Von Ungarn ausgehend läuft derzeit eine grenzübergreifende Repressionswelle gegen Antifaschist*innen, die als Budapest-Komplex bekannt ist. Vor allem mehreren deutschen Aktivist*innen droht seit eineinhalb Jahren die Auslieferung an das rechte Orbán-Regime, wo sie menschenunwürdige Haftbedingungen, ein unfaires Verfahren und hohe Haftstrafen erwarten. Am 28. Juni 2024 wurde mit Maja T. aus Jena eine beschuldigte nicht-binäre Person von den Berliner Behörden ausgeliefert – eindeutig rechtswidrig und trotz der Gefahren, die Maja im explizit queerfeindlichen Ungarn besonders gefährden.
Hintergrund des Budapest-Verfahrenskomplexes sind die antifaschistischen Proteste im Februar 2023, als einmal mehr das NS-glorifizierende Großevent „Tag der Ehre“ in der ungarischen Hauptstadt stattfand. Während die Behörden den Nazi-Aufmarsch, dessen Teilnehmer*innen in SS- und Wehrmachtsuniformen auftreten, wohlwollend ermöglichen, drangsalieren sie die Gegendemonstrant*innen jedes Mal massiv. Trotzdem reisen immer wieder Antifaschist*innen aus verschiedenen Ländern an, um ein klares Zeichen gegen die braunen Umtriebe zu setzen.
Im Februar 2023 kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern der NS-Parade und einigen Antifaschist*innen. Noch in Budapest wurden drei Nazigegner*innen verhaftet, gegen weitere vermeintlich Beteiligte fahnden die ungarischen Behörden seither mit Europäischem Haftbefehl. Unter anderem setzten sie Öffentlichkeitsfahndungen ein und verbreiteten Steckbriefe mit den Porträts und Namen der Beschuldigten im Internet. Aus Angst, an das ungarische Rechtsaußen-Regime ausgeliefert zu werden, tauchten die Betroffenen unter.
Deutsche Beihilfe zu Orbáns Treibjagd auf Antifas
Da die meisten linken Akti-vist*innen, denen eine Mitwirkung vorgeworfen wird, aus Deutschland stammen, kommt den hiesigen Repressionsbehörden eine zentrale Rolle zu. Und die ließen sich das nicht zweimal sagen: Mit großem Eifer nutzten sie die Gelegenheit, um das soziale und politische Umfeld der Antifaschist*innen zu durchleuchten und unter Druck zu setzen.
Dabei war den Ermittler*innen kein Vorgehen zu infam. Zum Beispiel meldete sich die Polizei in einem Fall überraschend bei der hochbetagten Großmutter mit dem Verweis, dass sie doch Hinweise zum Aufenthaltsort ihres untergetauchten Enkelkinds geben solle – sie wolle es doch sicher an Weihnachten sehen. Doch Mitstreiter*innen, Freund*innen und Familie ließen sich weder von Hausdurchsuchungen noch von wiederholten Polizeiansprachen zu Aussagen nötigen.
Kein Wunder, denn es ist allgemein bekannt, was den Anti-faschist*innen in Ungarn bevorsteht, wie am Beispiel der drei im Februar 2023 Verhafteten zu sehen war. Zunächst ist klar: Ein rechtsstaatliches Verfahren oder auch nur Minimalstandards sind dort nicht zu erwarten. Von Menschenrechtsorganisationen bis zu EU-Institutionen gibt es regelmäßig harsche Kritik an Justiz und Gefängnisrealität in Ungarn. Für Angeklagte, die weder das Gerichtssystem noch die Sprache kennen und deren deutsche Anwält*innen mit denselben Problemen zu kämpfen haben, verschärft sich die Lage noch.
Zudem drohen den Antifa-schist*innen absurd hohe Haftstrafen von bis zu 24 Jahren, obwohl es eigentlich um Körperverletzung geht. Eine so lange Zeit hinter Gittern zu überleben, ist keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht in Ungarn, und schon gar nicht für Antifas in Ungarn. Die Verhafteten wurden von Anfang an unter unsäglichen Bedingungen gefangengehalten, die die Italienerin Ilaria in einem erschütternden Brief schilderte. International für Entsetzen sorgten die Fotos von der Prozesseröffnung, auf denen die Aktivistin – an Händen und Füßen gefesselt – an einer Kette in den Gerichtssaal geführt wurde. Ihr Brief und diese Bilder sorgten in Italien dermaßen für Furore, dass die italienische Justiz die Auslieferung eines weiteren beschuldigten Antifaschisten an Ungarn ablehnte und sogar Rechtsaußen-Regierungschefin Giorgia Meloni sich für Ilaria einsetzte.
