir Freiwilligendienste und Bundeswehr über Anreize attraktiver machen?“ „Es muss ja nicht automatisch eine Pflicht sein.“ (FR – 3.2.24)
Es ist auffällig, dass es kaum Stellungnahmen von den Betroffenen dazu gibt. Von den Jugendlichen kommt zumeist die Antwort, dass erst einmal die Alten – die hätten dafür die Zeit – etwas Soziales für die Gesellschaft tun sollten. Eine junge Frau auf Zeit-online: „Ich glaube, der Kontakt zu Jüngeren würde ihnen guttun.“ Leider ist das eine grundsätzliche Zustimmung.
Einen klaren Standpunkt formulierte dagegen die gerade ausgeschiedene Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal. Sie findet die Idee „abwegig“ und fordert stattdessen „mehr Geld, mehr Plätze und eine bessere, attraktivere Gestaltung von Freiwilligendiensten“.
Stellungnahmen von Wohlfahrtverbänden und Gewerkschaften sind mir nicht bekannt.
Lediglich von der Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Geschäftsführer Jan Gildemeister – 30.3.22: In den ehemaligen Zivildienst-Einsatzstellen arbeiten heute Freiwillige, „die deutlich motivierter sind, als es damals viele Zivildienstleistende waren“.
Probleme und Antworten
Wie schon in der Stellungnahme von Hackler hervorgehoben, ist die Einführung einer Zwangsarbeit aus Sicht der Rentabilität für den Staat eine heikle Angelegenheit. Auch wenn in der Debatte offen bleibt, wer sie nun konkret und wie lange leisten soll, so ist doch klar, dass es sich um eine zusätzliche erzieherische Maßnahme für Jugendliche dreht. Der Staat habe so viel Gutes für die Jugendlichen getan, muss sich nun um den Ukrainekrieg kümmern, da fehlt ihm natürlich das Geld. Und darum sollen Jugendliche die „großen Lücken“ füllen. Aber die Situation ist nicht danach: Heute herrscht keine Jugendarbeitslosigkeit, wie 1929. Im Gegenteil: Derzeit gibt es 700.000 offene Stellen, Arbeitskräfte werden „händeringend“ gesucht. Und letztes Jahr konnten über 200.000 Lehrstellen nicht besetzt werden. Schon von daher passt die Idee nicht zur Realität.
Und wie Hackler ausführt: Je kürzer der Dienst, desto mehr Aufwand und weniger Nutzen bringt er; von daher ist also nicht damit zu rechnen, dass es z. B. einen dreimonatigen Arbeitsdienst geben wird.
Mindestens ebenso gewichtige Ablehnungsgründe sind juristische, auf die seit Jahren Stefan Philipp (DFG-VK) insistiert und der darüber zu dem Schluss kommt, dass die Verfechter „Verfassungsfeinde“ sind (zuletzt in ZivilCourage Nr. 3 2023). In der Tat: Zwangsarbeit ist nach dem Grundgesetz verboten – eine Folge der selbigen im Faschismus. Sie ist auch verboten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) sowie dem EU-Recht. Folglich kann aussichtsreich dagegen geklagt werden.
In Art. 12 Abs. 2 GG ist festgelegt, dass niemand „zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden“ darf.
Auch die IAO-Definition für Zwangsarbeit ist eindeutig: „Jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“
„Die Einführung neuer Dienstpflichten ist damit ausgeschlossen.“ Aber „wo ein politischer Wille, da findet sich ein juristischer Weg – gegebenenfalls über eine Verfassungsänderung“, so Arnd Diringer, Prof. für Verfassungs-, Zivil- und Arbeitsrecht. (Welt am Sonntag – 13.3.22)
Der Vollständigkeit halber seien auch noch die völkerrechtlich anerkannten Ausnahmen erwähnt: Militärdienstpflicht, Strafarbeit aufgrund gerichtlicher Verurteilung, Notstandspflichten (bei Feuerwehr und zum Deichschutz) und allgemeine Bürgerpflichten (Wegereinigung).
