Obgleich ein schlankes Sachbuch, wird dessen Inhalt durch den Titel etwas reduziert. Tatsächlich geht es jenseits des dort skizzierten Schwerpunkts um deutlich mehr. Der sachkundige Autor versteht es, in die (Kultur-)Geschichte und heutige Lage der Sámi (früher diskriminierend als „Lappen“ bezeichnet) in den angrenzenden Regionen der Länder Schweden, Finnland, Norwegen und Russland (zusammen unter dem indigenen Territorialnamen Sápmi) einzuführen. Immerhin nimmt die „politische Kurzgeschichte Sápmis“ den größten Teil ein (S. 15-42). Damit wird indigene Geschichte und Gegenwart kompakt präsentiert.
Nicht überraschend, ist dies eine Geschichte der Kolonisierung: „Im 18. Jahrhundert waren die kolonialen Strukturen in Sápmi fest etabliert. Was wir heute als ‚Landgrabbing‘ kennen, war genauso gewöhnlich geworden wie Zwangsumsiedlungen von samischen Rentierhalter:innen, wenn ihre Weideflächen für Entwicklungsprojekte (Bergbau, Holzwirtschaft, permanente Siedlungen) gebraucht wurden.“ (S. 25) – Der Ausdruck „Entwicklungsprojekte“ mutet hier etwas deplatziert an. Friedlich und ohne politische Organisation hatten die Sámi dem nichts entgegenzusetzen. Die Folgen fasste am Beispiel Schwedens eine Vertreterin der Samischen Vereinigung Stockholm 2004 so zusammen: „Wir, die Sámi, wurden nicht Opfer eines blutigen Genozids, sondern eines kulturellen, ‚soften‘ Genozids, heimlich, aber effektiv gesteuert vom schwedischen Staat, der uns unseres Landes, unseres Wassers, unserer Sprache, unserer Religion, unserer Identität und unserer traditionellen Lebensgrundlagen beraubte.“ (S. 24)
Schweden tat sich mit anthropologischen Forschungen an den Sámi besonders menschenverachtend hervor. Als Studienobjekte wurden diese an dem 1922 gegründeten und bis 1958 betriebenen staatlichen Institut für Rassenbiologie in Uppsala im Namen von Wissenschaft vermessen, ausgestellt, abgebildet und katalogisiert. Menschliche Gebeine der Sámi wurden in zahlreichen Einrichtungen verwahrt. Erst 1976 wurde ein Gesetz abgeschafft, dass deren Zwangssterilisierungen legalisiert hatte.
Viele Sámi wanderten nach Alaska und Nordamerika aus. In den USA und Kanada wird die Zahl ihrer Nachfahren auf 30.000 geschätzt. 2011 bezifferte ein Bericht des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen die Zahl der Sámi in Nordeuropa auf insgesamt 70.000 bis Hunderttausend, davon 40.000 bis 60.000 in Norwegen, 15.000 bis 20.000 in Schweden, 9.000 in Finnland und 2.000 in Russland. Sie sind inzwischen vom Kontakt mit den nordischen Ländern abgeschnitten. Schon lange sind Sámi Minderheiten im eigenen Land. Ihre Marginalisierung wird auf den folgenden Punkt gebracht: „Ein Sprichwort in den nordischen Ländern besagt, dass den Menschen in den südlichen Provinzen das Schicksal der Sámi egal ist, während die Menschen in den nördlichen Provinzen die Sámi schikanieren.“ (S. 31)
Bis heute scheuen sich Sámi vielerorts, ihre traditionelle Kleidung zu tragen – aus Angst, beschimpft oder in Schlägereien verwickelt zu werden. Auch werden oftmals durch Fahrzeuge überfahrenen Rentieren von den Unfallverursacher:innen die Ohren abgeschnitten. Durch das Entfernen dieser Kennmerkung wird die Inanspruchnahme einer staatlichen Entschädigung durch die Besitzer:innen sabotiert. (S. 64)
In Norwegen sorgte die Energiepolitik 1968 mit einem geplanten Wasserkraftwerk am Fluss Alta im Kernland der Sámi für einen langjährigen Konflikt, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist (S. 34-38). Nach fast zwanzig Jahren erbittertem Widerstand wurde dort 1987 das Kraftwerk in Betrieb genommen. Doch der Widerstand dagegen wurde nicht gebrochen. Er lebt in unterschiedlichen Formen der Erinnerung weiter und stärkt die Identität. So führten der Widerstand der Sámi, nicht zuletzt auch durch Beschreitung des Rechtswegs zur Verhinderung von Einschränkungen, zur schrittweisen Anerkennung ihrer indigenen Rechte in den nordischen Ländern. Sie finden dabei auch prominente Unterstützung. So beteiligt sich mittlerweile Greta Thunberg an Sitzblockaden im schwedischen Sápmi im Protest gegen neue Ressourcenplünderung. Ein Prozess der Selbstbehauptung, der aber auch mit kultureller Stereotypisierung und Vereinnahmung, insbesondere in der Tourismusbranche, einhergegangen ist und die Sámi weiterhin zu Objekten degradiert.
Eine ausführliche Behandlung der Auswirkungen des grünen Kolonialismus macht den zweiten Hauptteil aus. Bergbau, Windkraft, Holzwirtschaft sowie Fischfangrechte sind wesentliche Elemente im Kampf um die Verfügungsmacht über und Nutzung von Land und Wasser in Sápmi. Dies wird in dem ergänzenden Kapitel zur Selbstbestimmung auf den Punkt gebracht. Dabei spielt die globale Solidarität im Kampf indigener Gemeinschaften eine viel wichtigere Rolle als Ideologien. Die Erfahrungen sind wesentlicheres Antriebsmoment als Theorien und speisen den Widerstand. Das eindringliche Schlusswort dieser aufklärerischen Schrift fällt so auch dem Präsidenten des Samischen Rates zu, der vor einigen Jahren in einem Interview erklärt hatte: „Politischer Kampf wird meist in negativen Begriffen gedacht, als Kampf oder Opposition gegen etwas. Aber die Geschichte unseres Kampfes hat uns viel gelehrt. Wir wissen, wozu wir als Gesellschaft fähig sind und wozu nicht. Wir haben es gelernt, zu überleben. Wir wissen, wie man sich gegen die Kräfte der Globalisierung wehrt. Mehrheitsgesellschaften, die sich nicht auf starke Traditionen stützen können, sind viel verwundbarer. Sie verschwinden schnell. Die Konsumgesellschaft macht aus allem einen Einheitsbrei. Wir sind für die Zukunft gerüstet.“ (S. 65f.)
Für alle, die sich für den autochthonen Widerstand gegen zentralstaatliche Vereinnahmung unter der Dominanz erfundener Nationen und Traditionen interessieren, ist dieses Fallbeispiel ein Erkenntnisgewinn.
Kolonialismus in Nordeuropa
Geschichte, Gegenwart und Widerstand der Sámi
Gabriel Kuhn, Indigener Widerstand in Zeiten des Klimawandels. Sápmi: Grüner Kolonialismus im Norden Europas. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2024, 66 Seiten, 11,90 Euro, ISBN 978-3-939045-54-0