Covid 19: Ein kritischer Rückblick voraus

| Lou Marin

Sebastian Schuller: Die Freiheit, die sie meinen. Verschwörungsideologien und die Entstehung des autoritären Neoliberalismus, edition assemblage, Münster 2023, 260 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 978-3-96042-174-0

Sebastian Schuller versucht sich an einer kritisch-emanzipativen Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Das liest sich zunächst überzeugend. Er weist auf die anfangs solidarisch-mutualistische Welle zu Beginn 2020 hin: Nachbarschaftshilfe für Alte und Risikobürger:innen wurde organisiert, auf Balkonen unterbezahlten Krankenpfleger:innen applaudiert, Gewerkschaften streikten in Solidarität mit Amazon- oder Postauslieferer:innen. Und:
„Im Sommer 2020 organisierten Anar-chist:innen einen Streik rumänischer Wanderarbeiter:innen, die um ihren Lohn geprellt wurden und in schmutzigen und unhygienischen Bedingungen der dauernden Ansteckungsgefahr durch die Seuche ausgesetzt, Spargel stechen sollten.“ (S. 36)
Heute wird das alles bewusst verdrängt. Die solidarische Welle stand im Gegensatz zum Neoliberalismus und der individuellen Konkurrenz der Marktteilnehmenden. Ein menschliches Leben war kurzzeitig mehr wert als der Profit.
Diese Bewegung für einen solidarischen, globalen Kollektivismus fand im Staat seinen Gegner, weil der auf den Erhalt des Kapitalismus abzielte, der auf Dauer mit der universellen Solidarität unvereinbar war. Die deutsche Corona-Verschwörungsideologie lautete: „Individuelle Immunität gegen kollektive Hygiene.“ (S. 71) Deshalb entwickelten Verschwörungstheoretiker*innen schnell eine zynische Sicht auf die Opfer der Pandemie: „Deren Leiden und Absterben ist als natürlicher Gang der Dinge hinzunehmen. (…) Nicht die Gesellschaft, sondern die Immunität des Individuums, also seine persönliche Fitness, entscheidet. Die radikal-individualistische Perspektive (…) schlägt damit ins Sozialdarwinistische um.“ (S. 82) Dieser Zynismus fand sich auch wieder in manchen individualanarchistischen Strömungen, die sich auf diese Anti-Maßnahmen-Bewegung positiv bezogen, wenn etwa in deren Zeitung „Zündlumpen“ stand: „Sollte das medizinische System dabei überlastet werden, Pech gehabt.“ (1)
Sozialistischen Ideen wie etwa Erhalt und Aussattungsverbesserung der Krankenhäuser wird eine Absage erteilt, „da diese nur unnötig ‚niedere‘ Menschen am Leben halten würden.“ (S. 82)
„Nur alte und ‚schwache‘ Individuen würden an Corona sterben, (…) Solidarität mit den Risikogruppen ist folglich unsinnig, da deren Leiden und Sterben selbstverschuldet und letztlich naturgemäß sei.“ (S. 92)
Dieser Sozialdarwinismus ist dem kapitalistischen Konkurrenzstreben inhärent und gleichzeitig eine Voraussetzung für neofaschistische Strömungen, die sich daraufhin u.a. in der AfD sammelten.
„Die Corona-Ideolog:innen ziehen den Tod einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse vor.“ Die neoliberale Krisenantwort spaltet sich auf „in eine verschwörungsgläubige Bewegung und einen Mainstream-tauglichen Diskurs“ (S. 145) neoliberaler Politik.
Neoliberalismus bleibt so aber nicht mehr liberal, sondern wird kompatibel mit Faschismus: Darin liegt der autoritäre Geist des Kapitalismus, „der Einzelne überhöht, und Menschen, die als schwach oder anders angesehen werden, abwertet, entmenschlicht, dem Tode überantwortet. (…) Die deutsche Bundesregierung verhinderte beispielsweise immer wieder die Freigabe der Impfpatente – ein wirksames Mittel, um die Länder des globalen Südens gegen das Virus zu unterstützen.“ (S. 195)

