Franz Jung (1888–1963) steht für Revolution und Literatur, Aktivismus und Avantgarde, Dada und Klassenkampf. Ein kompromisslos Suchender, schon zu Lebzeiten so legendär wie rätselhaft. Die Texte in dem Band „Der Sprung aus der Zeit. Avantgarde – Agitprop – Autobiographisches“ entstanden von 1911 bis 1961, reichen von expressionistischer Prosa und autobiographischen Reflexionen bis zu politischen Kommentaren und Auszügen aus dem theoretischen Hauptwerk „Die Technik des Glücks“. Die Heraus-geber*innen der 14-bändigen Werkausgabe haben dieses Buch kuratiert, das die außergewöhnliche Figur Franz Jung in all ihren Facetten und Wirkungsbereichen zeigt und sein Werk neu zugänglich macht. Das von Hanna Mittelstädt und Wolfgang Bortlik herausgegebene Buch ist soeben bei Edition Nautilus in Hamburg erschienen. Wir drucken einen Text zur Herausgabe der Zeitschrift „Der Gegner“ von 1931, eine Programmatik, die auch heute angesichts des faschistischen Schattens aktuell ist, oder zumindest so gelesen werden kann. (GWR-Red.)
Hat Der Gegner
ein Programm?
Für viele Menschen, die heute mit ihren Ansichten in die Öffentlichkeit gehen, ist das Wort „Aktivität“ schon so etwas wie ein Schimpfwort geworden. Ganze Berufsgruppen begnügen sich damit, sich eine Vertretung zu geben und diese Vertretung auch anzuerkennen, wenn sie selbst schon auch an ihrer Zusammensetzung nicht mehr mitgewirkt haben. Und das, was diese Vertretung dann tut und spricht, ist richtig. Der Horizont hat sich verengt, und die Aussicht, selbst denken, selbst eingreifen, selbst mit entscheiden zu müssen, ist wie ein Abenteuer.
Diese Trägheit schafft eine bestimmte Atmosphäre, die wie ein Schutzwall um Personen und Ansichten ist, die bestimmt nicht richtig sind, die sich widersprechen, die selbst bis zu dem Eingeständnis führen, dass es auf dem bisherigen Wege nicht weitergehen kann –, hervorgeht aber aus dieser Einsicht nur ein Achselzucken, eine negative unterirdische Wut gegen denjenigen, der widerspricht.
Sollte es nicht an der Zeit sein, gegen diese Atmosphäre zu kämpfen?
Wir wollen kein Programm
Wir sammeln die Fragestellungen. Wir sind bestrebt, die daraus erwachsene Unsicherheit zu verbreitern und ihr die Möglichkeit einer Tiefenwirkung zu geben – der Nebel soll sich teilen!
Das mag zunächst nur eine schmale Plattform sein. Es ist sogar bestimmt fraglich, ob es überhaupt eine Plattform ist. Bestimmt ist es keine Partei, es ist auch nicht einmal eine Grundanschauung. Es ist nur, wenn in diesem Lande heute dieses Wort zu sagen gestattet ist, eine Einsicht.
Diese Einsicht, Unklares durchzudenken, die Grundeinteilung zu erkennen, aus der heraus Ansichten gewachsen sind, die häufig genug nur zu Stimmungen geworden sind, aktivisiert sich, das heißt, diese Einsicht soll sich aktivisieren im Kampf gegen den einen, sicher aber den größten Feind: die Trägheit.
Die Zeitschrift will nicht nur angreifen, obwohl so schöne Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Sie will auch nicht aufbauen, sie will eine Atmosphäre treffen, zerstäuben, aufsaugen, einen Zustand schaffen, aus dem die Persönlichkeiten, das aus der Person Bedingte in den Anschauungen und Forderungen eindeutig klar auf die Person, auf ihre Begrenztheit, auf ihr Entwicklunggebundenes zurückgeführt wird. Sie wird damit auch zur Klärung beitragen in den zu Schlagworten gewordenen Auseinandersetzungen politischer Anschauungen. Sie wird mithelfen, das Politische in seiner heutigen Mechanik aufzulösen. Und dann wird auch die Zeit sein, sich mit den Weltanschauungen auseinanderzusetzen. Solche Weltanschauungen, sofern sie mit Schlagworten übernommen werden, sofern die politischen Anschauungen aus der Tradition erwachsen einfach hinübergenommen sind, sind nicht so wichtig. Sie sind heute, obwohl es gewiss nicht ein erstrebenswerter Zustand ist, sogar nicht einmal trennend. Man schäle nur aus solchen Weltanschauungen das Persönlich-Gebundene, das Menschlich-Wahre und in einem Wort: die Wahrheit heraus.
Wir geben aber auch der Ansicht Raum, statt der Wahrheit den Menschen zu finden.
Was ist schon Wahrheit?
Und was ist schon der Mensch – wenn die Einsicht von Mensch und Wahrheit sich in Unzufriedenheit erschöpft. Und wenn es die Erfüllung des Lebens bedeutet zu kämpfen, sich durchzusetzen, zu widersprechen, Gegner zu sein.
Mancher im Mitarbeiterkreis dieser Zeitschrift ist davon überzeugt, dass es genügt, auszusprechen, was ist, gleichgültig von welchem an Erziehung und Entwicklung gebundenen Standpunkt aus, um bestimmte Widerstände, die aus Trägheit, Unwissenheit und Überlieferung geboren sind, zu brechen. Vielleicht sind manche Perspektiven irrig, manche Anschauungen sogar falsch. Was schadet das? Oder schadet es mehr als dieses starre, aufgeblähte Festhalten an Weltanschauung und Partei? Niemand wird in dieser Zeitschrift davon sprechen, einer Disziplin, für die er gewonnen worden ist, und in der er für sich selbst als Rahmen lebt, den Rücken zu kehren. Niemand wird in dieser Zeitschrift jemanden werben wollen, wie die politischen Parteien heute ihre Mitglieder auf Flugblättern auf der Straße zu werben gezwungen sind. Die Zeitschrift vertritt in der Reihe ihrer Mitarbeiter aus Grundeinstellungen her voneinander verschiedene Anschauungen und sie wird dennoch einheitlich wirken, einheitlicher als viele Publikationen, die vorgeben, in einer in sich geschlossenen Vorstellungswelt eine bestimmte Frage zu vertreten.
Weil diese Zeitschrift nicht der Wahrheit und nicht dem Glauben, sondern dem Zweifel dient.
„Wir waren alle der Meinung, dass Jung ein Punk war, noch bevor er bei Dada mitmischte.
Und wenn er schon Punk war, dann war er auch in einer Band und spielte die Rhythmusgitarre.“