Es war einmal…
Es begab sich vor langer Zeit, in einer nachmalig als Wendezeit bekannt gewordenen Epoche, da veröffentlichte eine kleine autonome Stadtzeitung in Bielefeld unter der sinnigen Rubrik „Kriminaltango“ nützliche Tipps zum Einkauf in örtlichen Kaufhäusern, ohne den lästigen Umweg über die Kasse nehmen zu müssen.
Da mir die Expertise fehlte, um zu dieser Rubrik etwas angemessen Praktisches beizutragen, kam ich auf eine andere Idee: Warum nicht das Hier und Jetzt durch eine historische Dimension erweitern? Zugleich eine Gelegenheit, auf eine in Deutschland unbekannte und selbst in ihrem Herkunftsland nahezu vergessene Person aufmerksam zu machen, von der ich einige Jahre zuvor erstmals gelesen hatte: Alexandre Marius Jacob (1879–1954), den anarchistischen Einbrecher, dessen abenteuerliche Lebensgeschichte gleichsam von selbst zur Literatur drängte. So entstand eine längere Erzählung über ein unbekanntes Kapitel aus der Geschichte des Anarchismus, mein Beitrag, um dem didaktischen Anspruch der genannten Rubrik gerecht zu werden.
Der Text wurde für gut genug befunden, um ihn separat als Broschüre zu veröffentlichen. Und in dieser Form ist er – auch mehr als 30 Jahre später – immer noch lieferbar. Für einen Schnelleinstieg in das Thema vielleicht immer noch die beste Wahl.
Anfang der 1990er Jahre waren die Quellen zu Jacob noch spärlich. Der Historiker Jean Maitron hatte in seiner Geschichte der anarchistischen Bewegung in Frankreich Jacob und seinen Mitstreitern nur wenige Seiten widmen können. Einzig der Journalist Bernard Thomas hatte über Jacob ein Buch verfasst. Der Schriftsteller hatte für seinen Roman gründlich recherchiert, Archive durchforstet, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt. Er bekannte sich allerdings freimütig dazu, einen mit fiktivem Material aufgefüllten Roman und kein Sachbuch geschrieben zu haben.
Der Roman von Thomas, 1970 erschienen, war Mitte der 1980er Jahre, als ich auf die Geschichte Jacobs aufmerksam wurde, längst vergriffen (der Verlag war pleite) und nur noch antiquarisch erhältlich.
Inzwischen hat sich die Literaturlage in Frankreich merklich verbessert. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es einen Strom von Publikationen unterschiedlicher Art (Schriften, Biografien, Dokumentarfilme, Comics, Blogs usw.). Um nur die wichtigsten kurz zu erwähnen: die Veröffentlichung der „Schriften“ Jacobs (1995), die offenbarte, dass an ihm auch ein begabter Schriftsteller verloren gegangen ist. Die nahezu unveränderte Neuauflage des Romans von Thomas (1998), die 2015, von mir mitübersetzt und kommentiert, in deutscher Übersetzung erschienen ist: Die vielen Leben des Alexandre Jacob. Außerdem die aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation hervorgegangene Biographie von Delpech (2008), die versucht, Fact und Fiction zu trennen und den sozialen und politischen Hintergrund von Jacobs Leben stärker einzubeziehen. Alle diese Publikationen haben dafür gesorgt, dass Jacob inzwischen, über anarchistische Kreise hinaus, eine gewisse Popularität genießt. In Reuilly, in Zentralfrankreich, wo Jacob zuletzt gewohnt hat und wo er begraben liegt, ist mittlerweile eine Straße nach ihm benannt. Man könnte meinen, es fehlt nur noch ein Actionkracher bei Netflix (wie „Ein Mann der Tat“ für Lucio Urtubia) und Jacob wäre endgültig in der Popkultur angekommen.
Der gezeichnete Jacob
Ein Schritt in diese Richtung ist der gerade auf Deutsch erschienene Comic von Matz & Léonard Chemineau: Marius Jacob. Die Arbeiter der Nacht (Original 2017). Es handelt sich um eine Art Abenteuerroman in Bildern.