Bei der Beurteilung der Zwangsarbeit führt kein Weg darum herum: Man muss die Erfahrungen derjenigen, die die das erleben mussten, berücksichtigen. Und da ist keineswegs die einhellige Antwort negativ. Egal, ob ReichsarbeitsdienstlerIn, Zivildienstleistender oder Soldat, es finden sich viel zu wenig, die ihren Dienst auf den Zweck, auf die sozialpolitischen Implikationen, hin hinterfragen. „Schön war die Zeit“, das hört man allerorten. Die „Kameradschaft“, das „Gemeinschaftsgefühl“, „wir haben uns nicht verpfiffen“… Dass man die Zeit unbeschadet überstanden hat, wird zum Erfolgserlebnis verklärt. Dieser psychologisch verständliche Mechanismus mag für Einzelne notwendig sein, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man schamlos ausgebeutet wurde und keinen Widerstand dagegen geleistet hat. Da er für die Betreffenden, ja man möchte sagen, überlebensnotwendig ist, ist dem kaum mit Argumenten beizukommen. Das heißt aber nicht, dass man es nicht trotzdem versuchen muss.
Dann: Die „großen Lücken“, im Gesundheitsbereich, in der Pflege, in der sozialen Versorgung generell: Die Lücken bestehen und sie sind größer geworden. Eine nicht zu unterschätzende Ursache dafür ist, dass z. B. immer mehr Heime und Krankenhäuser privatisiert wurden. Jetzt sind große und manchmal sogar internationale Konzerne die Träger. Sie stellen manchmal auch gute Leistungen zur Verfügung, aber ihr Anliegen ist das Scheffeln von Geld. Und am besten lässt sich das durch wenig und schlecht bezahltes Personal erreichen. Der Dienstplan wird durchgetaktet – da bleibt für die PatientInnen keine Zeit. Wer hat die Krankenhäuser und die Heime heruntergewirtschaftet? Wer hat sie verscherbelt? Wer ist dafür verantwortlich, dass Beschäftigte die Einrichtungen verlassen und keine neuen mehr gefunden werden? Warum ist die Ausbildung lang, sind die Arbeitszeiten vorsintflutlich und die Bezahlung derart mies? Die Jugendlichen haben diese Situation bestimmt nicht verschuldet, aber ausbaden sollen sie sie! Zwangsarbeit im sozialen und im Gesundheitsbereich ist keine Aufwertung desselben, sondern verstärkt die Misere nur noch weiter.
Wer räumt den Müll weg?
Kommen wir zum Schluss und beantworten gleich mal die Frage „Wer räumt den Müll in Neukölln weg?“ Die Antwort ist einfach: Die Müllabfuhr, die Straßenreinigung und ein Hausmeister, der sich darum kümmert. Aber schon daran wird oft gespart. Nun, ich kenne die Situation in Neukölln nur aus den Schilderungen, aber ich kann sie mir lebhaft vorstellen. Denn ich habe selbst mein Berufsleben in einem Sozialen Brennpunkt verbracht. Da sammeln sich Leute, die anderswo keine Wohnung finden, rausgeflogen sind, Arbeitslose, Behinderte, Alkohol- und Drogenabhängige …, Leute, die jede Menge Probleme haben, die man in den besseren Vierteln nicht haben möchte. Und wenn man ihnen dann keine Hilfe anbietet, sondern sie allein lässt, dann ist das Chaos und der Müll auf den Straßen vorgezeichnet. Es ist verkehrt, die Leute für die Zustände verantwortlich zu machen, denn sie sind ein Produkt der Politik der Städte und der Wohnungsbaugesellschaften. Mit Sozialarbeit, mit Gemeinwesenarbeit unter Einbeziehung der Leute, kann sich das auch wieder ändern, aber das dauert. Zwangsarbeit macht alles nur schlimmer, denn damit wird die prekäre Lage und die faktische Entrechtung der Leute nur verstärkt.