Verhaftet und ausgeliefert: Maja T.
Im Gegensatz dazu zeigen sich deutsche Repressionsorgane geradezu begierig danach, antifaschistische Staatsbürger*innen auszuliefern – es sei denn, sie kooperieren vollständig und verzichten auf ihre grundlegenden Rechte als Beschuldigte: Nach rund einem Jahr im Untergrund boten einige der Untergetauchten über ihre Anwält*innen an, sich den deutschen Behörden zu stellen, wenn diese ihnen im Gegenzug zusicherten, sie nicht nach Budapest zu überstellen. Es folgte eine Ablehnung und ein rechtswidriges erpresserisches Gegenangebot: Die Antifas würden nur dann nicht ausgeliefert, wenn sie ein umfassendes Geständnis ablegten und damit auf ihr Recht auf Aussageverweigerung verzichteten.
Für Entsetzen sorgten Fotos, auf denen eine Aktivistin an Händen und Füßen gefesselt an einer Kette in den Gerichtssaal geführt wurde. Diese Bilder sorgten in Italien dermaßen für Furore, dass die italienische Justiz die Auslieferung eines weiteren beschuldigten Antifaschisten an Ungarn ablehnte und sogar Rechtsaußen-Regierungschefin Giorgia Meloni sich für sie einsetzte
Im Dezember 2023 wurde Maja T., eine der untergetauchten Personen, in Berlin mit einem brutalen Polizeieinsatz verhaftet und danach nach Dresden ins Untersuchungsgefängnis gebracht – zeitweise unter strengen Kontaktbeschränkungen. Monatelang dauerte der Kampf gegen die drohende Auslieferung, den Solidaritätsinitiativen wie das Budapest Antifascist Solidarity Committee (BASC) und die Rote Hilfe gemeinsam mit Angehörigen und Mitstreiter*innen auf politischer Ebene und die Anwält*innen juristisch führten. Vor allem im Frühsommer 2024, als ein Gerichtsentscheid absehbar wurde, mobilisierten unterschiedliche linke und liberale Spektren, aber auch die LGBTIQ*-Community (1) und forderten den Verbleib der non-binären antifaschistischen Person in der Bundesrepublik.
Von Anfang an war klar:
Ist der menschenverachtende Haftalltag in Ungarn für alle unerträglich, ist er für Gefangene, die die Sprache nicht sprechen, noch weit schlimmer, und Antifaschist*innen sind in dem Rechtsaußen-Staat besonderen Gefahren ausgesetzt. Für non-binäre Menschen wie Maja ist die Situation unter dem offen queer- und trans*feindlichen Orbán-Regime lebensbedrohlich.
Zwar behauptet Ungarn, dass die Antifaschist*innen nach der Urteilsverkündung zurück in die Bundesrepublik überstellt werden, um ihre Haft hier abzusitzen. Allerdings ist es in dem osteuropäischen EU-Staat Standard, dass Untersuchungshaft und Prozessdauer praktisch endlos ausgedehnt werden, indem zwischen den einzelnen Verhandlungstagen oft mehrere Monate liegen. Bei einem komplexen Verfahren kann also mit vielen Jahren gerechnet werden, bis das Urteil in Sicht kommt – außer wenn die Angeklagten umfassend gestehen und einen Deal eingehen.
Offen rechtswidrige Auslieferung
Das hielt die deutschen Behörden aber nicht davon ab, auf die Überstellung zu drängen. Am Abend des 27. Juni 2024 ließ das Kammergericht Berlin die beantragte Auslieferung zu. Majas deutscher Anwalt Sven Richwin legte unmittelbar danach Rechtsmittel ein, sodass klar war, dass das Bundesverfassungsgericht innerhalb kürzester Zeit eine Entscheidung treffen würde – aller Wahrscheinlichkeit nach mit aufschiebender Wirkung.