Während Vorläufer im Comicgenre wie Louvel noch einen optisch eher kargen, aber dialogreichen Schwarzweiß-Stil pflegten, bestechen Matz & Chemineau durch poppig-bunte Opulenz, die erkennbar auf eine jugendliche Leserinnen- und Leserschaft abzielt. Ein durchaus realistischer Zeichenstil mit Bemühen um technische und architektonische Detailgenauigkeit kontrastiert hier mit einer für Kinder- und Jugendbücher typischen Vereinfachung der Figurenzeichnung, die einen Hang zu (auch geschlechtsspezifischer) Stereotypie nicht verbergen kann: Frauen (vor allem die jüngeren) sehen immer ein wenig aus wie Barbie-Puppen und die Bösewichter, in diesem Zusammenhang Autoritätspersonen aller Art (Richter, Polizisten usw.), geben schon durch ihre hässlichen Fratzen zu erkennen, dass sie nicht als Sympathieträger fungieren. Die Hauptfigur wiederum, Jacob, der uns aus einem eher rundlichen Gesicht aus historischen Fotografien entgegenblickt, wird von Matz & Chemineau mit einem markanten Kinn ausgestattet, das kantige Entschlossenheit signalisiert, sowie mit einem Undercut versehen, der der Mode der Jetztzeit entspricht und Jacobs Zeitgenossen wohl eher befremdet hätte.
Was den narrativen Aufbau des Albums betrifft, so halten sich Matz & Chemineau eng an ihr Vorbild, den Roman von Bernard Thomas. Ausgehend vom Prozess gegen die Nachtarbeiter in Amiens 1905 wird in Rückblenden die Vorgeschichte, Kindheit und Jugend Jacobs, seine Wandlung zum Anarchisten, schließlich die Zeit der Einbrüche von 1900–1903, erzählt, um dann chronologisch seiner Lebensgeschichte bis zum Ende zu folgen.
Wer den Roman von Thomas oder auch meine kürzere Erzählung kennt, wird bei Matz & Chemineau auf der faktischen Ebene kaum etwas Neues entdecken, sondern vermutlich eher überrascht sein von der Vielzahl von Parallelen, bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. Nur hinsichtlich der Gewichtung der Elemente entwickeln Matz & Chemineau eine gewisse Eigenständigkeit. So nehmen – vielleicht dem Zielpublikum geschuldet – die Schilderung der Kindheit und Jugendjahre Jacobs einen überproportional breiten Raum ein. Jacobs kurzes Intermezzo als unfreiwilliger Pirat vor den Küsten Australiens, eine Episode, die bei Thomas lediglich eine Anekdote ist, wird bei Matz & Chemineau auf acht Seiten zu einem epischen Actionspektakel aufgeblasen (S. 24–31).
Fragwürdiges
Faktentreue ist kein vorrangiges Anliegen der Autoren. Es wäre deshalb müßig, ihnen die zahlreichen Fehler und Ungenauigkeiten des Buches vorzuhalten oder darüber zu spekulieren, ob sie dramaturgischer Absicht oder eher schlampiger Recherche entspringen. Es ist, zumal in einem romanhaften Kontext, durchaus legitim, historische Leerstellen mit dichterischer Phantasie zu füllen oder um bestimmter Effekte willen von den verbürgten Fakten abzuweichen – sofern diese Veränderungen plausibel sind. Das ist leider nicht immer der Fall. Nehmen wir als Beispiel die Beziehung Jacobs zu einer älteren Frau namens Rose Roux. Über die Art dieser Beziehung ist nichts bekannt, die historischen Quellen schweigen sich hartnäckig aus. Ergreift bereits Thomas in seinem Roman diesbezüglich die Gelegenheit, ein wenig in Richtung Rosamunde Pilcher zu phantasieren, wird bei Matz & Chemineau daraus endgültig eine Teenage Lovestory von peinlicher Klischeehaftigkeit, von der sich nur eines sagen lässt: dass die Dinge sich so wie geschildert (zum Glück!) nicht zugetragen haben können.