Meines Erachtens ist die Debatte um einen Zwangsdienst eine riesige Schaumschlägerei, die bezwecken soll, dass die Bevölkerung sich daran gewöhnt, dass man über sie verfügen kann. Zwangsarbeit ist entrechtete Arbeit. Arbeitsrechte gelten nicht. Man hat kein Streikrecht, man darf sich nicht gewerkschaftlich organisieren, man hat kein Kündigungsrecht. Wer sich weigert, sie auszuführen – und das werden nicht wenige sein – wird von der Polizei gesucht, vor Gericht gezerrt und bestraft. Gut, dass sie verboten ist. Es ist zu hoffen, dass man keinen Weg findet, das Verbot zu umgehen.
Freiwilligendienste würde ich nicht prinzipiell ablehnen. Im Gegenteil, so wie sie derzeit durchgeführt werden, haben sie sicherlich einen großen Nutzen. Allerdings: Wer im Freiwilligen Sozialen Jahr, im Freiwilligen ökologischen Jahr oder im Bundesfreiwilligendienst arbeitet, braucht einen finanziell potenten Träger, der die Kosten tragen kann, denn der Bund hält sich zurück und hat jetzt sogar noch Kürzungen angekündigt. Und man braucht reiche Eltern, denn die Bezahlung von 550 €/Monat ist grottenschlecht. Nur zum Vergleich: Auch die Bundeswehr hat einen Freiwilligendienst, die freiwillig Wehrdienstleistenden im Heimatschutz, sie bekommen 1.400 – 1.900 €/Monat. Dafür steht dann doch Geld zur Verfügung.
Zwangsarbeit und Militärdienstpflicht
Mit dem Artikel zum Reichsarbeitsdienst war mir wichtig zu zeigen, wie der freiwillige Dienst schnell zu einer Zwangsarbeit wurde und dann im Kriegshilfsdienst endete. Die Forderung nach Zwangsarbeit für Jugendliche, kommt aus dem Faschismus. Und es ist mir schier unerträglich, dass man die AfD bekämpft indem man ihre Forderungen übernimmt. AfD-Wahlprogramm von 2021: „Die AfD tritt … für die Wiedereinführung der Wehrpflicht ein. Die Wehrpflicht soll um ein Gemeinschaftsdienstjahr ergänzt werden.“ Im gerade beschlossenen Parteiprogramm der CDU wird jetzt ein „Verpflichtendes Gesellschaftsjahr“ gefordert. Setzt sich Steinmeier mit seiner Initiative durch, werden die anderen Parteien bald nachziehen.
In eigentlich allen Stellungnahmen ist eins offensichtlich, auch wenn das hier nicht das Thema ist: Das Ganze spielt sich nicht im luftleeren Raum ab. Mit der Debatte um die Dienstpflicht sollen sich die Gesellschaft und besonders die Jugendlichen daran gewöhnen, dass sie für den Staat (und für den Krieg) verfügbar sind. Denn die Bundeswehr soll „kriegstüchtig“ gemacht werden. Zu diesem Zweck will man die Anzahl der SoldatInnen von 181.000 auf 203.000 erhöhen – aber die melden sich nicht, trotz immenser Werbung. Zusätzlich verstärkt wird die Lücke durch immer mehr verweigernde SoldatInnen. Und sie haben Recht. Denn der gegenwärtige politische Kurs führt letztlich dazu, dass auch die Bundeswehr am Ukrainekrieg teilnehmen muss. Deshalb auch die aktuelle Planung für die Wiedereinführung der Militärdienstpflicht. Damit wäre auch das aufgezeigte juristische Problem gelöst. Staaten dürfen eine Militärdienstpflicht einführen und die Vielen, die man nicht gebrauchen kann, müssen dann eben eine andere Art von Zwangsarbeit leisten. So ist der Kampf gegen die Dienstpflicht auch ein Kampf gegen die jetzt geplante erneute Einführung einer Militärdienstpflicht und damit gegen die Kriegsvorbereitung.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.