„Auf welcher Seite stehst du? He! Hier wird ein Platz besetzt. Hier schützen wir uns vor dem Dreck nicht morgen, sondern JETZT!“
Nein, nicht Lützerath! Dieser Refrain aus Walter Mossmanns „Neuer Wacht am Rhein“ beschreibt ein wichtiges Datum einer zutiefst vergesslichen Umwelt- und Klimaschutzbewegung. Am 20. September 1974 wurde der Bauplatz eines geplanten Bleiwerks im elsässischen Marckolsheim von Menschen beiderseits des Rheins besetzt und inspiriert durch die egalitäre AnArchitektur der nordamerikanischen Ureinwohner*innen ein hölzernes Rundhaus, das erste Freundschaftshaus am Rhein, errichtet. Vor 50 Jahren verhinderte die badisch-elsässische Bevölkerung den Bau eines extrem umweltverschmutzenden Bleichemiewerks.
Dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ wurde auf dem besetzten Platz der Traum vom gemeinsamen, grenzenlosen Europa der Menschen geträumt und realisiert. Die Marckolsheimer Erfahrungen und der Erfolg der illegalen Besetzung waren wichtig für den erfolgreichen Protest gegen die geplanten Atomkraftwerke in Wyhl (D), Kaiseraugst (CH) und Gerstheim (F). Aus diesen frühen Anfängen der Umweltbewegung und der Bewegung für Luftreinhaltung entwickelten sich auch die späteren Konflikte um das Waldsterben 1.0 und in diesen Kämpfen liegen Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung. Die alte Nachkriegs-Naturschutzbewegung wurde politisch. Von einem kleinen elsässischen Dorf am Rhein ging ein wichtiger Impuls für die globale Umweltbewegung aus.
„Weil wir nicht dulden, dass unser Recht derart missachtet wird.
Deshalb haben wir beschlossen, die vorgesehenen Bauplätze für das Atomkraftwerk Wyhl und das Bleiwerk in Marckolsheim gemeinsam zu besetzen, sobald dort mit dem Bau begonnen wird. Wir sind entschlossen, der Gewalt, die uns mit diesen Unternehmen angetan wird, solange passiven Widerstand entgegenzusetzen, bis die Regierungen zur Vernunft kommen.“
Erklärung der 21 Bürgerinitiativen an
die badisch-elsässische Bevölkerung.
Den Hintergrund des Umweltkonflikts aus dem Spätsommer und Winter 1974/75 würde man heute als klassisches Beispiel der Globalisierung deuten. Ein deutscher Konzern, die CWM (Chemische Werke München), machte sich die Grenzlage zunutze und wollte in Frankreich direkt am Rhein ein extrem umweltbelastendes Bleichemiewerk bauen. Vom toxischen Bleistaub betroffen wäre die Bevölkerung auf beiden Rheinseiten gewesen. Auch damals schon gab es viele Versuche, die Menschen grenzüberschreitend gegeneinander auszuspielen. Während heute die Konflikte häufig zwischen „Tarn- und Vorfeldorganisationen“ der Konzerne und der Umweltbewegung ausgetragen werden, gab es damals noch den direkten Konflikt zwischen den Chemischen Werken München, den Behörden und den Bürgerinitiativen.
Die Baupläne wurden 1973 bekannt, einer politisch brisanten Zeit am Oberrhein. Vorangegangen waren der umstrittene Baubeginn des französischen AKW Fessenheim und erste massive Bürgerproteste gegen die Pläne des Badenwerks, erst in Breisach und später in Wyhl ein Atomkraftwerk zu bauen.
„Herr Rosenthal hat einen Plan,
der uns gar nicht gefällt.
Dem Rosenthal ist das egal,
den interessiert nur Geld.
Uns aber interessieren
der Fluss, der Wald, das Feld
und unsere Gesundheit
kauft uns keiner ab für Geld“
Gründe, gegen die Bleifabrik des Unternehmers Rosenthal anzugehen, gab es viele. Es gab vor 50 Jahren noch Formen der Umweltvergiftung, die heute, zumindest in Zentraleuropa unvorstellbar sind. Es war die Zeit der „guten, alten, offenen“ und vor allem sichtbaren Umweltzerstörung und Umweltvergiftung. Flüsse waren stinkende Kloaken, Kinder in der Umgebung von Verbrennungsanlagen litten an Pseudokrupp und die Schweiz versenkte ihren Atommüll im Meer. Es war eine Zeit unkritischer Technikbesoffenheit mit DDT, Asbest, Atomkraft und FCKW.