Mitunter verschleiern romantisierende Klischees gerade das Besondere (und Geniale!) mancher Aktionen der Nachtarbeiter. So schicken Matz & Chemineau ihre Helden (Seite 77, auch das Titelbild nimmt darauf Bezug) auf einen halsbrecherischen Balanceakt über die nächtlichen Dächer von Paris, um bei einem Juwelier einzubrechen. Das historische Vorbild der Aktion bestach hingegen gerade durch seinen unspektakulären Charakter: Um die streng gesicherten Türen und Fenster der Geschäftsräume eines Juweliers zu überwinden, mieteten die Nachtarbeiter die Wohnung im darüber liegenden Stockwerk an und brachen durch die Decke. Der Einbruch fand am helllichten Tag statt. Akrobatische Höchstleistungen waren nicht vonnöten. Jacob und Co. kamen und gingen durchs Treppenhaus.
Ein weiterer problematischer Aspekt des Albums ist seine allzu exklusive Konzentration auf den Titelhelden und die damit verbundene Ausblendung des politischen und sozialen Kontextes. Delpechs Dissertation, die dieses Umfeld zu rekonstruieren versucht, wird folglich von Matz & Chemineau gar nicht erst als Quelle herangezogen (jedenfalls taucht sie in ihrer Bibliographie nicht auf). Das beginnt schon mit dem engsten Kreis um Jacob. In der deutschen Version werden die „Arbeiter der Nacht“ immerhin noch im Untertitel erwähnt. Das französische Original hingegen lautet: Der Nachtarbeiter (im Singular!) und lässt damit kurzerhand ein vierzigköpfiges Kollektiv hinter dem Rücken des Einen verschwinden. Das ist auf seine Art nur konsequent, denn um die anderen geht es kaum. Sie bleiben weitestgehend Kulisse, tauchen nur auf, um gleich wieder zu verschwinden. Dominiert wird das Buch ausschließlich von der (zweifellos beeindruckenden) Persönlichkeit Jacobs. Ein derart historisch entkernter Jacob aber läuft Gefahr, zu einer folkloristischen Gestalt zu werden, zu einer Art Räuber Hotzenplotz der Anarchie.
Immerhin…
Den Autoren ist zugutezuhalten, dass sie der historischen Eigentümlichkeit Jacobs gerecht zu werden versuchen. Sie nehmen beispielsweise eine gewisse Textlastigkeit, einen Verdrängungswettbewerb der Sprechblasen, in Kauf, um mit gebotener Ausführlichkeit aus wichtigen Dokumenten zu zitieren. So aus der Gerichtsrede von 1905, „Warum ich Einbrecher wurde“ (S. 88), eine brillante Darlegung – was immer man vom Illegalismus halten mag –, die in keiner Sammlung anarchistischer Grundlagentexte fehlen dürfte, oder sein Abschiedsbrief von 1954 (vor seinem Freitod, S. 123–126), der wie kein anderer Text Einblicke in Jacobs spezifische Persönlichkeit eröffnet.
Erwähnte Literatur:
Alexandre-Marius Jacob. Über die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes, BARRIO Nr. 12, Bielefeld 1992, S. 15-19. Siehe: https://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/DET/BI_002/Bielefeld_Barrio_19920400_12.shtml.
Bernard Thomas, Jacob, Alexandre Marius, dit Escande, dit Attila, dit Georges, dit Bonnet, dit Féran, dit Trompe la Mort, dit le Voleur, Claude Tchou, Paris 1970.
Jean Maitron, Le mouvement anarchiste en France, Maspero, Paris 1975.
Michael Halfbrodt: Alexandre-Marius Jacob: Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes, Syndicat A, Moers 1994.
Alexandre Jacob, Écrits, L’Insomniaque, Paris 1995.
Bernard Thomas, Les Vies d'Alexandre Jacob (1879-1954), mousse, voleur, anarchiste, bagnard…, Fayard-Mazarine, Paris 1998. Deutsche Ausgabe: Die vielen Leben des Alexandre Jacob (1879-1954) – Matrose, Dieb, Anarchist, Sträfling, Verlag Edition AV, Lich 2015 (Übersetzung von Ellen Funke und Michael Halfbrodt).
Jean-Marc Delpech, Alexandre Jacob, l'honnête cambrioleur: portrait d'un anarchiste (1879-1954), Atelier de création libertaire, Lyon 2008.
Romia Louvel, Souvenirs d’un révolté, Fougère 2006 (http://romain.louvel.free.fr/graph/?p=344)