Wir schreiben das Jahr 1943. Der größte Teil der Welt wehrt sich im Zweiten Weltkrieg militärisch gegen das angreifende Nazideutschland und seine Verbündeten. Juden und Jüdinnen bangen um ihr Leben und werden millionenfach ermordet. Vielen Menschen erschien es als völlig undenkbar, gegen einen hochgerüsteten, extrem brutalen und zu allem fähigen Angreifer etwas mit gewaltfreien Mitteln ausrichten zu können. Und doch hat es den eigentlich „unmöglichen“ zivilen Widerstand gegeben. Hierüber berichtet das jetzt erschienene Büchlein „Menschen retten!“ an Beispielen aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland und Frankreich.
Die Begleitumstände, AkteurInnen und Ausprägungen dieser Aktionsform sind in den vorgestellten Ländern denkbar unterschiedlich und zeigen hierdurch auch, was alles trotz verschiedenster Umstände möglich ist, wenn mutige und gut organisierte Menschen die Initiative ergreifen. Die beiden AutorInnen Lou Marin und Barbara Pfeifer betonen in ihrer ausführlichen Einleitung, dass die Alliierten gegen Nazideutschland vor allem militärisch kämpften und ihnen trotzdem das Schicksal der kurz vor ihrer Ermordung stehenden Jüdinnen und Juden so wenig wichtig war, dass sie noch nicht einmal das Konzentrationslager in Auschwitz bombardierten, um Rettungschancen zu erhöhen. Demgegenüber war es das Ziel der zivil Widerstand leistenden Menschen, unmittelbar in der Gegenwart Menschenleben zu retten. Sie folgten damit einer anderen Logik. Während die Einen zweckrational nur in militärischen Kategorien dachten, handelten die Anderen im Hier und Jetzt. Wie das konkret geschah und welche Erfolgsmuster hinter den vorgestellten historischen Beispielen zu erkennen sind, wird an den vier Beispielen deutlich.
Bulgarien
In Bulgarien konnten fast alle der ca. 50.000 Jüdinnen und Juden gerettet werden, weil Teile der orthodoxen Kirche und der politischen Elite gegen die vorbereiteten Deportationen intervenierten. Das taten sie, obwohl der Antisemitismus im Land weit verbreitet war. Das leitende Gremium der orthodoxen Kirche protestierte, ein Metropolit riskierte eine direkte gewaltfreie Aktion. Der Vize-Parlamentspräsident, SchriftstellerInnen, ÄrztInnen und JuristInnen zeigten sich solidarisch mit den Verfolgten. Und es kam zu einer öffentlichen Massendemonstration, die die Aufhebung des Deportationsbeschlusses bewirkte.
Dänemark
Sehr bemerkenswert war die Entwicklung im seit dem 9. April 1940 besetzten Dänemark, das die Nazis zu einem Vorzeigeprotektorat machen wollten. Aber daran bissen sie sich die Zähne aus. Die Autorin Barbara Pfeifer führt aus, dass eine ganze Reihe von Besonderheiten dazu geführt haben, dass die DänInnen zum großen Teil unempfänglich für Antisemitismus und faschistische Ideologien waren. Hinzu kam ein ausgeprägtes familiäres Gemeinschaftsgefühl, Toleranz, eine humanistisch gesonnene dänische Volkskirche, Humor und eine spezielle Lebensfreude, die sich unter anderem in opulenten „Tortenschlachten“ und Mitsingfesten als Oppositionsbekundung gegen die Besatzer manifestierte. Bis Anfang 1943 lebten die 7.000 bis 8.000 Jüdinnen und Juden in Dänemark unbehelligt. Nachdem die Nazis die dänische Regierung unter Druck setzten, repressive Maßnahmen zu ergreifen, trat sie geschlossen zurück und weigerte sich, zu regieren. Doch als die Gestapo im September 1943 im Archiv der jüdischen Gemeinde Daten beschlagnahmte, spitzte sich die Situation dramatisch zu. Innerhalb kürzester Zeit tauchten tausende Jüdinnen und Juden unter, übergaben ihre Habe an fürsorgliche NachbarInnen und es wurden hektische Vorbereitungen getroffen, um mit Fischerbooten ins neutrale Schweden überzusetzen. Zum allergrößten Teil gelang dieses dramatische Unterfangen. Aber durch Spitzel wurden einmal 80 Verfolgte in einer Kirche aufgespürt und unter den entsetzten Augen der DänInnen nach Theresienstadt deportiert. Letztendlich war die Rettungsaktion aber ein großer Erfolg und viele DänInnen halfen dabei mit.
Deutschland
In zahlreichen Ausgaben der „Graswurzelrevolution“ und durch Gernot Jochheims Buch „Frauenprotest in der Rosenstraße“ wurde thematisiert, dass in Berlin 1943 zeitweise bis zu tausend Menschen eine Woche lang Tag und Nacht für die Freilassung von ca. 1.700 Juden und Jüdinnen demonstriert haben, um sie vor der Deportation nach Auschwitz zu retten. Den gewaltfreien Widerstand übten hauptsächlich die nichtjüdischen Ehefrauen der inhaftierten jüdischen Männer aus und wurden von Familienangehörigen unterstützt. Die Staatsmacht positionierte Maschinengewehre und drohte, die Protestierenden zu erschießen. Der Autor William Wright beschreibt, wie mitten in Berlin unter den Augen der Nazielite sich eine Dynamik entwickeln konnte, mit der niemand gerechnet hatte. Letztendlich mussten die Inhaftierten nach Tagen voller Dramatik freigelassen werden, um größeres Aufsehen zu vermeiden. Wright beklagt zu Recht, dass in der offiziellen Erinnerungspolitik und in fast allen Leitmedien dieser gewaltfreie Widerstand nicht ausreichend gewürdigt wurde. Stattdessen wurden Opfererzählungen beispielsweise über die Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ von dem „Großschriftsteller“ Günter Grass in den Vordergrund gestellt. Auch auf diese Weise bereitete man den Boden für die Rechtsentwicklung in der Gesellschaft.
Frankreich
Lou Marin schreibt in dem letzten Beitrag dieses Büchleins über die Rettung der Juden in Chambon-sur-Lignon, dem Hochplateau im Süden Frankreichs während der Nazi-Besatzung, und führt ausführlich aus, welche Rolle Albert Camus und seine Hinwendung zum gewaltfreien Anarchismus hierbei gespielt hat. In der protestantisch geprägten Stadt und in ihrer Umgebung auf den Bauernhöfen wurden etwa 5.000 Juden und Jüdinnen versteckt. Der erste Entwurf seines Romans „Die Pest“ zeigt in vielen Passagen, dass Camus die gewaltfreien Widerstandsaktionen kannte und mehrfach Flüchtende dorthin vermittelt hatte. Schon damals gab es Gandhianer unter den AkteurInnen. Lou Marin betont in diesem Zusammenhang: „Das Prinzip ‚Menschen retten statt Menschen opfern‘ ist zum integralen Bestandteil von Camus’ Konzept der Revolte geworden.“ Und findet seine Fortsetzung in heutiger Zeit in den Bemühungen, die in Seenot geratenen Geflüchteten zu retten. Letzteres hat auch der Camusianer Rupert Neudeck mit dem Rettungsschiff „Cap Anamur“ praktiziert.
Dieses Buch bietet beispielhaft eine Fülle von aufschlussreichen und wenig bekannten Hintergrundinformationen über die gewaltfrei durchgeführte Rettung von Jüdinnen und Juden. Es ist mit großem Erkenntnisgewinn zu lesen.