Anarchistische Zukünfte

Science Fiction als Modell für anarchistische Gesellschaftsentwürfe

| Maurice Schuhmann

Bereits im Jahr 1890 vermischte der libertäre Autor und Sozialist William Morris (1834–1896) in seinem Roman „Kunde vom Nirgendwo“ Elemente der klassischen Utopie und Science Fiction miteinander. Sein nicht näher benannter Protagonist erwacht zu Beginn des Romans in einem zukünftigen London, wo das Geld und die klassische Schule abgeschafft ist und Großstädte wie London in großzügig angelegte Gartenstädte verwandelt sind. Mit diesem Roman beginnt letztendlich das Genre der „anarchistischen Science Fiction“.
Generell bietet sich das Genre Science Fiction an, um Theorien aufzustellen, Modelle für neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen durchzuspielen und mögliche gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen bereits zu antizipieren. Seit 1945 sind daher auch eine Reihe von anarchistischen oder zumindest libertären Romanen und Erzählungen entstanden, die eine (erneute) Lektüre lohnen. Von anarchistischer Seite sind diese häufig – bis auf ein paar Klassiker – weitestgehend ignoriert worden oder in Vergessenheit geraten. Nur vereinzelt gab es mal Beiträge zur „anarchistischen Science Fiction-Literatur“, wie in der britischen Zeitschrift „Anarchy“ (1).
Um diese Lücke zu schließen, sollen hier schon mal ein paar mehr oder weniger bekannte Beispiele benannt werden.
Es lohnt sich, mit dem „Planet der Habenichtse“ (1974) von Ursula K. Le Guin (1929–2018) (2) zu beginnen. Der Roman feiert dieses Jahr das 50jährige Jubiläum seines Erscheinens. (3)
In ihrer Utopie fließen anarchistische, feministische und ökologische Aspekte zusammen und gehen eine Symbiose ein. Sie diskutiert aber gleichzeitig auch die Umsetzung solcher Ideale in einer Welt mit begrenzten Ressourcen auf. Daneben ist die Gewaltfreie Anarchistin natürlich noch für ihre 1969 erschienene Genderutopie in „Der Winterplanet“ bekannt. Auch hier lohnt sich eine Lektüre. Sie behandelt dabei eine Welt, in der die Bewohner_innen regelmäßig ihr biologisches Geschlecht ändern.
Murray Bookchins Spuren finden sich auch in einem weiteren Klassiker wieder – in Ernest Callenbachs (1929–2012) „Ökotopia“ (1975). Bereits der Titel ist von Bookchin entnommen. Diese ökologische Utopie von Callenbach ist eine der ersten ihrer Art und hatte einen großen Einfluss auf die Gegenkultur ihrer Zeit. Auch heute liest sich diese Ökofiktion sehr inspirierend.   
Fast ebenso bekannt ist die Erzählung „Planet des Ungehorsams“ (1951) von Eric Frank Russel (1905–1978) (4) bzw. dessen zum Roman erweiterte Fassung unter dem Titel „Die große Explosion“ (1962). Mit viel Humor macht sich Russel über Militär und Bürokratie lustig, präsentiert ein alternatives Wirtschaftssystem und zeigt die Potentiale des zivilen Ungehorsams auf.
In anarchistischen Kreisen hingegen meist wenig rezipiert wird Robert Heinlein (1907-1988). Sein Roman „Revolte auf Luna“ behandelt auch die Beschreibung einer anarchistisch-organisierten Gemeinschaft. Ebenso wie Russels erwähnte Erzählung wird der Heinleinsche Roman auch fälschlicher Weise als ein Beispiel anarchokapitalistischer Science Fiction geführt und mit Ayn Rands „Atlas wirft die Welt ab“ (1957) problematischen Roman in eine Reihe gestellt.
Aus anarchafeministischer Perspektive ist dann natürlich noch Marge Piercy (* 1936) zu erwähnen. Die Autorin versteht sich selber als Anarchafeministin und hat sich für mehrere Romane u. a. von Ursula    K. Le Guin inspirieren lassen, wie auch von den philosophischen Texten Donna Haraway (Cyborg Manifesto). Der bekannteste Roman von ihr ist der Cyberpunkklassiker „Er, Sie, und Es“ (1991), in dem sie die Geschichte des Golems von Prag und den Cyborg-Mythos von Haraway miteinander verwebt.   

(1) Vgl.: John Pilgrim: Science Fiction and anarchism, in: Anarchy No. 34, December 1963, S. 361-375. Ebenso findet sich in dem Lexikon Encyclopédie de l‘Utopie des Voyages extraordinaires et de la Science Fiction (L‘Age d‘or Lausanne 1972) von Pierre Versins ein Eintrag zu „Anarchie“ (S. 42f.).
(2) Eine sehr gute Gesamtdarstellung zu Ursula K. Le Guin findet sich bei: Peter Seyferth: Utopie, Anarchismus und Science Fiction. Ursula K. Le Guins Werke von 1962 bis 2002, Lit Verlag, Münster 2008. (Zugl. Univ-Diss. München 2006).
(3) Eine ausführliche Würdigung des Romans ist für espero Nr. 9 geplant.
(4) Vgl. zu Eric Frank Russel u.a.: Maurice Schuhmann: Die Waffen nieder! – Auch im Weltraum, in: Science Fiction Jahr 2023, herausgegeben von Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz, Hirnkost Verlag, Berlin 2023, S. 391-400.; Ders.: Ob(ligation)s statt Geld. Alternatives Wirtschaftssystem und Schenkökonomie im Werk Eric Frank Russels, in: Falko Blumenthal/Peter Seyferth: Science Fiction und Labour Fiction, transcript Verlag, Bielefeld 2024 (in Arbeit).

Literaturtipps:

Ernst Callenbach: Ökotopia, Reclam Verlag Stuttgart 2022.

Robert Heinlein:
Revolte auf Luna,
Heyne Verlag München 1969

Ursula K. Le Guin:
Planet der Habenichtse, Argument Verlag/Ariadne Hamburg 2003.
Der Winterplanet,
Heyne Verlag München 1981.

William Morris:
Kunde vom Nirgendwo,
Edition AV Lich 2013.

Marge Piercy:
Er, Sie, und Es,
Argument Verlag/Ariande Hamburg 2016.

Eric Frank Russel:
Die große Explosion,
Pabel/Moewig Rastatt 1965.
Planet des Ungehorsams,
Verlag Klaus Guhl Berlin 1998.