Über neun Tonnen Blei hätte die neue Fabrik in Marckolsheim jährlich über den Schornstein abgegeben und das in einer Weinbauregion. Bleivergiftung führt zu verminderter Intelligenz, irreparablen Hirnschäden, Krämpfen, Fehlgeburten und Krebs.
Schnell wurde am Oberrhein auch bekannt, dass in der Umgebung vergleichbarer Werke in Deutschland die Kühe auf der Weide gelegentlich tot umgefallen waren. Ursache: Bleivergiftung.
Was bleibt, ist ein Erfolg. Ein Erfolg für Mensch und Umwelt, denen jährlich viele Tonnen giftiges Blei erspart geblieben sind
„ ‚Das Sterben dauert zwei Tage: Zunächst erblinden die Tiere und finden kein Futter mehr, später beginnen sie sich im Kreis zu drehen, blöken und haben Schaum vor dem Maul. Schließlich treten Lähmungserscheinungen hinzu, die Tiere brechen zusammen, können sich nicht mehr erheben und verenden qualvoll.‘ So beschrieben Augenzeugen das Rindersterben, das am vergangenen Wochenende – wenige Tage nach dem Weideauftrieb – plötzlich in der Nähe von Nordenham an der Unterweser auftrat. Bis zum 17. Mai gingen dort sechzehn Kühe und Kälber ein, mußten 69 Rinder notgeschlachtet sowie weitere sechzehn als sichere Todeskandidaten von den Weiden getrieben werden. Die Nordwest-Zeitung charakterisierte die Stimmung im Wesermarschgebiet mit den Worten: ‚In Nordenham grassiert die nackte Angst.‘
Angst verspürten dabei nicht nur die Bauern, die ihre Existenz bedroht sahen – die Landwirte beziffern den bisher entstandenen Schaden auf insgesamt 250.000 Mark –, Angst machte sich gleichzeitig unter der Bevölkerung breit. Denn: Das Massensterben von Rindern (und Kaninchen) ist auf ein Gift zurückzuführen, das auch Menschen gefährdet – auf Blei.“
Quelle: Die Zeit vom 26. Mai 1972
Gegen Bleichemie und Atomindustrie schlossen sich im August 1974 deutsche und französische Umweltschützende zusammen und gründeten das Internationale Komitee der 21 badisch-elsässischen Bürgerinitiativen. Einen ähnlichen grenzüberschreitenden Zusammenschluss dieser Art hatte es nach den Wunden des Ersten und Zweiten Weltkrieges bis dahin nicht gegeben. Erstaunliches tat sich vor 50 Jahren und fast 30 Jahre nach Kriegsende in der ländlichen, konservativen Region beiderseits des Rheins: Über 3.000 Menschen aus beiden Ländern kamen beim Sternmarsch zum geplanten Standort in Wyhl zusammen, über 4.000 Menschen beim Demonstrationszug unter Glockengeläute gegen das Bleichemiewerk in Marckolsheim. Fortschritt wurde kritisch hinterfragt und menschengerechte Technik eingefordert.
Dennoch begannen Mitte September 1974 die bauvorbereitenden Maßnahmen auf dem Marckolsheimer Baugelände und ein Zaun sollte errichtet werden. Am 20. September 1974 wurde der Bauplatz in Marckolsheim von Umweltschützer*innen beiderseits des Rheins besetzt und nach indigenem Vorbild ein hölzernes Rundhaus, das erste Freundschaftshaus am Rhein, errichtet. Bauplatzbesetzungen in Wyhl (D), Kaiseraugst (CH), Gerstheim (F) und Heiteren (F) sollten folgen und auch die badischen Ackerbesetzerinnen und -Besetzer in Sachen Genmais Buggingen beriefen sich zwei Jahrzehnte später noch auf die Marckolsheimer Erfahrungen.
Die Proteste und erfolgreichen Bauplatzbesetzungen in Marckolsheim (F), Wyhl (D), Gerstheim (F) und Kaiseraugst (CH) fielen in eine Hoch-Zeit der europäischen Regionalbewegungen. Im Baskenland und in Katalonien gärte es und auf dem Larzac-Plateau in Südfrankreich gab es erfolgreiche und unkonventionelle Proteste gegen einen geplanten Truppenübungsplatz.
