Nestor Machno (1888–1934) war ein ukrainischer Anarchist und in den Jahren des Bürgerkriegs von 1917 bis 1921 Anführer der Machnowschtschina, die zeitweise die Kontrolle über einen großen Teil der Ukraine übernahm, mit dem erklärten Ziel, anarchistische Gesellschaftsstrukturen zu verwirklichen. Der kanadische Historiker Sean Patterson begründet sein Interesse an Machno und der mit ihm verbundenen Bauernbewegung biographisch. Im Studium habe er angefangen, sich für die Theorien des russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin zu interessieren, was ihn wiederum auf Machno gebracht habe. Als er im mennonitischen Umfeld, in dem er aufgewachsen sei, davon erzählt habe, sei ihm jedoch Machno vollkommen anders dargestellt worden, als er ihn aus anarchistischen Werken kannte. Aus dem Revolutionsführer, der die Unterdrückten befreit habe, wurde bei den heutigen Mennonit_innen, deren Vorfahr_innen in den 1920er Jahren aus der Sowjetunion in Länder wie Kanada flohen, ein Terrorist und Bandit. Dieser Widerspruch ist darum umso bemerkenswerter, weil Mennonit_innen seit Jahrhunderten für ihre religiös begründete Gewaltfreiheit bekannt sind und gerade auch aus diesem Grund immer wieder Verfolgung erfahren haben.
In seinem Buch geht Patterson diesen gegensätzlichen Urteilen über Nestor Machno und den mit ihm verbundenen Ereignissen in der Südukraine mit historischem Handwerkszeug auf den Grund. Im ersten Kapitel beschäftigt er sich mit der anarchistischen Sichtweise und erläutert dabei besonders lesenswert die Entstehungsgeschichte der von ihm als „Makhnovist canon” bezeichneten Werken: Machnos im Pariser Exil angefangenen, aber unvollendeten Autobiographie, dem Werk des Historikers der Bewegung, Pjotr Arschinow, und der darauf aufbauenden, aber ebenso darüber hinausgehenden Darstellung des auch ins Exil geflohenen Aktivisten Volin.
Während in diesen anarchistischen Darstellungen die mennonitische Bevölkerung der Südukraine fast nie vorkommt, spielt Machno eine unrühmliche Rolle in der Erinnerungskultur dieser religiösen Gemeinschaft, wie Patterson im zweiten Kapitel darlegt. Auch deren Schriftquellen ordnet er abwägend ein, wobei er besonders die sozialen Beziehungen in der Region bis zur Russischen Revolution und die praktische Bedeutung der mennonitischen Gewaltfreiheit diskutiert. Viele Ukrainer_innen, darunter auch Machno selbst, waren nämlich gezwungen gewesen, ihre Arbeitskraft mennonitischen Großbauern zu verkaufen, was zu Spannungen führte, die sich dann während des Bürgerkriegs entluden. Darüber hinaus hatten nicht wenige Mennoniten mit deutschen, österreichischen sowie antirevolutionären russischen Truppen (den sogenannten Weißen) zusammengearbeitet und dabei manchmal auch zu den Waffen gegriffen, was zusätzlich zur Abneigung innerhalb großer Teile der ukrainischen Landbevölkerung beitrug und auch innerhalb der Religionsgemeinschaft umstritten blieb.
Abschließend werden die anarchistische und die mennonitische Sichtweise im dritten Kapitel am Beispiel eines konkreten Ereignisses, dem Massaker im mennonitischen Dorf Eichenfeld im November 1919, gegenübergestellt. Während der Massenmord, bei dem ungefähr 75 Bewohner_innen ermordet und zahlreiche Frauen vergewaltigt wurden, in keiner anarchistischen Darstellung explizit Erwähnung findet, ist er ein wichtiger Bestandteil der mennonitischen Erinnerungskultur. Nach einer gründlichen Analyse der Ereignisse kommt Patterson zu dem Schluss, dass, auch wenn der Hintergrund für die Tat zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in der angespannten Beziehung zwischen der mennonitischen Dorfgemeinschaft und ihren ukrainischen Nachbar_innen lag, das Massaker dennoch als Verbrechen gesehen werden muss, für das Machno mitverantwortlich war, obwohl er weder anwesend war noch die Tat befohlen hat. Das Massaker fügte sich in eine zunehmend brutalere Kriegsführung ein, die Machno nicht nur nicht verhinderte, sondern ihr teilweise auch selbst Vorschub leistete.
Sean Patterson ist es zu verdanken, dass wir mit der Perspektive der mennonitischen Gemeinschaft den Blick auf Nestor Machno und seine politische Bewegung um eine weitere kritische Perspektive ergänzen können, die uns dabei hilft, ein ausgewogenes Bild seiner Person und der Ereignisse zu erhalten. Pattersons gründliche Quellenkritik ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil – wie der Autor selbst hervorhebt – immer noch anarchistische Literatur veröffentlicht wird, die die Verbrechen der Machno-Armee ignoriert oder schlichtweg leugnet. Darüber hinaus spricht Patterson allgemeine Fragen von allgemeinem Interesse für eine anarchistische Leser*innenschaft an, die über das besprochene Fallbeispiel hinausgehen, wie den Zusammenhang von Klasse und Ethnizität und die Bedeutung entmenschlichender Sprache als Vorbedingung für die Anwendung von Gewalt.
Daniel Jerke ist Mitbetreiber des Telegramkanals „Rote Auswege“ über den Ukraine-Krieg