Pro-China:
ZeroCovid von Oben wird ohne
Begründung als Lösung propagiert

Für den Anarchismus bedeuten Schullers Analysen, dass sich hier einige individualanarchistische Ansätze (etwa Teile des individualistischen Insurrektionalismus) als sozialdarwinistisch und damit – ebenso wie die Corona-Maßnahmen-Bewegungen wie „Querdenken“ oder „QAnon“ als rechts erwiesen haben, während Schuller den Unterschied zu sozialanarchistischen Ansätzen, dem mutualistischen Anarchismus, dem kollektivistischen (Bakunin) oder kommunistischen Anarchismus (Kropotkin) leider nicht wahrnimmt und stattdessen mit seiner oft erwähnten Lösung von der „ZeroCovid-Politik“ (S. 124, 156, 209f., 211), an der er „selbst führend beteiligt“ (S. 124) war, eine staatskommunistische und eben keine sozialanarchistische und auch keine gewaltfrei-anarchistische Position offenbart. Die ZeroCovid-Politik erwähnt Schuller dabei ohne jede Ausführung als evident emanzipatorisch und Leben rettend. Dabei unterscheidet er nicht zwischen einem kommunistisch-gewaltfreien Anarchismus (nach z. B. Pierre Ramus, Gustav Landauer usw.) von unten – wie bei der solidarischen Welle – und einem autoritären Staatskommunismus und dessen ZeroCovid-Politik.
Was bei Schuller aber wie selbstverständlich wirkt, ist einen kritischen Blick wert, auf die staatliche ZeroCovid-Politik in China nämlich. Die chinesische Null-Covid-Politik bestand aus „Zwangsquarantäne und Isolation, Massentests von ganzen Millionenstädten, Kontaktnachverfolgung anhand von Mobilfunkdaten.“ (2) Die staatliche Organisation der kompletten Überwachung leistete dabei entscheidende Hilfe. Gemeinhin gilt die Ansicht, dass es wegen der strikten staatlichen ZeroCovid-Politik in China „über Jahre hinweg (2020–2022) nur wenige Corona-Fälle“ gab. Doch zu diesem angeblichen Erfolg gibt es keine Erhebungen oder Daten: „Die chinesische Staats- und Parteiführung schweigt über die Folgen des Ausbruchs. Todeszahlen werden unter Verschluss gehalten.“ (3) Nicht so jedoch ab dem 7. Dezember 2022, als die chinesische Führung schlagartig ihre strikte Null-Covid-Politik aufhob und sich in kurzer Zeit 90 % (!) der Bevölkerung infizierten. „Bis heute gibt es keine nachvollziehbare Begründung, warum die Maßnahmen so schlagartig beendet wurden: ohne Vorwarnung, ohne verstärkte Impfkampagne, ohne die Krankenhäuser vorzubereiten und ohne Vorräte an Schnelltests und Fiebermedikamenten anzulegen. Beobachter gehen davon aus, dass das Virus [2022] bereits außer Kontrolle war. Die immer ansteckenden Omikron-Varianten ließen sich nicht mehr aufhalten.“ (3) Der autoritäre Staat, der doch die Gleichheit aller garantieren sollte, zeigt sich hier ganz losgelöst von jeglichem gleichheitsbezogenen Schutz der Bevölkerung.
Der Epidemologe Ben Cowling von der Hongkong-Universität meinte zu den Folgen der Masseninfizierung in China nach Aufhebung der Maßnahmen: „Meine Kollegen und ich gehen von rund 1,5 Millionen Todesfällen im ganzen Land aus.“ (4) Diese Todesfälle erwähnt und erklärt Schuller nicht. Hinzu kommt bei einer redlichen Analyse die Tatsache, dass sich der Virus nach heute übereinstimmenden Berichten aus einem chinesischen Labor in Wuhan in den globalisierten Kapitalismus, wovon China ein wesentlicher Bestandteil ist, ausbreiten konnte. Das alles spricht gegen den etatistischen Kommunismus von Oben als emanzipative Lösung.
„Ende November [2022] gab es sogar in mehreren Städten Proteste gegen die Null-Covid-Politik – unter anderem in Peking und Shanghai. Vor allem junge Menschen gingen auf die Straße und hielten weiße, unbedruckte Blätter Papier in die Luft, um auf die strikte Zensur im Land aufmerksam zu machen.“ (5)
Auch die staatliche und eben nicht graswurzelrevolutionäre ZeroCovid-Politik in China oder auch in Vietnam führten zu einer massenhaften Anzahl von Todesfällen, was Schuller nicht interessiert und theoretisch nicht mitberücksichtigt. Eine notwendige theoretische Konsequenz wäre, zwischen der staatlichen ZeroCovid-Politik und einer basisorientierten, zivilgesellschaftlichen ZeroCovid-Politik von unten, die es weltweit ja am Anfang der Pandemie gab, zu differenzieren – und die selbstorganisierte Hilfe, diesen anarchistischen Mutualismus, möglichst verallgemeinerbar zu machen. Die Interpretation Schullers, sich hier durchweg positiv auf die staatliche ZeroCovid-Politik Chinas zu beziehen, weist seinen Ansatz als staatskapitalistisch aus. Ärgerlich ist auch sein Widerwillen, innerhalb des Anarchismus zwischen individualanarchistischen und kollektivistisch-, kommunistisch- oder anarchosyndikalistischen Universalismen zu unterscheiden.

(1): Vgl.: Ewgeniy Kasakow: „Sozialdarwinistische Rebellion“, in: ak Nr. 662, 18.8.2020, S. 22.
(2): Benjamin Eyssel: „Chinas striktes
Schweigen“, in: tagesschau.de, 7.12.2023, siehe: https://www.tagesschau.de/ausland/
europa/china-null-covid-politik-100.html .
(3), (4) und (5): Benjamin Eyssel: Ebenda.