Auf den besetzten Plätzen in Wyhl, Markolsheim und Kaiseraugst wurde hauptsächlich Dialekt gesprochen und es wurde deutlich: Dialekt ist immer auch Sand im Getriebe der globalen Megamaschine. Dialekte stören die Verwandlung der vielfältigen Welt in eine große, einheitlich genormte Fabrik, eine Agrar-Fabrik, eine Fabrik-Fabrik, eine Konsum-Fabrik und eine Wohn-Fabrik, in der zunehmend übersättigte Menschen immer unzufriedener werden.
Frauen wie Solange Fernex, Lore Haag und Annemarie Sacherer spielten auch als Rednerinnen und Organisatorinnen im aktiven Widerstand eine wichtige Rolle, eine Rolle, die nicht unbedingt dem Geschlechterverständnis der 1970er Jahre am konservativen Kaiserstuhl und im Elsass entsprach.
Das Elsass erlebte eine Blüte (und leider auch einen Schwanengesang) elsässisch-alemannischer Regionalkultur. Eine Vielzahl elsässischer, badischer und Schweizer Künstlerinnen und Künstler, sprachen von einer „Alemannischen Internationale“. Sie traten bei Demos, Aktionen und später in Wyhl auch im Rahmen des Programms der Volkshochschule Wyhler Wald auf. HAP Grieshaber erstellte Plakate und stellte sie den Bürgerinitiativen zur Verfügung. Schallplatten und Liederbücher entstanden und es wurde viel gesungen bei Demos und auf den besetzten Plätzen. Prägende Kunst- und Kulturschaffende in dieser breiten trinationalen Protestbewegung waren u.a. Walter Mossmann, André Weckmann, Rene Egles, Buki (Roland Burkhart), Ernst Born, François Brumpt, Karl Meyer, Meinrad Schwörer, Roland Engel, die Blaskapelle „Rote Note“, Ernst Schillinger, la Rue de Dentelles, Roger Siffer, Francis Keck … Und die lange Liste ist unvollständig.
Der Marckolsheim-Protest war nicht nur das erste militante Nein zur Luftvergiftung. Er war immer auch Protest für Vielfalt, Demokratie und für ein grenzenloses Europa der Menschen und Regionen. Keiner hat diesen Traum vom grenzenlosen Europa damals so deutlich ausgedrückt wie der elsässische Liedermacher François Brumpt in seinem Dreyeckland-Lied „Mir keije mol d Gränze über de Hüfe und danze drum erum / Wir werfen einmal die Grenzen über den Haufen und tanzen drumherum“. Ohne die massive Einbindung und den positiven Einfluss der Kultur in den Protest wäre der Erfolg nicht möglich gewesen.
„Ende September 1974, während der Platzbesetzung gegen ein deutsches Bleichemiewerk im elsässischen Marckolsheim, hat der französische Schullehrer Jean Gilg ein Transparent in den Schlamm gepflanzt: ‚Deutsche und Franzosen gemeinsam: Die Wacht am Rhein’. Das heißt, er hat ganz bewusst den Titel der informellen, deutschen Nationalhymne aus dem Ersten Weltkrieg aufgegriffen und mit einer vollkommen neuen, entgegengesetzten Bedeutung versehen: Deutsche und Franzosen machen sich nicht mehr kriegerisch den Besitz des Rheinstroms streitig, sondern schließen sich zusammen, um die gemeinsame Region am Oberrhein gegen die neuartigen, grenzüberschreitenden Gefahren wie Radioaktivität und die Emissionen der Chemie-Industrie zu schützen – eine in der Tat ‚Andere Wacht am Rhein‘. Vom ersten Tag an hat sich die oberrheinische Umweltbewegung der 70er Jahre als die historische Antwort auf das Menschheits-Verbrechen des Ersten Weltkriegs verstanden.“
Zitat Walter Mossmann
Bauplatzbesetzung, das schreibt sich mit 50 Jahren Abstand so einfach. Doch diese erste, von einer breiten Bevölkerungsschicht getragene Bauplatzbesetzung in Marckolsheim, das war zuallererst Matsch, Schnee, knöcheltiefer Schlamm in einem nassen, kalten Winter. Das war der Rücktritt des Marckolsheimer Gemeinderats aus Protest gegen die Fabrik und eine mehrfach besetzte Pontonbrücke über den Rhein nach Sasbach. Das waren Frauen und Männer, Badisch, Elsässisch, Hochdeutsch und Französisch sprechende Menschen und Sprachprobleme zwischen Deutschen, Franzosen und Dialektsprechenden. Es gab ein Aufblühen der alemannischen Regionalkultur und gleichzeitig eine Blüte des elsässischen Dialekts. Bei Demos und im Rundhaus fanden sich Frauen und Männer, Winzer und Freaks, Junge und Alte, Linke und Wertkonservative. Ich erinnere mich an viele Gesichter, Reden, Streit, Liebesbeziehungen, Gespräche und Lieder am Lagerfeuer, Demos, Brückenbesetzungen, Flugblätter, Liederbücher und Plakate. Die Vergangenheitsverklärung bricht Ecken und Kanten der Erinnerung. Und aus den frühen erfolgreichen Kämpfen zur Luftreinhaltung erwuchs der große Streit ums Waldsterben und die heutige Bewegung für den Klimaschutz.