Daran hatte aber die Berliner Generalstaatsanwaltschaft, die die Abschiebung forciert hatte, kein Interesse. Statt das höchstrichterliche Urteil abzuwarten, nutzte sie das minimale Zeitfenster, in dem die Entscheidung des Kammergerichts gültig war. Wenige Stunden später wurde Maja mitten in der Nacht aus der Zelle geholt, an die österreichische Grenze verfrachtet und von der dortigen Polizei an die ungarischen Behörden übergeben. Als am Vormittag des 28. Juni das Bundesverfassungsgericht vorläufig die Auslieferung untersagte, um den Fall intensiver zu prüfen, saß Maja bereits in Budapest in Haft und wurde der dortigen Presse in Ketten vorgeführt.
Obwohl also absehbar war, dass die Maßnahme als rechtswidrig eingestuft werden würde, führte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durch. Entsprechende Verärgerung klingt denn auch in der Pressemitteilung des offen missachteten obersten Gerichts durch, das das Vorgehen recht unverblümt kritisiert. Dass das Bundesverfassungsgericht die Berliner Justiz verpflichtet hat, dafür zu sorgen, dass Maja wieder aus Ungarn zurückgeholt wird, quittiert diese mit Achselzucken: Schon zu spät.
Alptraumhafte Zustände, keine Entlassung in Sicht
Der klare Urteilsspruch hilft Maja aber nur bedingt: Als der Vater am 3. Juli 2024 erstmalig Besuchserlaubnis bekam, war das Gespräch auf 15 Minuten beschränkt und durfte nur mittels Telefonhörer und Trennscheibe stattfinden. Maja berichtete, wie zuvor schon Ilaria, von kompletter Isolation mit nur einer Stunde Hofgang am Tag – selbstverständlich allein –, einer winzigen Zelle voller Ungeziefer, ununterbrochener Überwachung und verschimmeltem Essen. In späteren Briefen ist von der Brutalität des Wachpersonals die Rede, die Maja zwar noch nicht am eigenen Leib erfahren musste, aber miterlebt: „Zum zweiten Mal musste ich mitanhören, wie ein Mitgefangener geschlagen wurde. Das erste Mal am Samstag Abend (…). Es waren 20-30 Schläge und das Stöhnen des Opfers, dazu die ungarischen Flüche des Beamten“, dokumentierte das BASC Auszüge aus Majas Schreiben.
Eine Haftentlassung hat die ungarische Justiz abgelehnt, obwohl die Möglichkeit bestand, Maja gegen eine hohe Kaution und unter strengen Auflagen auf freien Fuß zu setzen. Ebenso wurde der Antrag auf Hausarrest statt Gefängnis abgeschmettert. Zumindest für die nächsten Monate gibt es offenbar keine Chance für Maja, die lebensbedrohlichen Umstände hinter sich zu lassen.
Solidarität mit Maja – und mit Hanna
Dass die Lage gerade so aussichtslos scheint, ändert nichts daran, dass kritische Öffentlichkeit, politischer Druck und Solidaritätszeichen dringend nötig sind – dringender denn je! Zwar ist es weiterhin nicht möglich, Postkarten und Briefe in die ungarische Haft zu schicken, und auch Besuche sind nur von engsten Angehörigen und den Rechtsbeiständen erlaubt. Aber Maja freut sich über Berichte von Unterstützungsaktionen, denn in einer so schrecklichen Situation ist es wichtig zu wissen, nicht vergessen zu sein.
Vor allem aber müssen wir verhindern, dass noch weitere Antifaschist*innen ausgeliefert werden: Anfang Mai 2024 wurde Hanna in Nürnberg verhaftet und ist seither dort im Untersuchungsgefängnis – ebenfalls mit dem Vorwurf, an der Auseinandersetzung mit Nazis in Budapest beteiligt gewesen zu sein. Aktuell hat Ungarn noch nicht die Auslieferung beantragt, aber die Gefahr besteht durchaus. Hanna darf Post bekommen und freut sich sehr über Briefe und über die Solidaritätskundgebungen, die regelmäßig vor dem Gefängnis stattfinden.
Es gilt, sich solidarisch mit den betroffenen Antifaschist*innen zu zeigen und die Auslieferung an Ungarn abzuwehren.
No extradition!
(1) LGBTIQ* steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queer (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer).
Weitere Informationen unter:
https://www.basc.news
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.