Am 25. Februar 1975 kam dann der Erfolg. Die französische Regierung untersagt der deutschen Firma CWM offiziell die Errichtung der Bleifabrik in Marckolsheim, Mit dem Wissen, dass illegale Bauplatzbesetzungen auch zu Erfolgen führen können, wendet sich der Protest gegen das wenige Kilometer entfernte AKW Bauprojekt im Wyhler Wald. Doch das ist eine andere Geschichte.
Was bleibt, ist ein Erfolg. Ein Erfolg für Mensch und Umwelt, denen jährlich viele Tonnen giftiges Blei erspart geblieben sind. Erstaunlicherweise sogar ein nachträglicher Erfolg für die Firma CWM, denn die Fabrik sollte Stabilisatoren für PVC und andere Kunststoffe herstellen, Produkte, die heute für PVC nicht mehr gebraucht werden. Wie so häufig hatte die Umweltbewegung auch einen ökonomischen Flop verhindert. Wir waren keine „Verhinderer“, sondern haben geholfen, den Fortschritt menschengerechter zu gestalten. Die Umweltbewegung wird heute für das gelobt, was sie in der Vergangenheit getan und erreicht hat und sie wird dafür kritisiert und kriminalisiert, was sie aktuell fordert und durchsetzen will.
In diesen frühen ökologischen Kämpfen am Oberrhein liegen auch wichtige Wurzeln des BUND, von Alsace Nature und der GRÜNEN. Hier wurden aus konservativen Naturschutzverbänden politische Umweltorganisationen und der religionsähnliche Wachstumsglaube der 1960er Jahre bekam erste Risse. Hier begannen die frühen, erfolgreichen Kämpfe für saubere Luft, aus denen sich die Bewegung gegen das Waldsterben 1.0 und auch die heutige Klimaschutzbewegung entwickelten.
Heute stehen auf dem ehemals besetzten Gelände ein Autoauslieferungslager der Firma Peugeot und eine Zitronensäurefabrik. Beide Firmen sind bei weitem nicht mehr so umweltbelastend, wie es das Bleichemiewerk gewesen wäre. Und doch stinkt manchmal die Zitronensäurefabrik, wenn auch nicht giftig, in die Dörfer beiderseits des Rheins …
Es gibt viele Gründe sich über vergangene Erfolge zu freuen und immer noch unendlich viel zu tun. Wenn heute in Bächen und Seen wieder gebadet werden kann, wenn die Luft sauberer geworden ist, wenn Strom aus Wind und Sonne um ein Vielfaches günstiger ist als Strom aus AKW, dann sind diese Erfolge nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurden gegen Lobbyisten, Konzerne und marktradikale Seilschaften in mühsamen Konflikten erkämpft.
Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen uns selber, wurden auch in Marckolsheim die globalen Zerstörungsprozesse entschleunigt und kleine, wichtige Teilerfolge erzielt. Marckolsheim war ein wichtiger Impuls für die erwachende Umweltbewegung. Es lohnt, sich zu engagieren.
Wichtiger Nachtrag:
Mit dem Kampf gegen das Bleichemiewerk in Marckolsheim begann das Ende der „guten, alten, offenen, ehrlichen Umweltvergiftung“ steht zu Recht im oberen Text. Doch diese Aussage bezieht sich leider nur auf Kerneuropa. In Marckolsheim hätte das Bleiwerk zu einer massiven und gesundheitsschädigenden Bleibelastung geführt. Doch massive menschengefährdende Umweltvergiftung gibt es immer noch. In Afrika, Südamerika und Teilen von Asien werden Menschen, Natur und Umwelt von europäischen, amerikanischen und chinesischen Konzernen für unseren Überkonsum vergiftet. Es gibt global und regional noch viel zu tun.
Der Autor ist aktiv in der Mitwelt Stiftung Oberrhein und war einer der Bauplatzbesetzenden in Marckolsheim.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.